Parallelen in der Geschichte der Versammlung
Nehmen wir doch als Beispiel die Tatsache, dass Israel abwich von der Wahrheit: „Der Herr, unser Gott, ist ein Herr!“ Welche vorbildliche Bedeutung hat nun diese Tatsache für die Versammlung?
Zweifellos hat sie eine sehr ernste Bedeutung. Verfolgen wir die Versammlung Gottes in ihrem öffentlichen Zeugnis für Christus auf der Erde, so begegnen wir denselben traurigen Erscheinungen wie bei Israels Abfall. Kaum war die Versammlung aufgerichtet und hatte die ganze Fülle der Segnungen und Vorrechte bekommen, die Gott für sie in Christus bereitet hatte, so begann sie, von den Wahrheiten abzuweichen, die sie bewahren und bekennen sollte. Gleich Adam im Garten Eden, gleich Noah auf der wiederhergestellten Erde, gleich Israel im Land Kanaan war auch die Versammlung kaum als die verantwortliche Verwalterin der Geheimnisse Gottes eingesetzt, als sie schon anfing zu straucheln und zu fallen. Sehr rasch wurden die großen Wahrheiten vergessen, die das Christentum vor allem Vorhergegangenen auszeichneten. Schon zu Lebzeiten der Apostel begannen das Böse und der Irrtum zu wirken, die die Grundlagen des Zeugnisses der Versammlung unterwühlt haben (vgl. Gal 1,6.7; 3,1; 4,8-11; 5,7-9; 2Tim 1,15; 4,3.4 und andere Stellen).
Paulus hatte als ein weiser Baumeister den Grund der Versammlung gelegt. Welche Erfahrungen musste er machen! Er sah sich gleich seinem Meister von allen verlassen, die sich in der Frische und dem Eifer früherer Tage um ihn gesammelt hatten. Ihn erfüllte Trauer bei dem Gedanken an das Verderben, das sich schon überall zu zeigen begann. Judaisierende Lehrer waren an allen Orten beschäftigt, den wahren Grund des Christentums zu unterwühlen und den Glauben der Auserwählten Gottes zu erschüttern. Er weinte über die Vielen, die das Bekenntnis des Namens Christi im Mund führten, aber „Feinde des Kreuzes Christi waren“ (Phil 3,18). Er sah, wenn er aus dem Gefängnis in Rom auf die bekennende Christenheit schaute, nichts als hoffnungslosen Verfall. Er erkannte, dass es ihr geradeso ergehen würde wie dem Schiff, in dem er seine Reise nach Rom gemacht hatte, eine Reise, die ein treffendes Bild von der traurigen Geschichte der Versammlung in dieser Welt ist.
Die Versammlung in ihrer Verantwortlichkeit und die Einheit des Leibes Christi
Selbstverständlich denken wir dabei nicht an die Versammlung als den Leib Christi, sondern an ihren Charakter als verantwortliche Zeugin auf der Erde, als der Leuchter oder das Zeugnis Christi in dieser Welt. Die Versammlung als der Leib Christi ist durch die Gegenwart und das Innewohnen des Heiligen Geistes mit ihrem lebendigen und verherrlichten Haupt in den Himmeln verbunden und kann nie vergehen, nie gleich Paulus‘ Schiff durch die Stürme und Wogen dieser feindseligen Welt zertrümmert werden. Das Haupt und der Leib sind eins, unauflöslich miteinander verbunden. Keine Macht der Erde oder der Hölle, keine Macht der Menschen oder des Teufels kann je ein Glied dieses Leibes antasten. Sie alle stehen vor Gott, sie alle befinden sich vor ihm in der ganzen Fülle, Schönheit und Annehmlichkeit Christi selbst. Wie das Haupt, so sind auch die Glieder, alle Glieder zusammen, und jedes Glied insbesondere. Alle genießen die vollendeten, ewigen Ergebnisse des Werkes Christi, das Er am Kreuz vollbracht hat. Die Verantwortung der einzelnen Glieder wird hier außer Acht gelassen, denn der Herr selbst macht sich verantwortlich für die Glieder. Er genügt jedem Anspruch. Nichts bleibt übrig als Liebe – Liebe, so vollkommen wie das Werk Christi, so unwandelbar wie sein Thron.
Jede Beschuldigung, die je gegen eins oder gegen alle Glieder der Versammlung Gottes erhoben werden könnte, ist bereits am Kreuz vorgebracht und zwischen Gott und seinem Christus für ewig entschieden worden. Alle Sünden und Ungerechtigkeiten, alle Schuld jedes einzelnen Gläubigen – alles lag dort auf Christus und wurde von ihm getragen. Entsprechend seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit hat Gott dort alles in Ordnung gebracht, was jemals der Errettung, Segnung und Herrlichkeit eines Gliedes des Leibes Christi, der Versammlung Gottes, im Weg stehen konnte. Jedes Glied des Leibes Christi ist durchdrungen von dem Leben des Hauptes, jeder Stein des Baues durchdrungen von dem Leben des Ecksteins. Alle sind miteinander verbunden in der Kraft eines Bandes, das nie gelöst werden kann.
Natürlich dürfen wir die kirchlichen Systeme dieser Welt, alte und neue, griechische, römische oder protestantische, nicht verwechseln mit der Versammlung Gottes, dem Leib Christi. Es hat noch nie ein religiöses System gegeben und wird es auch nie geben, das einen Anspruch darauf haben kann, „der Leib Christi“ genannt zu werden. Daher ist es falsch, die Absonderung von einem solchen System ein Spalten oder Zerreißen des Leibes Christi zu nennen. Im Gegenteil ist es die Pflicht jedes Gläubigen, der die Wahrheit von der Einheit des Leibes verwirklichen und bekennen will, sich entschieden von allem abzusondern, was sich selbst fälschlich eine Versammlung nennt. Wenn sich aber jemand von solchen absondert, die sich klar und unzweifelhaft nach dem Grundsatz der einen Versammlung Gottes versammeln, so ist das eine Trennung.
Keine christliche Gemeinschaft kann Anspruch auf den Titel „Leib Christi“ oder „Versammlung Gottes“ erheben. Die Glieder dieses Leibes sind überall verstreut. Sie werden in all den verschiedenen religiösen Benennungen unserer Tage gefunden, soweit diese nicht die Gottheit unseres Herrn Jesus Christus leugnen. Aber obgleich sich keine christliche Gemeinschaft rechtmäßig den Titel „Versammlung Gottes“ beilegen kann, so sind doch alle Christen verantwortlich, nach dem Grundsatz der einen Versammlung zusammenzukommen.
Und wenn nun gefragt wird: „Wie können wir diesen Grundsatz kennen?“ oder: „Wo wird er verwirklicht?“, so antworten wir: „Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein“ (Mt 6,22). „Wenn jemand seinen Willen tun will, so wird er von der Lehre wissen, ob sie aus Gott ist“ (Joh 7,17). Da ist „ein Pfad, den der Raubvogel nicht kennt und den das Auge des Habichts nicht erblickt hat; den die wilden Tiere nicht betreten, über den der Löwe nicht hingeschritten ist“ (Hiob 28,7.8). Das natürliche Auge kann diesen Pfad nicht erkennen, menschliche Kraft kann ihn nicht betreten. Wo ist dieser Pfad? Hier ist er: „Und zum Menschen“ – zu jedem Leser wie dem Schreiber dieser Zeilen – „sprach er: Siehe, die Furcht des Herrn ist Weisheit, und vom Bösen weichen ist Verstand“ (Hiob 28,28).
An dieser Stelle sei ein Ausdruck angeführt, den man häufig von Leuten hört, von denen man es nicht erwartet. Man spricht von einem „Abschneiden der Glieder vom Leib Christi“12. Aber das ist, Gott sei Dank, unmöglich. Nicht ein einziges Glied des Leibes Christi kann von dem Haupt getrennt oder von dem Platz entfernt werden, an den es, infolge des ewigen Vorsatzes Gottes und kraft des vollbrachten Opfers unseres Herrn Jesus Christus, durch den Heiligen Geist eingefügt ist. Die göttliche Dreieinheit hat sich verbürgt für die Sicherheit jedes Gliedes am Leib sowie für die Erhaltung der unauflöslichen Einheit des ganzen Leibes.
Es ist heute noch so wahr wie damals, als der Apostel das vierte Kapitel an die Epheser schrieb, dass es nur „einen Leib“ gibt, von dem Christus das Haupt und alle wahren Gläubigen Glieder sind. Dieser Leib ist seit dem Pfingsttag auf der Erde und wird bis zu dem Augenblick hier sein, wenn Christus kommt und ihn in das Haus seines Vaters einführen wird. Sicher fällt es manchem schwer, bei der gegenwärtigen Zerstreutheit der Glieder an die bleibende Einheit des Ganzen zu glauben und sie zu bekennen. Man fühlt sich geneigt, Epheser 4,4 nur auf die Zeit anzuwenden, in der der Apostel diese Worte schrieb, wo die Christen sichtbar eins waren und man nicht daran denken konnte, ein Glied dieser oder jener Versammlung zu sein, weil alle Gläubigen Glieder der einen Versammlung waren13.
Aber wer gibt uns ein Recht, aus Epheser 4,4-6 einen Satz herauszunehmen und zu behaupten, dass er nur für die Zeit der Apostel gültig sei? Wenn ein Satz so eingeschränkt werden kann, warum dann nicht alle? Gibt es nicht auch heute noch „einen Geist, einen Herrn, einen Glauben, eine Taufe, einen Gott und Vater aller“? Ganz gewiss! Daran zweifelt niemand. Daraus aber folgt, dass es ebenso gewiss auch nur einen Leib gibt. Diese Dinge sind so eng miteinander verknüpft, dass man nicht das eine antasten kann, ohne alle zu leugnen. Wenn man die Einheit des Leibes verwirft, so muss man auch folgerichtig das Dasein eines Gottes leugnen; denn dieselbe Schriftstelle, die das eine erklärt, behauptet auch das andere. „Aber“, wird man einwenden, „wo befindet sich dieser eine Leib?
Ist es nicht töricht, angesichts der fast zahllosen Benennungen in der Christenheit von einem Leib zu reden?“ Nein, wir können die Wahrheit Gottes nicht aufgeben, nur weil der Mensch sie nicht verwirklicht hat. Versagte Israel nicht vollständig, wenn es darum ging, die Wahrheit von der Einheit Gottes zu bekennen und zu verwirklichen? Und doch wurde diese herrliche Wahrheit durch das traurige Verhalten des Volkes nicht im Geringsten geändert. Als es in Jerusalem ebenso viele Götzenaltäre wie Straßen gab und aus jedem Haus der Weihrauch zu Ehren von Baal und Astaroth aufstieg, war es da nicht mehr wahr, dass Gott einer ist, wie zur Zeit, da Mose der ganzen Versammlung die feierlichen Worte zurief: „Höre, Israel: Der Herr, unser Gott, ist ein Herr!“? Gepriesen sei Gott, seine Wahrheit ist unabhängig von den treulosen und törichten Wegen der Menschen. Sie ist unantastbar und unerschütterlich.
Aber wie wird die Wahrheit von der Einheit des Leibes praktisch verwirklicht? Dadurch, dass wir jeden anderen Grund der christlichen Gemeinschaft und des Zusammenkommens ablehnen. Alle wahren Gläubigen sollten sich einfach aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dem Leib Christi versammeln. Sie sollten sich am ersten Tag der Woche um den Tisch des Herrn scharen und als Glieder des einen Leibes das Brot brechen, nach den Worten des Apostels in 1. Korinther 10,17: „Denn ein Brot, ein Leib sind wir, die Vielen, denn wir alle nehmen teil an dem einen Brot.“ Das gilt heute noch so gut wie damals, als Paulus an die Versammlung zu Korinth schrieb. Allerdings gab es in Korinth Spaltungen, genauso wie es in der heutigen Christenheit unzählige gibt; aber das ändert nichts an der Wahrheit Gottes.
Der Apostel tadelte die Korinther und nannte sie fleischlich. Er war keineswegs der Meinung, dass solche Spaltungen nützlich sind, weil sie, wie man heutzutage sagt, einen Wetteifer erzeugen sollen. Paulus betrachtete sie als eine traurige Frucht des Fleisches, als das Werk Satans. Mit Sicherheit hätte er auch die in unseren Tagen so weit verbreitete und gern angenommene Erklärung für die Spaltungen in der Versammlung nicht gutgeheißen. Man sagt nämlich, dass die verschiedenen Parteien mit ebenso vielen Regimentern einer Armee zu vergleichen wären, die, obgleich in Uniform und Waffen verschieden, doch unter einem Feldherrn kämpfen. Gegenüber dem klaren und unmissverständlichen Ausspruch Gottes: „Da ist ein Leib“, werden solche Ansichten als törichte Widersprüche offenbar und zerfallen in sich selbst.
Es gab also auch in Korinth Irrlehren, Spaltungen, Böses aller Art. Sollte aber deshalb die Wahrheit Gottes aufgegeben werden? Sollten sich die Korinther nach einem anderen Grundsatz versammeln, eine neue Einrichtung schaffen, sich um einen neuen Mittelpunkt versammeln? Gott sei Dank, nein! Seine Wahrheit durfte keinen Augenblick aufgegeben werden, und wenn auch Korinth in tausend Sekten zersplittert und sein Horizont durch tausend Ketzereien verdunkelt gewesen wäre. Der Leib Christi ist einer, und der Apostel entfaltet ganz einfach vor ihnen sein Banner mit der segensreichen Inschrift: „Ihr aber seid Christi Leib, und Glieder im Einzelnen“ (1Kor 12,27).
Diese Worte aber wurden nicht nur an die Versammlung in Korinth gerichtet, sondern auch an alle, „die an jedem Ort den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen, ihres und unseres Herrn“ (1Kor 1,2). Die Wahrheit von der Einheit des Leibes ist daher bleibend und allgemein gültig. Jeder Christ ist verpflichtet, sie zu beachten und danach zu handeln, und jede Versammlung von Christen, wo sie auch zusammenkommt, sollte an diesem Ort die so wichtige Wahrheit verwirklichen. Kann denn von einer solchen örtlichen Versammlung gesagt werden: „Ihr seid der Leib Christi“? Wir erwidern hierauf: Gab es nicht zur Zeit des Apostels auch in Ephesus, Kolossä und Philippi Gläubige? Zweifellos, und hätte der Apostel an sie über dasselbe Thema geschrieben, so würde er auch zu ihnen gesagt haben: „Ihr seid der Leib Christi“, vorausgesetzt, dass sie an dem Ort, wo sie sich versammelten, der Ausdruck dieses Leibes waren. Zugleich aber standen alle Heiligen bis ans Ende der irdischen Laufbahn der Versammlung vor dem Geist des Apostels.
Unmöglich hätte er solche Worte an eine menschliche Einrichtung, welcher Art sie auch sein mochte, richten können. Selbst wenn alle derartigen Einrichtungen zu einer einzigen vereinigt würden, so könnte sie dennoch nicht „der Leib Christi“ genannt werden. Dieser Leib, das sollten wir klar verstehen, besteht aus allen wahren Gläubigen auf der ganzen Erde. Dass sie sich nicht alle nach diesem einzigen göttlichen Grundsatz versammeln, ist ein schwerer Verlust für sie und dient zur Verunehrung des Herrn. Aber diese herrliche Wahrheit „da ist ein Leib“ wird hiervon nicht berührt, und sie ist der göttliche Maßstab, mit dem alle kirchlichen Vereinigungen und religiösen Systeme gemessen werden müssen.
Der völlige Verfall der Kirche
Wir wollen jetzt die menschliche Seite unseres Themas betrachten: die Versammlung in ihrer Verantwortlichkeit auf der Erde. Wenn man vorurteilsfrei das Neue Testament liest, so erkennt man, dass die Versammlung in ihrem Zeugnis für Christus hier auf der Erde weit abgewichen ist und in sehr betrüblicher Weise versagt hat. Werfen wir nur einen Blick in das zweite und dritte Kapitel der Offenbarung. Dort wird uns die Versammlung als unter Gericht stehend vorgestellt. Diese ernsten Kapitel können wir wohl mit Recht eine göttliche Versammlung nennen. Sieben Versammlungen oder Gemeinden wurden ausgewählt, um die verschiedenen Zeitabschnitte der Geschichte der Versammlung zu veranschaulichen, von dem Tag an, da sie als ein verantwortliches Zeugnis auf der Erde aufgerichtet wurde, bis zu dem Augenblick, wo die Namenschristenheit aus dem Mund des Herrn ausgespieen werden wird. Beide Kapitel sind ohne Zweifel geschichtlich, d. h. die Sendschreiben richteten sich zunächst an damals bestehende Versammlungen und behandelten deren Zustände. Zugleich aber tragen sie einen deutlichen ausgeprägten prophetischen Charakter. Übersehen wir das, so entgehen uns wertvolle Unterweisungen.
Nehmen wir z. B. das Sendschreiben an die Versammlung in Ephesus. Es ist dieselbe Gemeinde, an die der Apostel Paulus seinen einzigartigen Brief geschrieben und darin die himmlische Seite verschiedener Grundsätze entwickelt hatte: Gottes ewigen Vorsatz bezüglich der Versammlung und ihrer Stellung, als angenommen in Christus und gesegnet in ihm mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern. Doch wie wir gesehen haben, gibt es eine irdische und auch eine himmlische, eine menschliche und auch eine göttliche Seite, einen Leuchter und auch einen Leib. Und das ist der Grund, weshalb wir in Offenbarung 2,4 die ernsten Worte lesen: „Ich habe gegen dich, dass du deine erste Liebe verlassen hast.“ Wie ganz anders ist die Sprache hier als in dem Brief an die Epheser! Das Licht hat bereits begonnen, trübe zu werden. Kaum war es angezündet worden, so wurden schon Lichtschnäuzen nötig.
So zeigten sich bereits am Anfang die unverkennbaren Spuren beginnenden Verfalls vor dem durchdringenden Auge dessen, der inmitten der sieben goldenen Leuchter wandelt. Wenn wir die irdische Geschichte der Versammlung bis zu ihrem letzten Abschnitt verfolgen, wie sie uns in dem Sendschreiben an die Versammlung in Laodizea dargestellt wird, so finden wir keine Wiederherstellung mehr. Der Verfall ist hoffnungslos. Der Herr steht außerhalb der Versammlung: „Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe an“ (Off 3,20). Hier heißt es nicht mehr wie bei Ephesus: „Ich habe gegen dich.“ Nein, die ganze Stellung ist falsch. Das ganze bekennende Zeugnis ist nahe daran, aufgegeben zu werden: Ich werde „dich ausspeien aus meinem Mund“ (V. 16).
Der Herr zögert noch, gepriesen sei sein Name! Nur ungern verlässt Er den Platz der Gnade, um den Platz des Gerichts einzunehmen. Das erinnert uns an den Weggang der Herrlichkeit Gottes, wie sie uns in den ersten Kapiteln des Propheten Hesekiel vorgestellt wird. Die Herrlichkeit zieht sich langsam und zögernd zurück. Sie verlässt ungern den Tempel, das Land und das Volk. „Und die Herrlichkeit des Herrn hatte sich von dem Cherub auf die Schwelle des Hauses hin erhoben; und das Haus war von der Wolke erfüllt, und der Vorhof war voll von dem Glanz der Herrlichkeit des Herrn.“ – „Und die Herrlichkeit des Herrn begab sich von der Schwelle des Hauses weg und stellte sich über die Cherubim.“ Und zum Schluss: „Und die Herrlichkeit des Herrn erhob sich aus der Mitte der Stadt und stellte sich auf den Berg, der im Osten der Stadt ist“ (Hes 10,4.18; 11,23).
