Behandelter Abschnitt Joel 2,1-2
Der Tag des HERRN oder der Einfall des Assyrers
In den so verhängnisvollen Verheerungen durch die Heuschrecken musste Israel notgedrungen das Gericht Gottes erkennen. Infolge der tiefernsten Begleitumstände, der Unterbrechung der priesterlichen Funktionen und des Aufhörens der Verbindung des Volkes mit Gott und endlich wegen der furchtbaren Hungersnot selbst rufen die Menschen: „Ach, über den Tag! Denn nahe ist der Tag des HERRN, und er kommt wie eine Verwüstung von dem Allmächtigen“ (Joel 1,15). Diese erschütternden Geschehnisse, deren Zeuge Joel ist, öffnen seine sehenden Augen für das, was in ferner Zukunft geschehen muss. Er schaut in diesen Übeln ein Bild der kommenden Ereignisse, ein Vorbild der furchtbaren Dinge, die den Tag des HERRN begleiten werden. Sagen uns die Erschütterungen der heutigen Tage, in denen wir leben, nicht genau dasselbe?
Wie wir schon in der Einleitung bemerkt haben, schweigt die von den Propheten Jesaja und Hosea so abweichende Weissagung Joels vollständig über die historischen Ereignisse. Deshalb sind wir nicht, wie in den anderen Propheten, berechtigt, diese hier hineinzubringen. Der Ausgangspunkt der prophetischen Ausführungen Joels ist die Heuschreckenplage, unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt sie auch geschehen sein mag. Der Angriff des prophetischen (zukünftigen) Assyrers gegen Juda und Jerusalem in unserem Kapitel ist das Gegenstück dazu. Der Prophet Jesaja lenkt unsere Blicke immer von Sanherib, dem historischen Assyrer, zum Assyrer des Endes und geht vom Charakter und Schicksal des einen aus, um Charakter und Schicksal des anderen vorzuzeichnen. Joel aber übergeht den Ersteren stillschweigend. Für ihn ist der assyrische Einbruch in Juda und Jerusalem ein Charakterzug des Tages des HERRN, des großen und furchtbaren . Die Ereignisse in Kapitel 1 erinnern daran, sind aber hiervon nur ein schwaches Abbild.
Der Assyrer spielt also eine Hauptrolle in diesen Ereignissen, die der Aufrichtung des Tausendjährigen Reiches, der messianischen Königsherrschaft von Jesus Christus, vorausgehen, wie dies am Ende unseres Kapitels beschrieben ist (Joel 2,23-27; vgl. auch Joel 4,18-21). Vielleicht sollte man genauer von einem assyrischen Bund reden, dessen politisches Haupt der Gog Hesekiels ist (Hes 38-39); Daniel nennt ihn den „König des Nordens“ (Dan 11,40-45) und unser Prophet „der von Norden Kommende“, dessen „Gestank“ und „übler Geruch“ aufsteigen wird, „weil er Großes getan hat“ (Joel 2,20). Diese symbolische Heuschrecken-Armee hat über sich einen König (vgl. Off 9,11), während vom nichtsymbolischen, natürlichen Standpunkt aus gesagt wird: „Die Heuschrecken haben keinen König, und doch ziehen sie allesamt aus in geordneten Scharen“ (Spr 30,27).
Wir bemerken noch, dass der König des Nordens Daniels und der Gog Hesekiels nichts mit Babylon zu tun haben, obwohl Jeremia oft von Nebukadnezar und Babel als von den Heeren des Nordens, dem Volk und dem Land des Nordens, redet, und ebenso von den Medern und Persern, die später Chaldäa erobert haben. Gog, dessen Gebiet sich nach und nach gegen
Norden bis tief nach Russland und Asien ausgedehnt hat, ist der Abkömmling und Nachfolger des historischen Assyrers. Der „assyrische Bund“ der Prophezeiung umfasst all die Gebiete unter der Herrschaft des Gog. Der König des Nordens beherrscht Kleinasien, das zuerst zum Gebiet des historischen Assyrers gehörte, nachher aber unter Seleucus ein selbständiges Reich wurde. Ohne mit Gog identisch zu sein, wird der König des Nordens sich mit ihm einsmachen und gemeinschaftlich mit ihm handeln und als sein Heerführer eine überwiegende Rolle spielen (vgl. Dan 11,5-19.40-45).
