Nachdem der Prophet die Kinder Levi erwähnt hat, wendet er sich nun von neuem an das Volk: „Und ich werde euch nahen zum Gericht und werde ein schneller Zeuge sein gegen die Zauberer und gegen die Ehebrecher und gegen die falsch Schwörenden; und gegen die, die den Tagelöhner im Lohn, die Witwe und die Waise bedrücken und das Recht des Fremdlings beugen und mich nicht fürchten, spricht der HERR der Heerscharen“ (Vers 5).
In diesem ganzen Kapitel richtet sich das „ihr“ an das ungläubige Volk und nicht an den gläubigen Überrest. Nachdem sich der Geist Gottes in Vers 4 mit den Folgen der Treue der Kinder Levi für Juda und Jerusalem beschäftigt hat, zeigt er uns nun das Ergebnis der Untreue des Volkes. Diese Untreue besteht nicht mehr wie früher im Götzendienst. Man könnte sie vielmehr in zwei Worten zusammenfassen: Verachtung Gottes und des Nächsten. Auch aus Sacharja 5,4 und 8,17 können wir entnehmen, dass diese Wesenszüge den sittlichen Zustand des jüdischen Volkes in den letzten Tagen kennzeichnen werden.
Äußerlich betrachtet schien alles in Ordnung zu sein. Wenn auch Zauberei erwähnt wird, so gab es doch wenigstens keine Götzen mehr. Trotzdem war das Herz des Volkes noch ebenso verdorben wie zu der Zeit, als der Götzendienst in Israel herrschte. Aus diesem Grund sollte sie das Gericht Gottes treffen. Das ist charakteristisch für jedes Bekenntnis, das „nicht mit dem Glauben vermischt“ ist. Gott bezeichnet einen derartigen Zustand mit einem einzigen Wort: „Sie fürchten mich nicht“ (Vers 5). Der Anfang, der erste Schritt auf dem Wege der Weisheit, fehlte ihnen. Wir werden in Vers 16 sehen, dass die wahren Gläubigen gerade durch diese Furcht gekennzeichnet sind.
Was bedeutet eigentlich „Gott fürchten“? Furcht ist das Gefühl, das ein Untergeordneter einem Höheren gegenüber empfindet. Gott fürchten heißt also, als Geschöpfe Seine Oberhoheit und Seine absoluten Recht über uns, sowie die Autorität Seines Wortes anerkennen. Dasselbe gilt auch für unsere Beziehungen zu Christus. Wir sind Seine Knechte die Er für Sich erworben hat, indem Er das Lösegeld für uns bezahlte. Furcht schließt das Gefühl des Gehorsams ein, den wir einer Autorität, ihren Anordnungen und Befehlen, schuldig sind, ebenso eine Empfindung über den Dienst, der ihr erwiesen werden muss. Darüber hinaus möchte der Knecht seinem Herrn, dem er alles verdankt, durch seinen Gehorsam gefallen. Ein Knecht fürchtet seinen Herrn, ein Mensch die Obrigkeit, eine Frau ihren Mann, ein Sohn seinen Vater; denn diese alle sind die Vertreter einer ihnen von Gott anvertrauten Autorität. Es ist hier nicht von der Liebe die Rede, die natürlich in verschiedenen Beziehungen zum Ausdruck kommt. Ich will damit nur sagen, dass die Furcht ihre Grundlage bilden und unseren ganzen Wandel regeln muss. Darum weist der erste Brief des Petrus, dessen Gegenstand das Verhalten des Christen auf der Erde ist, beständig auf diese Furcht hin. Ich kenne Gott als meinen Vater, ich nahe Ihm als Sohn mit vollem kindlichen Vertrauen, aber ohne die Ihm schuldige Ehrerbietung aus dem Auge zu verlieren. Ich erkenne Seine Rechte über mich als Gott, Schöpfer, Herr und Meister an, und mein einziger Gedanke wird sein, Ihm zu dienen – nicht zitternd wie ein Sklave unter dem Joch, sondern in dem vollen Genuss meiner Beziehung zu Ihm als meinem Vater.
Wenn bei einem Menschen keine Gottesfurcht vorhanden ist, gibt es überhaupt kein sittliches Band zwischen der Seele und Ihm (vgl. Ps 36,1-4). Und wie den ungläubigen Menschen, so fehlt gerade dies auch jedem leblosen religiösen Bekenntnis. Der natürliche Mensch steht, auch wenn er sich Christ nennt, immer unter der Leitung seines eigenen Willens, der dem Willen Gottes entgegengesetzt ist und sich ihm nicht unterwerfen kann (Röm 8,7). Christ sein heißt dagegen, sich im Glauben völlig dem Willen Gottes zu unterwerfen. „Was soll ich tun, Herr?“ fragte Paulus auf dem Weg nach Damaskus (Apg 22,10). Der eigene Wille muss gebrochen und gerichtet und der Wille Gottes als das einzige Heilmittel angenommen werden. „Nach seinem eigenen Wille hat er uns durch das Wort der Wahrheit gezeugt, auf dass wir eine gewisse Erstlingsfrucht seiner Geschöpfe seien“ (Jak 1,18).