Wie auffallend ist der Gegensatz zwischen diesem langsamen Weggehen der Herrlichkeit Gottes und ihrem schnellen Eintritt, als Salomo den Tempel einweihte! (2Chr 7,1). Der Herr war schnell bereit, seine Wohnung in der Mitte seines Volkes einzunehmen, aber nur zögernd verließ Er sie wieder. Er wurde, menschlich gesprochen, durch die Sünde und hoffnungslose Unbußfertigkeit seines betörten Volkes vertrieben.
Ebenso ist es mit der Versammlung. Im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte wird uns der plötzliche Eintritt des Herrn in sein geistliches Haus beschrieben. Er kam gleich einem brausenden Wind, um das Haus mit seiner Herrlichkeit zu erfüllen. Im dritten Kapitel der Offenbarung erblicken wir ihn außerhalb des Hauses. Aber Er klopft an. Er zögert, nicht als ob Er eine Wiederherstellung der Versammlung als ein Ganzes erwartet, sondern Er klopft, ob vielleicht „jemand“ seine Stimme hört und ihm die Tür auftut. Die Tatsache, dass Er außerhalb der Versammlung steht, zeigt, was aus ihr geworden ist, und die Tatsache, dass Er anklopft, beweist, was Er ist.
Möchte jeder gläubige Leser diesen ernsten Gegenstand gründlich verstehen lernen! Von allen Seiten hört man falsche Ansichten über die gegenwärtige Stellung und die zukünftige Bestimmung der bekennenden Christenheit. Aber die Schrift belehrt uns unmissverständlich, dass die bekennende Christenheit in hoffnungslosem Verfall ist und dass das Gericht vor der Tür steht (vgl. 2Pet 2 und 3, den 2. Brief an Timotheus und den Brief des Judas). Nichts anderes steht der Namenschristenheit bevor als der unvermischte Zorn des allmächtigen Gottes. Ihr Urteil finden wir bereits in den kurzen, aber ernsten Worten ausgesprochen: „Du wirst ausgeschnitten werden“ (Röm 11,22).
So redet die Schrift: „Du wirst ausgeschnitten“, du wirst „ausgespieen“ werden. Die bekennende Christenheit hat in ihrem Zeugnis für Christus völlig versagt. Die Wahrheit, die sie bewahren sollte, hat sie treulos verlassen. So wie Israel in Kanaan den Herrn für Baal und Astaroth aufgab, so hat auch die Versammlung die Wahrheit für kindische Fabeln und verderbliche Irrtümer preisgegeben. Und wie erschreckend schnell ist sie abgewichen! Die warnenden Worte, die der scheidende Apostel an die Ältesten von Ephesus richtete, erfüllten sich sehr bald (vgl. Apg 20,28-30).
Den Aposteln unseres Herrn Jesus Christus folgten fast unmittelbar die „reißenden Wölfe“ und die Lehrer „verkehrter Dinge“. Die ganze Versammlung versank in dichte Finsternis. Das Licht der göttlichen Offenbarung verschwand mehr und mehr, und an seine Stelle trat kirchliche Verderbtheit und Priesterherrschaft mit all ihren schrecklichen Folgen. So kam es, dass die Geschichte der Versammlung, die Geschichte der Christenheit der traurigste Bericht ist, der je aufgeschrieben wurde. Allerdings hatte Gott immer ein Zeugnis. Wie in Israel, so erweckte Er auch in der Versammlung den einen oder anderen zu einem treuen Zeugen für sich selbst. Sogar inmitten der dichtesten Finsternis des Mittelalters erschien hier und da ein glänzender Stern am Horizont der Versammlung. Die Albigenser, Waldenser und andere wurden durch die Gnade Gottes befähigt, an seinem Wort festzuhalten und seinen Namen nicht zu verleugnen, trotz der schrecklichen Tyrannei Roms und seiner Gräueltaten.
