Behandelter Abschnitt Joel 2,15-17
Joel 2,15-17: Stoßt in die Posaune auf Zion, heiligt ein Fasten, ruft eine Festversammlung aus! Versammelt das Volk, heiligt eine Versammlung, bringt die Ältesten zusammen, versammelt die Kinder und die Säuglinge an den Brüsten; der Bräutigam trete aus seiner Kammer und die Braut aus ihrem Gemach! Die Priester, die Diener des HERRN, sollen weinen zwischen der Halle und dem Altar und sprechen: Verschone, HERR, dein Volk und gib nicht dein Erbteil der Schmähung hin, dass sie den Nationen zum Sprichwort seien! Warum soll man unter den Völkern sagen: Wo ist ihr Gott?
Die Verse 15 bis 17 sind die Antwort auf die Einladung in den Versen 12 bis 14. Unter dem Druck des Feindes, der Jerusalem verheert hat, ist der dringende Ruf zur Buße gehört worden. Nichts Geringeres als dieses letzte Unglück war nötig, um das Gewissen Judas zu erreichen. „Stoßt in die Posaune auf Zion, heiligt ein Fasten, ruft eine Festversammlung aus!“ Hier soll die Posaune nicht mehr Lärm blasen, denn es handelt sich nicht darum, gegen den Feind, der das Volk im Land bedrückt, Front zu machen, sondern um das Volk zu versammeln. „Um die Gemeinde zu versammeln, sollt ihr blasen und nicht Lärm blasen. Und die Söhne Aarons, die Priester, sollen die Trompeten blasen“ (4Mo 10,7.8). Diese Versammlung hat noch nicht den Charakter, den sie im Tausendjährigen Reich haben wird – von „der großen Versammlung“ ist gesagt: „Und an euern Freudentagen und an euren Festen und an euren Neumonden, da sollt ihr in die Trompeten blasen bei euren Brandopfern und bei euren Friedensopfern; und sie sollen euch zum Gedächtnis sein vor eurem Gott“ (4Mo 10,10) – aber sie ist eine prophetische Vorschau der endgültigen Sammlung, die ohne diese nicht zustande kommen kann. Dies ist eine Versammlung von einigen wenigen, die Versammlung des gläubigen Überrestes, der sich in ernster, aufrichtiger Buße, in Demütigung und unter Tränen in Jerusalem zusammenfindet.
Verhält es sich nicht ganz ebenso für die Gemeinde unserer gegenwärtigen Tage? Die nationale Demütigung findet heute keinen wirklichen Widerhall trotz des Unglücks, das über die Völker gekommen ist, wie wir sie in Juda finden, das aufgerufen war, „ein Fasten zu heiligen“ bei Gelegenheit der Heuschreckenplage (Joel 1,14). Die Buße ist das Teil einiger, die der Herr versiegelt hat und „die seufzen und wehklagen“ inmitten einer aufrührerischen Welt. Es geht um eine wahrhafte und nicht bloß äußerliche Buße, eine Buße, bei der die Treuen im Volk „ihre Herzen und nicht ihre Kleider zerreißen“ (Joel 2,13). Der Verfall der Kirche, das endgültige Gericht über die Christenheit, die Beschämung darüber, zu diesem Zustand beigetragen und den Namen des Christus verunehrt zu haben, bewirkt die Buße in den Herzen einer kleinen Schar, die in diesem Geist die Versammlung darstellt. Der arme Überrest aus Israel wird das zukünftige Jerusalem bilden und den Kern des irdischen Israel des Tausendjährigen Reiches ausmachen, ebenso wie der christliche Überrest von heute die große himmlische Versammlung darstellt. Jedoch ist die Demütigung Jerusalems doch in mehr als einem Punkt verschieden von der unsrigen. Zuerst wird die Buße nicht durch die Voranzeige noch zukünftiger Gerichte herbeigeführt, sondern durch den großen und sehr schrecklichen Tag des HERRN, den die Treuen ebenso wie das abtrünnige Volk durchmachen müssen, während die unsrige „vor dem kommenden Zorn“ stattfinden wird. Sodann wird jene unter der Gewissenserkenntnis, dass die Verbindung des Volkes mit Gott unterbrochen ist, stattfinden, während für uns auch dann, wenn die Sünde unsere Gemeinschaft mit Gott unterbricht, doch die Verbindung mit Ihm niemals unterbrochen werden kann, da sie auf dem vollkommenen Werk des Christus beruht.
