Verschiedene Grundlagen in den Beziehungen zwischen Gott und Menschen
Wir kehren jetzt zu dem fünften Kapitel des fünften Buches Mose zurück. Im zweiten Vers erinnert Mose das Volk an ihre Beziehung zu dem Herrn, die auf den Bund gegründet war. Er sagt: „Der Herr, unser Gott, hat am Horeb einen Bund mit uns geschlossen. Nicht mit unseren Vätern hat der Herr diesen Bund geschlossen, sondern mit uns, die wir heute hier alle am Leben sind. Von Angesicht zu Angesicht hat der Herr auf dem Berg, mitten aus dem Feuer, mit euch geredet – ich stand zwischen dem Herrn und euch in jener Zeit, um euch das Wort des Herrn zu verkünden; denn ihr fürchtetet euch vor dem Feuer und stiegt nicht auf den Berg“ (V. 2–5).
Wir müssen gut unterscheiden zwischen dem Bund am Horeb und dem Bund, den Gott mit Abraham, Isaak und Jakob machte. Diese Bündnisse unterscheiden sich wesentlich. Der Bund vom Berg Horeb war ein Bund der Werke, bei dem das Volk versprach, alles zu tun, was der Herr gesprochen hatte; der Bund mit den Erzvätern aber war ein Bund reiner Gnade, bei dem Gott sich selbst mit einem Eid verpflichtete, alles zu erfüllen, was er verheißen hatte. Der Unterschied ist in jeder Hinsicht von großer Bedeutung, sowohl was die Grundlage und den Charakter dieser Bündnisse als auch was die praktischen Ergebnisse betrifft. Der Bund am Horeb setzte das menschliche Vermögen voraus, alle seine Bedingungen zu erfüllen, und schon diese einzige Tatsache zeigte im Voraus, dass er gebrochen werden würde. Der Bund mit Abraham dagegen gründete sich auf die Verheißungen Gottes, alle seine Worte zu erfüllen, und daher ist es völlig unmöglich, dass ein einziges Jota oder ein Strichlein an seiner Erfüllung fehlen könnte.
Der Christ und das Gesetz
In den „Gedanken zum zweiten Buch Mose“ haben wir uns eingehender mit dem Thema „Gesetz“ beschäftigt und haben versucht, die Gedanken Gottes herauszustellen über seine Mitteilung des Gesetzes und über die Unmöglichkeit, dass ein Mensch durch das Halten des Gesetzes Leben und Gerechtigkeit empfangen konnte. Wir verweisen den Leser auf diese Ausführungen und auch auf die früheren Kapitel. Im Blick auf die verkehrten Anstrengungen des Menschen, den Christen wieder unter das Gesetz zu stellen, wollen wir noch einige Stellen zitieren.
Der Jude stand einst „unter Gesetz“; aber er musste die Entdeckung machen, dass das Gesetz kein Ruhekissen war, auf dem er ausruhen konnte, und keine Decke, in die er sich einhüllen konnte. Der Heide war „ohne Gesetz“. Er stand wohl unter der Regierung Gottes, aber nie unter Gesetz. Die Gnade stellt beide Klassen auf denselben Boden. In Apostelgeschichte 15 wird gezeigt, wie die Apostel und die ganze Gemeinde in Jerusalem dem ersten Versuch widerstanden, bekehrte Heiden unter das Gesetz zu stellen. Die Frage war in Antiochien aufgekommen; aber Gott führte es in seiner Güte und Weisheit so, dass sie nicht dort entschieden wurde, sondern dass Paulus und Barnabas nach Jerusalem hinaufgehen mussten, wo dieses Thema öffentlich besprochen und durch den einmütigen Beschluss der zwölf Apostel und der ganzen Versammlung entschieden wurde.
Lasst uns Gott dafür danken. Die Entscheidung einer örtlichen Versammlung, wie die in Antiochien, obgleich sie von Paulus und Barnabas anerkannt wurde, hätte keineswegs dasselbe Gewicht gehabt wie eine Entscheidung der versammelten zwölf Apostel in Jerusalem. Aber der Herr sorgte dafür, dass jeder Feind verstummen musste und die Gesetzeslehrer aller Zeiten überzeugend belehrt wurden, dass es nicht nach den Gedanken Gottes ist, die Christen in irgendeinem Punkt unter das Gesetz zu stellen. „Und einige kamen von Judäa herab und lehrten die Brüder: Wenn ihr nicht beschnitten werdet nach der Weise Moses, so könnt ihr nicht errettet werden“ (Apg 15,1). Welch eine traurige Botschaft! Wie mussten sich diese Worte mit eisiger Kälte auf die Herzen derer legen, die durch die Rede des Apostels Paulus in der Synagoge in Antiochien bekehrt worden waren! „So sei es euch nun kund, Brüder“, hatte er gesagt, „dass durch diesen euch Vergebung der Sünden verkündigt wird; und von allem, wovon ihr durch das Gesetz Moses nicht gerechtfertigt werden konntet, wird durch diesen“ (ohne Beschneidung und ohne Gesetzeswerke irgendwelcher Art) „jeder Glaubende gerechtfertigt“ (Apg 13,38.39).
Das war die herrliche Botschaft, die durch den Mund des Paulus verkündigt worden war, eine Botschaft von der freien und vollkommenen Errettung, von der völligen Vergebung der Sünden und der vollkommenen Rechtfertigung durch den Glauben an den Herrn Jesus Christus. Nach der Lehre derer aber, die von Judäa herabkamen, war das alles unzureichend. Ohne Gesetz und ohne Beschneidung war Christus nicht genug. Wie muss das Herz des Apostels entbrannt sein, als er seine geliebten Kinder im Glauben durch diese Lehre beunruhigt sah!
Die Annahme einer solchen Lehre ist gleichbedeutend mit der Preisgabe des ganzen Christentums. Musste dem Kreuz Christi die Beschneidung hinzugefügt werden, musste das Gesetz Moses die Gnade Gottes ergänzen, dann war alles vergeblich. Aber gepriesen sei der Gott aller Gnade! Er gebot der verderblichen Lehre Einhalt. „Als nun ein Zwiespalt entstand und ein nicht geringer Wortwechsel zwischen ihnen und Paulus und Barnabas, ordneten sie an, dass Paulus und Barnabas und einige andere von ihnen zu den Aposteln und Ältesten nach Jerusalem hinaufgehen sollten wegen dieser Streitfrage . . . Als sie aber nach Jerusalem gekommen waren, wurden sie von der Versammlung und den Aposteln und Ältesten aufgenommen, und sie berichteten alles, was Gott mit ihnen getan hatte. Einige aber von denen aus der Sekte der Pharisäer, die glaubten, traten auf und sagten: Man muss sie beschneiden und ihnen gebieten, das Gesetz Moses zu halten“ (Apg 15,2-5). Hatte Gott das geboten? Gewiss nicht. Er hatte in seiner unendlichen Gnade den Nationen die Tür des Glaubens geöffnet – ohne Beschneidung oder irgendein Gebot, das Gesetz Moses zu halten. Nein, es waren „einige Menschen“, die sich anmaßten, das zu gebieten, Menschen, die die Versammlung Gottes von jenem Tag an bis heute beunruhigt haben, „die Gesetzeslehrer sein wollen und nicht verstehen, weder was sie sagen noch was sie fest behaupten“ (1Tim 1,7).
Sie haben keinen Begriff davon, wie verwerflich ihre Lehre ist vor dem Gott aller Gnade, dem Vater der Barmherzigkeit. „Die Apostel und die Ältesten versammelten sich, um diese Angelegenheit zu besehen. Als aber viel Wortwechsel entstanden war, stand Petrus auf und sprach zu ihnen: Brüder, ihr wisst, dass Gott vor längerer Zeit mich unter euch auserwählt hat, dass die Nationen durch meinen Mund“, nicht das Gesetz Moses, oder die Beschneidung, sondern „das Wort des Evangeliums hören und glauben sollten. Und Gott, Herzenskenner, gab ihnen Zeugnis, indem er ihnen den Heiligen Geist gab, wie auch uns; und er machte keinen Unterschied zwischen uns und ihnen, indem er durch den Glauben ihre Herzen reinigte. Nun denn, was versucht ihr Gott, indem ihr ein Joch auf den Hals der Jünger legt, das weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten?“ Es war nicht die Absicht Gottes, das, was sich als ein unerträgliches Joch für Israel erwiesen hatte, von neuem den Christen aus den Nationen aufzuerlegen. „Sondern“, fügt der Apostel der Beschneidung hinzu, „wir glauben durch die Gnade des Herrn Jesus in derselben Weise errettet zu werden wie auch jene“ (V. 6–11).
Es ist schön, diese Worte von den Lippen des Apostels der Beschneidung zu vernehmen. Er sagt nicht: „Sie werden in derselben Weise errettet werden wie wir“, sondern: „Wir werden errettet werden wie sie.“ Ein Jude war bereit, von seinem hohen Platz herabzusteigen und ebenso errettet zu werden wie die armen, unbeschnittenen Heiden. Wahrlich, diese Worte mussten mit überwältigender Kraft in die Ohren der Gesetzeslehrer dringen und sie von der Verkehrtheit ihrer Stellung und ihrer Forderungen überzeugen. „Die ganze Menge aber schwieg und hörte Barnabas und Paulus zu, die erzählten, wie viele Zeichen und Wunder Gott unter den Nationen durch sie getan habe.“
Der Heilige Geist hat es nicht für gut befunden, uns mitzuteilen, was Paulus und Barnabas bei dieser denkwürdigen Gelegenheit gesprochen haben, und wir können auch darin seine Weisheit erkennen. Er gibt offensichtlich Petrus und Jakobus den Vorrang, weil ihre Worte für die Gesetzeslehrer mehr Gewicht haben mussten als die des Apostels der Nationen und seines Gefährten. „Nachdem sie aber ausgeredet hatten, antwortete Jakobus und sprach: Brüder, hört mich! Simon hat erzählt, wie zuerst Gott darauf gesehen hat, aus den Nationen ein Volk zu nehmen für seinen Namen. Und hiermit stimmen die Worte der Propheten überein“ – angesichts solcher Beweise mussten selbst die größten Eiferer für das Gesetz verstummen – „wie geschrieben steht“ (V. 12–15).
Somit wurde über diese wichtige Frage durch den Heiligen Geist, die zwölf Apostel und die ganze Versammlung endgültig entschieden. Wir müssen wohl beachten, dass in dieser bedeutenden Versammlung niemand nachdrücklicher und entschiedener sprach als Petrus und Jakobus; Petrus, der Apostel der Beschneidung und Jakobus, der Vertreter der jüdischchristlichen Gemeinde in Jerusalem. Durch seinen Dienst und seine Stellung bekamen seine Worte ein besonderes Gewicht für alle, die noch irgendwie auf jüdischem oder gesetzlichem Boden standen. Das Urteil dieser beiden hervorragenden Männer war klar und eindeutig, nämlich, dass die Bekehrten aus den Nationen nicht beunruhigt oder mit dem Gesetz belastet werden sollten. Sie bewiesen in ihren eindrucksvollen Ansprachen, dass es dem Wort, dem Willen und den Wegen Gottes schnurstracks entgegenlief, die Christen aus den Nationen unter das Gesetz zu stellen.