Dann kamen die gnadenreichen Tage des sechzehnten Jahrhunderts, wo Gott Martin Luther und viele andere treue Männer mit ihm erweckte, um die wichtige Wahrheit von der Rechtfertigung aus Glauben aus dem jahrhundertealten Schutt kirchlichen Aberglaubens hervorzuziehen und dem Volk das Wort Gottes in seiner eigenen Sprache in die Hand zu geben. Es ist unmöglich, den Segen dieser denkwürdigen Zeit angemessen zu schildern. Tausende hörten die frohe Botschaft des Heils, glaubten und wurden errettet. Tausende, die jahrelang unter dem Joch Roms geseufzt hatten, begrüßten mit tiefer Dankbarkeit das himmlische Licht. Tausende strömten zusammen, um aus dem Quell göttlicher Offenbarung zu trinken, der durch päpstliche Unduldsamkeit jahrhundertelang verstopft gewesen war. Das gesegnete Licht der Wahrheit, das so lange unter dem Scheffel gestanden hatte, durfte von neuem seine Strahlen in die Finsternis hineinwerfen und unzählige Herzen erleuchten.
Doch so groß und herrlich die Ergebnisse und Segnungen des Zeitalters der Reformation auch waren, eine Wiederherstellung der Versammlung zu ihrem ursprünglichen Zustand brachte es nicht. Luther und seine Mitarbeiter haben die Gedanken Gottes über die Versammlung als den Leib Christi nie völlig verstanden. Die Einheit des Leibes, die Gegenwart des Heiligen Geistes in der Versammlung und sein Innewohnen in dem einzelnen Gläubigen blieben ihnen mehr oder weniger unbekannt.
Ebenso erkannten sie wenig von dem Charakter, von der Quelle der Kraft und der Verantwortlichkeit des Dienstes in der Versammlung. Sie gingen wohl nie über den Begriff einer menschlichen Autorität als Grundlage für den Dienst hinaus. Von der besonderen Hoffnung der Versammlung, der Ankunft Christi als dem glänzenden Morgenstern für sein Volk, finden wir nichts in ihren Schriften. Sie predigten die herrliche Wahrheit von der Rechtfertigung aus Glauben; sie gaben dem Volk die Heilige Schrift zurück und rissen die engen Schranken nieder, die der Aberglaube Roms um die Seelen gezogen hatte.
Trotz der gelegentlichen Wiederbelebungen, die das Christentum im Lauf der Jahrhunderte erfuhr, trotz der glänzenden Lichter, die zu verschiedenen Zeiten am Horizont der Versammlung erschienen und die umso heller leuchteten, je dichter die Finsternis war, die sie umgab, trotz der vielen gnädigen Bemühungen des Geistes Gottes während des vergangenen und des gegenwärtigen Jahrhunderts bleibt es Tatsache, dass die bekennende Christenheit in Trümmern liegt und dass sie in eilender Hast dem ewigen Dunkel der Finsternis entgegeneilt, ja, dass jene hochbegünstigten Länder, wo so viel Wahrheit des Evangeliums gepredigt, Bibeln und Evangeliumsschriften zu Millionen verbreitet worden sind, dennoch über kurz oder lang völliger Finsternis und traurigen Irrtümer anheim fallen würden.