Wie ernst wird diese zukünftige Szene sein! „Versammelt das Volk, heiligt eine Versammlung, bringt die Ältesten zusammen, versammelt die Kinder;, der Bräutigam trete aus seiner Kammer, und die Braut aus ihrem Gemach!“ (Joel 2,16). Alle Klassen des Volkes sind zur Buße aufgerufen, selbst die Kinder müssen die Last der Schuld des Volkes tragen; vom Größten bis zum Kleinsten ist keiner ausgenommen. Die intimsten Familienfreuden müssen verlassen werden, um das Fasten zu feiern. Alle bürgerlichen und religiösen Autoritäten müssen teilnehmen: „Die Priester, die Diener des HERRN, sollen weinen zwischen der Halle und dem Altar“ (Joel 2,17). Sie werden nicht einmal wagen, vor dem Altar zu stehen. Haben sie nicht das Lamm Gottes verworfen und gekreuzigt, das allein sie mit Gott zu versöhnen vermochte? Sie sagen: „Verschone, HERR, dein Volk und gib nicht dein Erbteil der Schmähung hin, dass sie den Nationen zum Sprichwort seien! Warum soll man unter den Völkern sagen: Wo ist ihr Gott?“ Hier sieht man, wie sie trotz allem und in einer Zeit, wo sie noch unter dem Urteil des „Lo-Ammi“ (= Nicht-mein-Volk) stehen, doch daran festhalten, zu sagen: „Dein Volk“. Dies ist wirklich Glaube, der den Überrest kennzeichnet, der hier redet und der, während er durchaus an sich selbst zweifelt, doch niemals an der Treue Gottes in Bezug auf seine Verheißungen gezweifelt hat. Wie oft werden die Worte „Wo ist ihr Gott?“ in den Ohren des unter den Nationen flüchtigen Überrests ertönen! Es wird dies besonders während der durch das Tier und den falschen Propheten hervorgerufenen Verfolgung, wie es in den Psalmen zu sehen ist (Ps 42,3.10; 79,10; 115,2), der Fall sein; jetzt ertönen sie in den Ohren des in Jerusalem gebliebenen Überrests. Oh, wie werden diese Worte die bußfertigen Herzen der Treuen brennend durchdringen! Sind es nicht die gleichen Worte, die ihre Väter einst gegen den Messias, als Er für Israel starb, ausgerufen haben: „Er vertraute auf Gott, der errette Ihn jetzt, wenn er ihn begehrt; denn er sagte: Ich bin Gottes Sohn“ (Mt 27,43).
Was war das Fasten zur Zeit der Heuschreckenplage im Vergleich zum gegenwärtigen Fasten? Eine vorübergehende Zerknirschung des Herzens, selbst dann, wenn es sich erwehrt hätte, dass Jerusalem dem Aufruf „Heiligt ein Fasten!“ Folge geleistet hätte. Denn, wie wir gesehen haben, damals hat ein Einziger geantwortet: „Zu dir, HERR, rufe ich“ (Joel 1,19). Jetzt aber ist die Demütigung aufrichtig, die Buße vollständig. Dies ist die große Wehklage Jerusalems, von der der Prophet Sacharja redet (Sach 12,10-14). Gesegnete Sache, diese Demütigung! Sie lässt uns das Angesicht Gottes wiederfinden! Und doch, wie viele Jahrhunderte lang hat der HERR darauf gewartet, umsonst gewartet, dass dieses widerspenstige Volk Buße tun würde. Hat es sich gedemütigt über seinen Götzendienst? Hat es sich gedemütigt, dass es den Sohn Gottes, seinen Messias, ans Kreuz genagelt hat? Ach, wie sehr ist das Herz des Menschen, unser aller Herz, doch aufrührerisch, widerspenstig, hochmütig und vom eigenen Willen beherrscht. Sind alle diese Dinge, die in der Geschichte Israels dargestellt werden, nicht zu unserer Unterweisung berichtet? Sind wir, wenn uns das Gewissen, dieser unerbittliche Beurteiler, sagt, dass wir gesündigt haben, bereit, es anzuerkennen? Oder sind wir nicht vielmehr wie Adam bereit, uns zu entschuldigen, als ob Entschuldigungen uns weißwaschen könnten? Wir entschuldigen unsern Weltsinn, unsere Lauheit, unsere Feigheit, unsern Mangel an Tätigkeit für die Sache des Christus, und das Letzte, woran wir denken, ist, „das Fasten zu heiligen“. Es geschieht mehr als einmal, dass wir ähnlich wie David irgendeinen verborgenen Fehler bei uns behalten und die Stimme des Gewissens ersticken, wenn sie sich regen will, indem wir vergessen, dass Gott alles gesehen hat, bis endlich der „große und schreckliche Tag des HERRN“ kommt, der Tag, an dem alles bloß und aufgedeckt wird und der Schuldige endlich ausruft: „Ich habe gegen den Herrn gesündigt!“
Ja, die Demütigung ist eine sehr ernste und schmerzliche Sache. Sie ist das Messer des Wundarztes, das an die nicht getöteten Glieder gelegt wird, die natürlich aufschreien, wenn das Instrument das lebendige Fleisch berührt. Aber wie wertvoll und kostbar ist die Demütigung! „Bevor ich gedemütigt wurde, irrte ich“, sagt der Psalmist. „Es ist gut für mich, dass ich gedemütigt wurde“ (Ps 119,67.71).