Israel, das Haupt der Völker
Abschließend sei noch auf einen sehr interessanten Punkt hingewiesen, der mit dem 13. Vers unseres Kapitels in Verbindung steht. „Und der Herr wird dich zum Haupt machen und nicht zum Schwanz, und du wirst nur immer höher kommen und nicht abwärts gehen, wenn du den Geboten des Herrn, deines Gottes, gehorchst, die ich dir heute zu halten und zu tun gebiete.“
Diese Worte beziehen sich ohne Zweifel auf Israel als Nation. Israel ist bestimmt, das Haupt aller Völker der Erde zu sein. Das ist der unwandelbare und ewig sichere Vorsatz Gottes. Mag das Volk auch jetzt tief gesunken sein, mag es zerstreut sein unter die Nationen, mag es die schrecklichen Folgen seines Ungehorsams tragen und „im Staub der Erde schlafen“, wie wir in Daniel 12,2 lesen, so wird es dennoch als Nation zu einer größeren Herrlichkeit erwachen als unter Salomo.26
Alles das ist unzweideutig festgestellt durch eine Menge von Aussprüchen in den Büchern Moses, in den Psalmen, Propheten und dem Neuen Testament. Wenn wir die Geschichte Israels betrachten, werden wir einige treffende Beispiele finden, wo Personen durch die Gnade Gottes befähigt werden, sich die wertvolle Verheißung von Vers 13 anzueignen, und zwar gerade in den düstersten und niederdrückendsten Zeiten, als Israel den Schwanz und nicht mehr das Haupt der Nationen bildete. Diese Beispiele veranschaulichen zugleich einen Grundsatz von größter praktischer Wichtigkeit.
Das Beispiel Mordokais
Wenden wir uns für einige Augenblicke dem interessanten, aber so wenig verstandenen und geschätzten Buch Esther zu, das einen besonderen Platz einnimmt und eine Lehre für uns enthält, die wir vielleicht in keinem anderen Buch finden. Es gehört einer Zeit an, in der Israel wahrhaftig nicht das Haupt, sondern der Schwanz war. Trotzdem zeigt es uns einen Sohn Abrahams, der sich durch sein Verhalten die höchste Stellung erwarb und einen glänzenden Sieg über die erbittertsten Feinde Israels erzielte.
Israels Zustand war zur Zeit Esthers so tief gesunken, dass Gott sein Volk nicht mehr öffentlich anerkennen konnte. Deshalb wird auch sein Name in dem ganzen Buch Esther nicht ein einziges Mal erwähnt. Die Heiden herrschten über Israel, und das Verhältnis zwischen dem Herrn und Israel konnte nicht länger öffentlich anerkannt werden. Aber der Herr konnte sein Volk nie vergessen, und wir dürfen hinzufügen, auch das Herz eines treuen Israeliten konnte weder den Herrn noch sein heiliges Gesetz vergessen. Diese beiden Tatsachen sind es, die dieses Buch besonders kennzeichnen. Gott handelt für Israel gleichsam hinter der Szene, und Mordokai handelt für Gott frei und öffentlich. Es ist bemerkenswert, dass weder Israels bester Freund noch sein schlimmster Feind auch nur einmal in diesem Buch genannt werden, und doch ist das ganze Buch voll von den Handlungen beider. Während sich einerseits der Finger Gottes in der wunderbaren Kette der Ereignisse deutlich zeigt, tritt andererseits die bittere Feindschaft Amaleks in dem grausamen Anschlag des hochmütigen Agagiters zutage.
Wie wertvoll und wichtig ist die persönliche Treue, wenn alles im Verfall ist und in Trümmern liegt! Mordokai stand felsenfest für die Wahrheit Gottes ein und weigerte sich entschieden, Amalek anzuerkennen. Er versuchte das Leben des Ahasveros zu retten und beugte sich vor der Autorität des heidnischen Königs als dem Ausdruck der Macht Gottes, aber er wollte sich nicht vor Haman bücken. Sein Verhalten in dieser Sache wurde durch das Wort Gottes geleitet und gerechtfertigt, denn wir lesen in 5. Mose 25,17-19: „Erinnere dich daran, was Amalek dir getan hat auf dem Weg, als ihr aus Ägypten zogt, wie er dir auf dem Weg entgegentrat und deine Nachzügler schlug, alle Schwachen hinter dir her, als du erschöpft und müde warst; und er fürchtete Gott nicht“. – Hierin liegt das Geheimnis – „Und wenn der Herr, dein Gott, dir Ruhe geschafft hat vor allen deinen Feinden ringsum, in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir als Erbteil gibt, es zu besitzen, so sollst du das Gedächtnis Amaleks unter dem Himmel austilgen. Vergiss es nicht!“
Das war deutlich genug für ein „beschnittenes“ Ohr und ein gehorsames Herz. Und ebenso deutlich ist die Sprache in 2. Mose 17,14-16: „Und der Herr sprach zu Mose: Schreibe dies zum Gedächtnis in ein Buch, und lege in die Ohren Josuas, dass ich das Gedächtnis Amaleks ganz und gar unter dem Himmel austilgen werde. Und Mose baute einen Altar und gab ihm den Namen: Der Herr, mein Banner! Und er sprach: Denn die Hand ist am Thron Jahs: Krieg hat der Herr gegen Amalek von Geschlecht zu Geschlecht!“
Diese Stellen enthalten die Norm für das Verhalten Mordokais gegenüber dem Agagiter. Konnte ein treuer Israelit sich vor dem Glied eines Hauses bücken, mit dem der Herr Krieg führte? Unmöglich!
Er konnte für sein Volk trauern, weinen und in Sack und Asche fasten, aber er konnte und durfte sich nicht vor einem Amalekiter niederbeugen. Wohl mochte man ihn deshalb der Anmaßung und Hartnäckigkeit beschuldigen, aber das kümmerte ihn nicht. Es mochte unverantwortlich dumm erscheinen, dem höchsten Würdenträger im Reich die gewöhnliche Ehrerbietung zu verweigern, aber dieser Würdenträger war ein Amalekiter, und das war genug für Mordokai. Seine scheinbare Dummheit war Gehorsam, und gerade das macht sein Verhalten so interessant und wichtig für uns.
Nichts kann unsere Verantwortung, dem Wort Gottes zu gehorchen, aufheben. Für Mordokai genügte das Wort des Herrn: „Erinnere dich daran, was Amalek dir getan hat . . . vergiss es nicht“ (5Mo 25,17). Wie lange war dieses Wort gültig? „Von Geschlecht zu Geschlecht.“ Der Krieg des Herrn mit Amalek sollte nicht aufhören, bis dessen Name und Gedächtnis unter dem Himmel ausgetilgt war. Wie hätte nun ein treuer Israelit sich jemals vor einem Amalekiter niederbeugen können? Unmöglich! Hätte Josua es tun können? Nein. Tat es Samuel? Nein, „er hieb Agag in Stücke vor dem Herrn in Gilgal“ (1Sam 15,33). So konnte sich auch Mordokai nicht vor ihm beugen, auch wenn selbst ein Galgen schon für ihn aufgerichtet war. Man konnte ihn hängen, aber niemals dahin bringen, Amalek zu huldigen.
Und was war das Ergebnis? Ein herrlicher Triumph! Als der Nächste am Thron sonnte sich der stolze Amalekiter in den Strahlen der königlichen Gunst. Sich seiner Reichtümer, seiner Größe und Herrlichkeit rühmend, war er dabei, die Nachkommen Abrahams in den Staub zu treten. Der arme Mordokai dagegen lag in Sack und Asche am Boden. Was konnte er tun? Nichts anderes als Gott gehorchen. Er hatte weder Schwert noch Spieß, aber er besaß das Wort Gottes, und durch den einfachen Gehorsam zu diesem Wort errang er einen Sieg über Amalek, der auf seine Art ebenso entscheidend und glänzend war, wie der Sieg Josuas nach 2. Mose 17. Es war ein Sieg, den Saul zu seiner Zeit nicht erreichen konnte, obgleich er über die Kriegsheere der zwölf Stämme Israels verfügte.
Haman versuchte Mordokai an den Galgen zu bringen, aber stattdessen wurde er gezwungen, wie ein Diener den verhassten Israeliten in königlichem Glanz und Gepränge durch die Straßen der Stadt zu führen (vgl. Est 6,7-12).
Hier war Israel eindeutig das Haupt und Amalek der Schwanz; nicht Israel als Nation, aber in der Person Mordokais. Doch das war nur der Anfang von Amaleks Niederlage und Israels Herrlichkeit. Haman wurde gerade an dem Galgen aufgehängt, den er für Mordokai errichtet hatte. „Und Mordokai ging vom König hinaus in königlicher Kleidung von purpurblauer und weißer Baumwolle, und mit einer großen goldenen Krone, und in einem Mantel von Byssus und Purpur; und die Stadt Susan jauchzte und war fröhlich“ (Est 8,15).
Die Wirkung von Mordokais wunderbarem Sieg breitete sich weit und breit über die 127 Provinzen des Reiches aus. „Und in jeder einzelnen Landschaft und in jeder einzelnen Stadt, überall, wohin das Wort des Königs und seine Anordnung gelangte, war Freude und Wonne bei den Juden, Gastmahl und Festtag. Und viele aus den Völkern des Landes wurden Juden, denn die Furcht vor den Juden war auf sie gefallen.“ Und als des Ganzen Krönung lesen wir: „Denn Mordokai, der Jude, war der Zweite nach dem König Ahasveros und groß bei den Juden und wohlgefällig der Menge seiner Brüder; er suchte das Wohl seines Volkes und redete zum Frieden seines ganzen Geschlechts“ (Est 8,17; 10,3).
Sind das nicht schlagende Beweise für die unermessliche Wichtigkeit der persönlichen Treue? Sollte uns das nicht anspornen, um jeden Preis für die Wahrheit Gottes einzustehen? Betrachten wir nur die wunderbaren Ergebnisse der Handlungen eines einzigen Mannes, dessen Verhalten von so vielen in der schärfsten Weise verurteilt worden sein mag. Aber Gott erkannte es an und schenkte Mordokai einen Sieg, dessen herrliche Früchte von seinen Brüdern nah und fern geerntet wurden.
Das Beispiel Daniels und seiner Freunde
Einen weiteren Beleg für diese Zusammenhänge liefern die Kapitel 3 und 4 des Propheten Daniel. Auch sie zeigen dem Leser die segensreichen Folgen persönlicher Treue gegen den wahren Gott zu einer Zeit, da die Herrlichkeit Israels verschwunden war und Jerusalem mit seinem Tempel in Trümmern lag. Die drei treuen Männer Sadrach, Mesach und Abednego weigerten sich, das goldene Bild Nebukadnezars anzubeten, trotz des Zorns des Königs und trotz der allgemeinen Stimme des Reiches. Ja, sie wollten lieber in den brennenden Ofen geworfen werden, als dem Gebot ihres Gottes nicht zu gehorchen. Sie konnten ihr Leben preisgeben, aber nicht die Wahrheit Gottes.
Auch hier war ein glänzender Sieg das Ergebnis. Sie gingen mit dem Sohn Gottes in dem Feuerofen umher und entstiegen ihm als Zeugen und Knechte des höchsten Gottes. Alles das war die Folge ihres Gehorsams. Welch ein Verlust wäre es für sie gewesen, wenn sie sich der Menge angeschlossen und sich vor dem Götzenbild gebeugt hätten, um dem glühenden Feuerofen zu entgehen! Aber sie bekamen Kraft, an dem Bekenntnis des einen wahren Gottes festzuhalten, an einer Wahrheit, die selbst während der herrlichen Regierung Salomos mit Füßen getreten wurde. Und das Zeugnis von ihrer Treue ist uns durch den Heiligen Geist bewahrt worden, um uns zu ermutigen, ebenfalls mit festem Schritt den Weg der Treue zu gehen, angesichts einer Welt, die Gott hasst und Christus verworfen hat, und angesichts einer Christenheit, die die Wahrheit vernachlässigt.
Die gleiche Wirkung muss das Lesen des 6. Kapitels des Propheten Daniel erzeugen, das ein eingehendes Studium wert ist. Auch dieses Kapitel enthält eine gesegnete Lehre für die Zeit eines oberflächlichen, selbstgefälligen Bekenntnisses, wo man ohne viel Selbstverleugnung den Wahrheiten des Christentums zustimmen kann, aber so wenig bereit ist, mit ganzem Herzen dem verworfenen Christus zu folgen.
Wie belebend erscheint einer solchen Gleichgültigkeit gegenüber die Treue Daniels! Unerschrocken hielt er an seiner Gewohnheit fest, täglich dreimal zu seinem Gott zu beten, während die Fenster seines Zimmers nach Jerusalem hin geöffnet waren, obgleich er wusste, dass er sich deshalb der Gefahr aussetzte, den Löwen vorgeworfen zu werden. Leicht hätte er die Fenster schließen, sie mit Vorhängen zuziehen, sich in ein verborgenes Gemach zurückziehen oder warten können bis Mitternacht, so dass niemand ihn gesehen oder gehört hätte. Aber nein, dieser geliebte Diener Gottes wollte sein Licht nicht unter das Bett oder unter den Scheffel stellen. Es ging um einen wichtigen Grundsatz.
Daniel wollte nicht nur zu dem einen lebendigen und wahren Gott beten, sondern er wollte es auch tun mit Fenstern, die nach Jerusalem hin geöffnet waren, weil Jerusalem der von Gott erwählte Mittelpunkt für sein irdisches Volk war. Aber Jerusalem lag doch in Trümmern! Vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet war es allerdings mit Jerusalem vorbei. Aber für den Glauben und von dem göttlichen Standpunkt aus gesehen war und blieb Jerusalem der von Gott erwählte Mittelpunkt für sein Volk. Ja, selbst sein Schutt ist wertvoll für Gott. Daniel handelte daher in vollkommenem Einklang mit den Gedanken und dem Wort Gottes, wenn er seine Fenster öffnete und nach Jerusalem hin betete. Er hatte das Wort Gottes für sich, wie wir es in 2. Chronika 6,38 finden: „. . . und sie kehren zu dir um mit ihrem ganzen Herzen und mit ihrer ganzen Seele im Land ihrer Gefangenschaft, wohin man sie gefangen weggeführt hat, und sie beten zu ihrem Land hin, das du ihren Vätern gegeben, und der Stadt, die du erwählt hast, und zu dem Haus hin, das ich deinem Namen erbaut habe . .
Das war die Norm, nach der Daniel handelte, ohne Rücksicht auf menschliche Meinungen und Drohungen, ja, selbst ungeachtet der Aussicht auf einen qualvollen Tod. Er wollte lieber in die Löwengrube geworfen werden, als die Wahrheit Gottes preisgeben, lieber mit einem guten Gewissen zum Himmel gehen, als mit einem bösen Gewissen auf der Erde bleiben.
Und wieder war das Ergebnis ein glänzender Triumph. „Und Daniel wurde aus der Grube herausgeholt; und keine Verletzung wurde an ihm gefunden, weil er auf seinen Gott vertraut hatte“ (Dan 6,24).
Welch ein gesegneter Diener und edler Zeuge! Auch er war bei dieser Gelegenheit das Haupt und seine Feinde waren der Schwanz, und wodurch? Nur durch den Gehorsam gegen das Wort Gottes. Sicher können wir die ernste Bedeutung dieser für unsere Zeit so wichtigen Tatsachen nicht genug hervorheben und nicht zu oft auf solche Beweise persönlicher Treue hinweisen, die zu einer Zeit geliefert wurden, in der die nationale Herrlichkeit Israels im Staub lag. Ist es nicht überaus ermunternd und anregend, gerade in den düstersten Zeiten der Geschichte Israels die glänzendsten Beispiele persönlichen Glaubens und hingebender Treue zu finden? Möchten sie uns anspornen, auch jetzt der Wahrheit entschieden zu folgen, wo der allgemeine Zustand der bekennenden Christenheit so entmutigend auf uns wirkt! Wir sind in großer Gefahr, wegen des allgemeinen Zustandes um uns her das Banner persönlicher Treue sinken zu lassen und den göttlichen Maßstab zu erniedrigen. Aber das ist ein verhängnisvoller Fehler und das Werk des Feindes.
26 Dies wurde im 19. Jhdt. geschrieben (Anmerkung des Herausgebers).↩︎