Der glückliche Augenblick kommt näher, wo alle wahren Heiligen, alle Glieder des Leibes Christi, teils auferweckt, teils verwandelt, ihrem wiederkommenden Herrn entgegengehen werden in die Luft, um für allezeit bei ihm zu sein. Dann wird das Geheimnis der Bosheit sich einen Anführer erwecken in der Person des Menschen der Sünde, des Gesetzlosen, des Antichristen. Aber dann wird der Herr Jesus kommen mit allen seinen Heiligen, um das Gericht auszuführen an dem Tier, dem wiedererstandenen Römischen Reich sowie an dem falschen Propheten, dem Antichristen. Schließlich folgt das Gericht der Lebendigen (Mt 25,31-46).
Nachdem alles Böse hinweggetan ist, beginnt die tausendjährige Regierung Christi in Gerechtigkeit und Frieden: eine herrliche und gesegnete Zeit, der wahre Sabbat für Israel und für die ganze Erde.
Satan ist in den Abgrund hinabgeworfen und gebunden. Nach Verlauf der tausend Jahre wird er wieder losgelassen werden und in großer Wut eine letzte gewaltige Anstrengung gegen Gott und seinen Christus machen (Off 20,7–10). Dann folgt das Gericht über die Toten, das Gericht über alle, die in ihren Sünden gestorben sind, von den Tagen Kains bis zu dem letzten Abtrünnigen der tausendjährigen Herrlichkeit. Keine Zunge, keine Feder kann den furchtbaren Ernst dieser Szene schildern.
Danach beginnt dann der herrliche Zustand ewiger, unveränderlicher Segnung, und der neue Himmel und die neue Erde erscheinen, in denen Gerechtigkeit wohnt.
12Dieser Ausdruck wird gewöhnlich auf Fälle angewendet, in denen die Versammlung Zucht ausübt. Aber die Anwendung auf solche Fälle ist so falsch wie der Ausdruck selbst. Die Zucht der Versammlung hat nichts mit der Einheit des Leibes zu tun. Ein Glied des Leibes kann einen so schlechten Wandel führen oder in der Lehre so irren, dass die Versammlung genötigt ist, diesen Bruder vom Tisch des Herrn auszuschließen; aber das berührt seinen Platz im Leib Christi nicht. Diese beiden Dinge sind völlig verschieden voneinande
13 Die Einheit der Versammlung kann mit einer Kette verglichen werden, die über einen Fluss gespannt ist und deren Enden an jeder Seite des Flusses gesehen werden, während sie in der Mitte im Wasser hängt. Obgleich so ein Stück der Kette unsichtbar ist, so ist sie doch nicht unterbrochen. Wir sehen das Mittelstück nicht, aber wissen, dass die Kette nicht unterbrochen ist. So wurde auch die Versammlung Gottes am Pfingsttag in ihrer Einheit gesehen und wird in der Herrlichkeit in ihrer Einheit wieder gesehen werden, und obgleich sie jetzt für uns verborgen ist, so sind wir doch von ihrem Bestehen überzeugt. Die Einheit des Leibes hat eine wichtige praktische Bedeutung; denn wir müssen die Folgerung ziehen, dass der Wandel und der Zustand jedes einzelnen Gliedes auf den ganzen Leib wirken. „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit.“ Ein Glied wovon? Von einer örtlichen Versammlung? O nein, sondern ein Glied des Leibes.
Wir dürfen den Leib Christi nicht auf einen Ort beschränken. „Aber“, könnte jemand fragen, „können wir durch etwas berührt werden, das wir weder sehen noch wissen?“ Gewiss. Sind wir berechtigt, die große Wahrheit von der Einheit des Leibes und alle ihre praktischen Auswirkungen auf das Maß unserer persönlichen Erfahrung und Erkenntnis zu beschränken? Die Gegenwart des Heiligen Geistes verbindet die Glieder des Leibes mit dem Haupt und untereinander, und daher wirken der Wandel und die Wege des einzelnen Gliedes auf den ganzen Leib. Selbst im Alten Bund, wo es keine leibliche, sondern nur eine nationale Einheit gab, heißt es im Blick auf die Sünde Achans: „Israel hat gesündigt“, und die ganze Gemeinde wurde ge demütigt wegen einer Sünde, von der sie nichts wusste.↩︎