Der Assyrer des Jesaja ist der historische Assyrer, der aber in den letzten Tagen wieder erscheinen wird, lange nachdem Babylon, das einst Assyrien unterjochte und seinem Reich einverleibt hatte, untergegangen war. Babylon wird nicht wiederhergestellt werden, außer in symbolischer Gestalt, um das Verderben und die Verwirrung in der abgefallenen Christenheit, die wieder dem Götzendienst verfallen sein wird, zu charakterisieren (Off 17-19). Nur eines der vier Weltreiche, das Römische Reich, wird als solches wieder erstehen und ein Gegenstand des Erstaunens für die ganze Welt sein. Unter der Führung Gogs, des russischen Oberhauptes, wird der assyrische Bund der große Gegenspieler des wiedererstandenen Römischen Reiches und seines Verbündeten, des Antichristen – des falschen Messias, Propheten und Königs des abtrünnigen jüdischen Volkes – sein. Dieser Assyrer wird in jenem Endkampf Palästina und vor allem Juda und Jerusalem überfallen.1
Der assyrische Bund der letzten Tage hat also Gog zum politischen Oberhaupt (Hes 32,22-30; 38,1-6). „Bist du der, von dem ich in vergangenen Tagen geredet habe durch meine Knechte, die Propheten Israels, die in jenen Tagen jahrelang weissagten, dass ich dich gegen sie heranbringen würde?“, sagt der Herr, HERR, in Hesekiel 38,17. Nun haben die Propheten Israels vom Assyrer geweissagt, was beweist, dass Gog und der Assyrer ein und dieselbe Person sind.2
In unserem Kapitel wird der Assyrer und sein Heer mit den Heuschrecken in Kapitel 1 verglichen.3 Gerade die Tatsache, dass das Heer der Heuschrecken aus Norden kommt, beweist den symbolischen Charakter ihres Einfalls.
Lasst uns nun die Einzelheiten unseres Kapitels betrachten:
Joel 2,1.2: Stoßt in die Posaune auf Zion, und blast Lärm auf meinem heiligen Berg! Beben sollen alle Bewohner des Landes; denn es kommt der Tag des HERRN, denn er ist nahe: ein Tag der Finsternis und der Dunkelheit, ein Tag des Gewölks und der Wolkennacht. Wie die Morgendämmerung ist es ausgebreitet über die Berge, ein großes und mächtiges Volk, wie seinesgleichen von Ewigkeit her nicht gewesen ist und nach ihm nicht mehr sein wird bis in die Jahre der Geschlechter und Geschlechter.
Der Gedanke, dass der Tag des HERRN nahe bevorsteht, der durch das Unglück, das über Juda gekommen, geweckt worden ist (Joel 1,15), ist der Ausgangspunkt des Nachfolgenden. Joel sieht eine zukünftige Riesenarmee, den Wolken der Heuschrecken gleich, ein Bild, das, wie wir gesehen haben, in der Prophezeiung sehr bekannt ist. Diese Armee ist aber viel schrecklicher als die der Heuschrecken. Von diesen Letzteren – eine Plage von bis dahin unerhörter Furchtbarkeit – wird gesagt: „Ist so etwas in euren Tagen geschehen oder in den Tagen eurer Väter?“ (Joel 1,2), aber von den Armeen in Kapitel 2 wird gesagt: „ein … Volk, wie seinesgleichen von Ewigkeit her nicht gewesen ist und nach ihm nicht mehr sein wird bis in die Jahre der Geschlechter und Geschlechter“ (Joel 2,2).
