Behandelter Abschnitt 5. Mose 8,1-2
Die Erfahrung in der Wüste
Rückblicke
„Das ganze Gebot, das ich dir heute gebiete, sollt ihr halten, es zu tun; damit ihr lebt und euch mehrt und hineinkommt und das Land in Besitz nehmt, das der Herr euren Vätern zugeschworen hat. Und du sollst dich an den ganzen Weg erinnern, den der Herr, dein Gott, dich hat wandern lassen diese vierzig Jahre in der Wüste, um dich zu demütigen, um dich zu prüfen, um zu erkennen, was in deinem Herzen ist, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht“ (V. 1.2).
Es ist ermutigend, zurückzuschauen auf den Weg, den uns unser Gott geführt hat, nachzusinnen über seine weise und gnädige Leitung, uns ins Gedächtnis zurückzurufen, wie oft Er wunderbar für uns eintrat, indem Er uns bald aus dieser, bald aus jener Schwierigkeit befreite, uns zu erinnern, wie oft Er uns half, wenn wir völlig ratlos dastanden, und uns einen Weg zeigte, wenn wir nicht mehr aus noch ein wussten, wobei Er uns zugleich wegen unserer Befürchtungen tadelte und unsere Herzen mit Lob und Dank erfüllte.
Aber hüten wir uns, dies mit der Gewohnheit zu verwechseln, auf unsere Wege zurückzublicken, auf unsere Verdienste, unsere Fortschritte und unser Wirken, oder auf das, was wir tun konnten. Auch wenn wir dabei im Allgemeinen zugeben, dass nur die Gnade Gottes uns befähigen konnte, etwas für ihn zu tun, dient doch alles nur unserer Selbstgefälligkeit, die eine wahrhaft geistliche Gesinnung nicht aufkommen lässt. Solche selbstsüchtigen Rückblicke wirken ebenso nachteilig wie der stete Blick in das eigene Ich. Überhaupt ist die Beschäftigung mit dem eigenen Ich nur verderblich und gibt aller echten Gemeinschaft den Todesstoß. Alles das, was darauf abzielt, unser eigenes Ich uns vorzustellen, sollten wir daher verurteilen und zurückweisen, denn es führt nur zur Schwächung des inneren Lebens.
Erinnern wir uns hier einen Augenblick an die denkwürdigen Worte des Apostels: „Brüder, ich denke von mir selbst nicht, es ergriffen zu haben; eins aber tue ich: Vergessend, was dahinten, und mich ausstreckend nach dem, was vorn ist, jage ich, das Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus“ (Phil 3,13.14).
Welche Dinge vergaß der Apostel? Waren es die Barmherzigkeiten Gottes, die er während seiner ganzen Pilgerschaft erfahren hatte? Stellen wie Apostelgeschichte 26,22 und 2. Timotheus 3,11; 4,16.17 beweisen das Gegenteil. Wir glauben, dass er auf alles hinweist, was nicht in Verbindung mit Christus stand, auf Dinge, in denen das Herz ruhen und das Fleisch sich rühmen mochte und die eine Last und ein Hindernis für ihn sein konnten. Alles das vergaß er in seinem sehnsüchtigen Verlangen nach jenen großen und herrlichen Wirklichkeiten, die vor ihm lagen. Wie Paulus könnte auch kein anderes Kind Gottes, kein anderer Diener Christi es je wünschen, auch nur eine einzige Situation während seiner irdischen Laufbahn zu vergessen, in der sich die Güte, Liebe, Barmherzigkeit und Treue Gottes gezeigt hat. Im Gegenteil, es wird stets eine unserer schönsten Beschäftigungen sein, bei der gesegneten Erinnerung an alle Wege unseres Vaters zu verweilen, die Er uns geführt hat, während wir durch diese Wüste zu unserer ewigen Heimat und Ruhe unterwegs sind.
So sollten sich auch die Kinder Israel „an den ganzen Weg erinnern“, den sie ihr Gott geleitet hatte, um ihre Herzen im Blick auf die Vergangenheit zum Dank zu stimmen und für die Zukunft ihr Vertrauen auf Gott zu stärken. So sollte es immer sein. Stets sollten wir den Herrn für alles preisen, was hinter uns liegt, und ihm in allem vertrauen, was noch kommen mag. Das sind die beiden Dinge, die zur Verherrlichung Gottes und zu unserem Frieden sind, unserer Freude in ihm dienen. Wenn das Auge auf den „Eben-Ezers“ ruht, die entlang unseres ganzen Weges liegen, so kann es nicht ausbleiben, dass das Herz „Hallelujah“ dem darbringt, der bis hierher geholfen hat und uns sicher bis zum Ende hin weiterhelfen wird. Er hat geholfen, Er hilft, und Er wird helfen. Das ist eine gesegnete Kette, deren Glieder alle den Namen „göttliche Hilfe“ tragen!
Aber wir sollen mit dankerfülltem Herzen nicht nur bei den Barmherzigkeiten und bei der gnädigen Durchhilfe unseres Vaters verweilen, sondern auch bei den Demütigungen und Prüfungen, die seine weise, treue und heilige Liebe über uns kommen ließ. Alle diese Dinge sind voll von Segnungen für uns. Es sind nicht, wie man manchmal sagt, „verborgene Segnungen“, sondern offenbare und unverkennbare Barmherzigkeiten, für die wir Gott in Ewigkeit loben werden. „Du sollst dich an den ganzen Weg erinnern“, an alle Ereignisse der Reise, an jede Szene des Wüstenlebens, an alle Führungen Gottes von Anfang bis Ende, die den einen Zweck hatten, „um dich zu demütigen, um dich zu prüfen, um zu erkennen, was in deinem Herzen ist“.
Der letztgenannte Grund ist besonders wichtig. Wenn wir beginnen, dem Herrn nachzufolgen, kennen wir nur wenig von den Tiefen des Bösen und der Torheit unserer Herzen. Aber je mehr Fortschritte wir machen, desto mehr erfahren wir, was alles in uns und um uns her ist. Wir lernen die Tiefen des Verderbens in uns, sowie die Leere und Wertlosigkeit alles dessen, was in der Welt ist, kennen und wir erfahren, wie nötig es ist, in ständiger Abhängigkeit vom Herrn zu gehen.
Alles das ist sehr gut. Er macht uns demütig und misstrauisch gegen uns selbst, befreit uns von Hochmut und Eigendünkel und führt uns dahin, in kindlicher Einfalt an dem zu hangen, der uns vor Straucheln bewahren kann. Je mehr wir in der Selbsterkenntnis wachsen, umso mehr verstehen wir von der Gnade und lernen die Liebe Gottes näher kennen; wir erkennen dann seine wunderbare Geduld mit unseren Schwachheiten und Fehlern, seine Barmherzigkeit, in der Er sich unser angenommen hat und die Fürsorge für alle unsere Bedürfnisse; wir bekommen ein tieferes Verständnis für die Übungen, durch die Er uns führen musste zu unserem tiefen und bleibenden Nutzen.
Die praktischen Auswirkungen hiervon sind unschätzbar und verleihen unserem Charakter Festigkeit und Milde. Sie heilen uns von unseren törichten Meinungen, machen uns geduldig und rücksichtsvoll gegen andere, mildern unser Urteil und lassen uns die Handlungen anderer im bestmöglichen Licht sehen. In zweideutigen Fällen werden wir ihnen stets die besten Beweggründe zuschreiben. Das sind einige der Früchte der Erfahrungen in der Wüste, denen wir alle ernstlich nachstreben sollten.