Behandelter Abschnitt 5. Mose 16,3-8
Ungesäuertes Brot – Das Brot des Elends
So viel über den Ort. Werfen wir jetzt noch einen Blick auf die Art und Weise der Feier. Auch diese ist, wie zu erwarten, kennzeichnend für unser Buch. Der hervorragendste Charakterzug ist hier das „ungesäuerte Brot“, und zwar wird es bemerkenswerterweise das „Brot des Elends“ (V. 3) genannt. Und warum? Bekanntlich ist das ungesäuerte Brot ein Bild der inneren und äußeren Heiligkeit, die so wesentlich für den Genuss einer wahren Gemeinschaft mit Gott ist. Wir sind nicht errettet durch persönliche Heiligkeit, wohl aber für sie. Sie bildet nicht die Grundlage unserer Errettung, aber ein wesentliches Element unserer Gemeinschaft. Eine bewusste Zulassung von Sauerteig bedeutet das Ende jeder Gemeinschaft und Anbetung.
Wir dürfen dieses wichtige Prinzip nie aus dem Auge verlieren, so lange wir auf der Erde leben und unserer ewigen Ruhe in den Himmeln entgegengehen. Von Gemeinschaft und Anbetung zu reden, während man in einer erkannten Sünde lebt, ist nur ein trauriger Beweis dafür, dass man weder das eine noch das andere kennt. Um wirklich uns der Gemeinschaft mit Gott oder mit den Heiligen zu erfreuen und um Gott in Geist und Wahrheit anbeten zu können, müssen wir ein Leben persönlicher Heiligkeit und wirklicher Trennung von allem Bösen führen. Wollten wir unseren Platz in der Versammlung Gottes einnehmen und an der Gemeinschaft und Anbetung der Gläubigen teilnehmen, während wir in geheimen Sünden lebten oder das Böse bei anderen stillschweigend zuließen, so würden wir dadurch die Versammlung verunreinigen, den Heiligen Geist betrüben, gegen Christus sündigen und uns selbst unter das Gericht Gottes bringen, der sein Haus jetzt richtet und seine Kinder züchtigt, damit sie nicht mit der Welt verurteilt werden.
Alles das ist ernst und verlangt eingehende Beachtung von allen, die wirklich mit Gott wandeln und ihm mit Ehrfurcht und Frömmigkeit dienen wollen. Ein Verständnis über die Belehrungen in diesen Vorbildern zu haben und ihre großen moralischen Lektionen ins Herz aufzunehmen und im Leben zu verwirklichen, sind zwei verschiedene Dinge. Möchten alle, die bekennen, mit dem Blut des Lammes besprengt zu sein, das Fest der ungesäuerten Brote zu halten suchen (1Kor 5,6-8)!
Aber was haben wir unter dem „Brot des Elends“ zu verstehen? Sollten wir in Verbindung mit einem Fest, das zur Erinnerung an die Befreiung aus der Knechtschaft und dem Elend Ägyptens gefeiert wurde, nicht eher Freude und Lobgesänge erwarten? Ohne Zweifel ist die Verwirklichung unserer Befreiung von unserem früheren Zustand und seinen Folgen mit wirklicher Freude, mit Dank und Anbetung verbunden. Aber offenbar waren das nicht die vorherrschenden Charakterzüge des Passahfestes, ja, diese Dinge werden nicht einmal genannt. Wir hören von dem „Brot des Elends“, aber kein Wort von Freude oder von Lob und Triumphgesängen. In dieser Tatsache liegt eine wichtige Belehrung für uns. Sie deutet auf die tiefen Herzensübungen hin, die der Heilige Geist durch die Erinnerung in uns bewirkt, dass unser Herr und Heiland für uns gelitten hat, um uns von unseren Sünden und dem Gericht über sie zu befreien. Auch in 2. Mose 12 sind diese Übungen vorbildlich durch die „bitteren Kräuter“ dargestellt, und wieder und wieder werden sie uns in der Geschichte der Gläubigen des Alten Bundes gezeigt, wenn diese durch die mächtige Wirkung des Geistes und des Wortes Gottes dahin geführt wurden, in der Gegenwart Gottes „ihre Seelen zu kasteien“ (vgl. 3Mo 16,29).
Diese heiligen Übungen waren also nicht etwa eine Folge von Gesetzlichkeit oder Unglauben. Bei Weitem nicht! Drückte ein Israelit dadurch, dass er von dem Brot des Elends und dem gebratenen Fleisch des Passahlammes aß, irgendwelche Zweifel oder Befürchtungen über seine Befreiung aus Ägypten aus? Unmöglich! Er war ja bereits im Land der Verheißung und war mit dem Volk in der Gegenwart Gottes versammelt. Wie hätte er daher an seiner Befreiung aus Ägypten zweifeln können?
Dennoch war das „Brot des Elends“ ein wesentliches Kennzeichen des Passahfestes, und die Israeliten mussten es essen zur Erinnerung an ihren Auszug aus Ägypten. „Denn in Eile bist du aus dem Land Ägypten herausgezogen – damit du des Tages deines Auszugs aus dem Land Ägypten gedenkst alle Tage deines Lebens“ (V. 3). Dieser Auszug durfte auch in dem verheißenen Land nie vergessen werden. Durch alle Geschlechter hindurch sollten sie ihn feiern, und zwar durch ein Fest, das die heiligen Übungen beinhaltete, die stets eine wahre christliche Frömmigkeit kennzeichnen.
Lasst uns die in dem „Brot des Elends“ dargestellte Wahrheit unsere ganze Aufmerksamkeit schenken! Wir halten das besonders nötig für die, die sich rühmen, mit der so genannten Lehre von der freien Gnade gut bekannt und vertraut zu sein. Besonders für junge Christen besteht die Gefahr, dass sie, um einer gesetzlichen Haltung aus dem Weg zu gehen, in das entgegengesetzte Extrem verfallen und leichtfertig werden. Alte, erfahrene Christen sind dieser gefährlichen Schlinge Satans nicht so sehr ausgesetzt. Aber die Jungen unter uns kann man nicht genug davor warnen. Sie hören vielleicht sehr viel von der Errettung durch Gnade, von der Rechtfertigung aus Glauben, der Befreiung vom Gesetz, und von all den besonderen Vorrechten der christlichen Stellung. Es erübrigt sich, zu sagen, dass dies alles von größter Wichtigkeit ist. Sicher hört niemand zu viel darüber, und es wäre zu wünschen, dass noch viel mehr darüber gesprochen, geschrieben und gepredigt würde, weil viele Gläubige wegen ihrer Unwissenheit über diese Grundwahrheiten ihr Leben im Dunkeln und in einer knechtischen Stellung zubringen. Aber leider gibt es doch viele, die, nach ihrem ganzen Lebenswandel und Verhalten zu urteilen, die Grundsätze der Gnade nur mit ihrem Verstand erfasst haben, aber deren heiligende Kraft für das Herz und das praktische Leben nur wenig zu kennen scheinen.
In Israel wurde es nicht geduldet, und es war auch nicht nach den Gedanken Gottes, das Passah ohne die ungesäuerten Brote, das „Brot des Elends“, diesen wesentlichen Bestandteil des Festes, zu feiern. Und sicher können auch wir das Fest, das wir als Christen feiern dürfen, nicht nach den Gedanken Gottes halten ohne einen Seelenzustand, der in den bitteren Kräutern oder in dem Brot des Elends vorgestellt ist, sowie ohne die Verwirklichung persönlicher Heiligkeit. Es herrscht ein großer Mangel unter uns bezüglich dieser geistlichen Gefühle und Zuneigungen, dieser tiefen Übung der Seele, die der Heilige Geist in uns wecken möchte, indem Er unsere Herzen auf die Leiden Christi hinweist, d. h., was es ihn gekostet hat, unsere Sünden zu tilgen, was Er für uns erduldet hat, als die Wogen und Wellen des gerechten Zorns Gottes wegen unserer Sünden über ihm zusammenschlugen. Ja, uns fehlt die tiefe Zerknirschung des Herzens, die aus der Beschäftigung mit den Leiden und dem Tod unseres teuren Heilandes hervorgeht. Es ist eine Sache, das Gewissen mit dem Blut Christi besprengt zu haben, und eine andere, den Tod Christi in geistlicher Weise dem Herzen nahe zu bringen und sein Kreuz in praktischer Weise auf unseren ganzen Wandel und Charakter anzuwenden.
Woher kommt es, dass wir so leicht in Gedanken, Worten und Werken sündigen? Woher kommt es, dass sich unter uns so viel Leichtfertigkeit, ungebrochenes Wesen und fleischliche Freiheit, so viel bloßer Schein und Oberflächlichkeit finden? Kommt es nicht daher, dass der in dem „Brot des Elends“ vorgebildete Bestandteil in unserer Festfeier fehlt? Unserem Christentum fehlen die Tiefe und der wahre Ernst. Es gibt bei uns zu viel oberflächliches Reden über die tiefen Geheimnisse des christlichen Glaubens, zu viel Kopferkenntnis ohne innere Kraft.
Wir sollten uns sicher vor Gesetzlichkeit hüten, aber vielmehr noch vor Leichtfertigkeit. Das Erste ist schon ein Übel, aber das Zweite noch weit mehr. Gnade ist das göttliche Heilmittel für das erste, Wahrheit dasjenige für das zweite. Leider ist es nicht zu leugnen, dass sich heute viel Leichtfertigkeit unter den Christen findet. Es ist, um in der Sprache unseres Bildes zu reden, eine große Neigung vorhanden, das Passah von dem Fest der ungesäuerten Brote zu trennen, zu ruhen in dem Wissen um eine vollbrachte Erlösung, während man das gebratene Lamm, das Brot der Heiligkeit und das Brot des Elends vergisst.
Gott selbst hat beides unzertrennlich miteinander verbunden, und deshalb kann niemand wirklich diese kostbare Wahrheit genießen, dass „unser Passah, Christus, geschlachtet ist“, wenn er nicht auch „Festfeier hält mit ungesäuertem Brot der Lauterkeit und Wahrheit“ (1Kor 5,7). Wenn der Heilige Geist etwas von dem Wert des Todes unseres Herrn Jesus zu erkennen und zu genießen gibt, leitet Er uns zugleich an, über das Geheimnis seiner Leiden und über das nachzudenken, was Er gelitten hat, um uns von den ewigen und schrecklichen Folgen der Sünde zu befreien, von der wir uns oft so leicht umstricken lassen. Möge der Geist Gottes uns durch seine mächtige Wirkung mehr und mehr in die wirkliche Bedeutung des gebratenen Lammes, der ungesäuerten Brote und des Brotes des Elends einführen!