Der Weckruf ist ergangen, ihr Herannahen wird angekündigt: „Stoßt in die Posaune auf Zion, und blast Lärm auf meinem heiligen Berg!“ (Joel 2,1). In Israel ertönten die silbernen Posaunen als Lärmsignal: in erster Linie zum Abmarsch des Lagers und dann, um in den Kampf mit dem Feind zu ziehen. In diesem letzteren Fall sollten die Lärmposaunendas Volk ins Gedächtnis vor den HERRN bringen , damit es von seinen Feinden errettet würde (4Mo 10,1-9). Diese Gewohnheit wird uns hier in Joel in Erinnerung gebracht. Die unzählbare Armee der Assyrer überschwemmt das Land. Wie kann man ihr Widerstand leisten? Kann eine Handvoll Männer etwas ausrichten vor einem so gewaltigen Gegner? Dennoch lärmt die Posaune auf Zion und auf dem heiligen Berg: Somit muss man sich versammeln. Um zu kämpfen? Welche Torheit! Diese Armee ist, woran du wohl nicht denkst, armes, verblendetes Volk, die Armee des HERRN! „Der HERR lässt vor seiner Heeresmacht her seine Stimme erschallen“ (Joel 2,11). So bleibt keine Hilfsquelle übrig! Nein, keine, denn der HERR ist mit jenen, die gegen euch sind. Ja, ihr habt es da mit Ihm zu tun. Stoßt laut in die Posaune, nicht um mit einem Feind zu kämpfen, dem ihr notwendigerweise unterlegen seid, sondern um euch ins Gedächtnis vor dem HERRN zu bringen . In sein Gedächtnis? Heißt das denn nicht, Ihn an unsere Schuld zu erinnern? Zweifellos, aber „wer weiß?“! Im Herzen des HERRN, der gegen sein Volk heraufzieht, ist nicht bloß Rache zu finden. Vielleicht zieht Er die Rute seines Gerichts zurück, um sich eurer anzunehmen. „Er ist groß an Güte“ (Joel 2,13). Dies ist die wahre Bedeutung dieser Stelle und die Lösung, zu der der Geist Gottes sein schuldiges Volk führen möchte. Ach! Das gewünschte Resultat ist hier noch fern, und wir werden sehen, was noch fehlt, damit die Segnung sich über Juda und Jerusalem ergießen kann, wenn wir in Joel 2,15 den zweiten Gebrauch der Posaunen in Betracht ziehen. „Beben sollen alle Bewohner des Landes; denn es kommt der Tag des HERRN, denn er ist nahe“ (Joel 2,1). Hier kommt der Tag des HERRN. Hier ist nicht mehr, wie in Joel 1,15, die Ankündigung dieses Tages: „Er wird kommen“, sondern: „Er kommt!“ Es ist hier der Anfang dieses schrecklichen Tages, von dem gesagt wird: „ein Tag der Finsternis und der Dunkelheit, ein Tag des Gewölks und der Wolkennacht. Wie die Morgendämmerung ist es ausgebreitet über die Berge“ (Joel 2,2), nicht um Licht in die Welt zu bringen, sondern im Gegenteil Finsternis, wie in Amos 4,13 gezeigt wird. Aber diese Finsternis ist noch lange nicht so schrecklich, wie die später beschriebene (Joel 3,4.5; 4,15), denn wir haben hier erst die Anfangsereignisse des Tages des HERRN. Der Feind, einem Heuschreckenheer gleich, verdunkelt noch wie eine schwarze Wolke das Licht des Tages, das bereit ist aufzugehen. In Hesekiel 38,9 lesen wir das Gleiche vom Assyrer: „Du sollst heraufziehen, wie ein Sturm herankommen, sollst wie eine Wolke sein, um das Land zu bedecken, du und alle deine Haufen und viele Völker mit dir.“ Wie der Vorgeschmack des Tages des Herrn durch die Plage im ersten Kapitel gezeichnet ist, so ist gleicherweise die Ankunft dieses zukünftigen Tages verbunden mit dem zukünftigen Einbruch des Assyrers.
Überall, wo dieses Heer durchzieht, wird das Land, das Lot einst als das Land beschaute, das gleich dem Garten Eden war, gänzlich verwüstet werden: