Behandelter Abschnitt 5. Mose 3,23-29
Eine unerfüllte Bitte
Die Schlussverse dieses Kapitels berichten von einem Gespräch zwischen Mose und seinem Herrn. Auch dieser Bericht steht wieder in schöner Harmonie mit dem Charakter des ganzen Buches (vgl. V. 23–28). Es geht uns zu Herzen, wenn wir den treuen Knecht Gottes eine Bitte vorbringen hören, die Gott ihm doch nicht gewähren konnte. Er verlangte, das gute Land jenseits des Jordan zu sehen. Das Teil, das sich die zweieinhalb Stämme erwählt hatten, konnte ihn nicht zufriedenstellen. Er wünschte, das besondere Erbteil des Volkes Gottes zu betreten. Aber es sollte nicht sein. Er hatte unvorsichtig mit seinen Lippen an den Wassern von Meriba geredet und durch den unabänderlichen Beschluss der Regierung Gottes war ihm der Übergang des Jordan verwehrt.
Alles das wiederholt Mose in wirklicher Demut vor dem Volk. Er verheimlicht nicht die Tatsache, dass der Herr sich geweigert hatte, seine Bitte zu erhören. Wohl erinnert er sie, dass sie Schuld daran hatten. Es war notwendig, dass das Volk daran erinnert wurde. Dennoch bekennt er, dass der Herr zornig über ihn gewesen sei und ihm trotz seiner Bitte nicht erlaubt habe, den Jordan zu überschreiten, sondern ihn aufgefordert habe, sein Amt niederzulegen und einen Nachfolger einzusetzen.
Mose selbst legt dieses offene Bekenntnis ab. Wie schwer wird es uns oft, zu bekennen, wenn wir etwas Unrechtes getan oder gesprochen haben, vor unseren Brüdern einzugestehen, dass wir in diesem oder jenem Fall den Sinn verfehlt haben. Wir sind besorgt um unseren guten Ruf. Ist es nicht sonderbar, dass wir trotzdem oft betonen, dass wir schwache und irrende Geschöpfe sind und zu allem fähig, wenn wir uns selbst überlassen bleiben? Aber es ist etwas ganz anderes, ein allgemeines Bekenntnis abzulegen, als in einem bestimmten Fall anzuerkennen, dass man sich geirrt hat. Es gibt solche, die kaum einmal zugestehen, dass sie unrecht getan haben.
Nicht so Mose. Ungeachtet seiner erhabenen Stellung als der vertraute und geliebte Diener des Herrn, als der Führer der Gemeinde, dessen Stab einst alle Ägypter erzittern ließ, schämt er sich nicht, vor der Versammlung seiner Brüder zu stehen und seinen Irrtum zu bekennen, anzuerkennen, dass er Worte gesagt hatte, die er nicht hätte sagen dürfen, und dass er eine dringende Bitte vor den Herrn gebracht hatte, die ihm nicht gewährt worden war.
Schätzen wir deshalb Mose weniger? Im Gegenteil, unsere Achtung wächst. Es ist schön, sein Bekenntnis zu hören, zu sehen, wie er sich demütig unter die Regierungsabsichten Gottes beugt und wie selbstlos er dem Mann begegnet, der sein Nachfolger in dem hohen Amt werden sollte. Da findet sich keine Spur von Eifersucht und Neid, kein Ausbruch des beleidigten Stolzes. In Selbstverleugnung steigt Mose von seiner erhabenen Stellung herab, legt seinen Mantel um die Schultern seines Nachfolgers und ermuntert ihn, mit Treue die Pflichten dieses bedeutenden Amtes zu erfüllen. „Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“ (Lk 14,11). Wie wird die Wahrheit dieses Wortes in der Geschichte Moses so deutlich! Er demütigte sich unter die mächtige Hand Gottes und nahm die Zucht an, die ihm die göttliche Regierung auferlegte. Er äußerte auch nicht ein unzufriedenes Wort darüber, dass seine Bitte nicht erhört worden war. Er beugte sich unter alles, und darum wurde er auch zu seiner Zeit erhöht. Gott erlaubte ihm in seiner Regierung nicht, das Land zu betreten, aber in seiner Gnade führte Er ihn auf die Höhe des Pisga, von wo aus Er ihm erlaubte, das gute Land in all seiner Schönheit zu sehen.
Es ist gut, den Unterschied zwischen Gnade und Regierung wohl zu überdenken. Dieser Unterschied wird in der Heiligen Schrift oft erklärt, aber wenig verstanden. Es mag uns schwer verständlich erscheinen, wie Gott seinem treuen und geliebten Knecht den Zutritt in das Land verwehren konnte. Doch wir sehen hier den ganzen Ernst der göttlichen Regierung. Es geziemt uns, das Haupt zu beugen und anzubeten. Wie bereits erwähnt, konnte Mose nicht nur aufgrund seines Amtes, als Vertreter des gesetzlichen Systems, Israel nicht in das Land bringen, sondern auch weil er unvorsichtig mit seinen Lippen geredet hatte. Er und sein Bruder Aaron hatten Gott nicht verherrlicht vor der Versammlung; aus diesem Grund „sprach der Herr zu Mose und zu Aaron: Weil ihr mir nicht geglaubt habt, mich vor den Augen der Kinder Israel zu heiligen, darum sollt ihr diese Versammlung nicht in das Land bringen, das ich ihnen gegeben habe“ (4Mo 20,12). Und weiterhin lesen wir: „Und der Herr redete zu Mose und zu Aaron am Berg Hor, an der Grenze des Landes Edom, und sprach: Aaron soll zu seinen Völkern versammelt werden; denn er soll nicht in das Land kommen, das ich den Kindern Israel gegeben habe, weil ihr meinem Befehl widerspenstig gewesen seid beim Wasser von Meriba. Nimm Aaron und Eleasar, seinen Sohn, und lass sie auf den Berg Hor hinaufsteigen; und zieh Aaron seine Kleider aus und lege sie seinem Sohn Eleasar an; und Aaron soll versammelt werden und dort sterben“ (4Mo 20,23-26).
Das ist sehr ernst. Diesen beiden Männern der Gemeinde Israel, die Gott dazu gebraucht hatte, sein Volk mit mächtigen Zeichen und Wundern aus Ägypten zu führen, Männern, die von Gott hoch geehrt waren, wurde der Eintritt in das Land Kanaan verwehrt, „weil sie seinem Befehl widerspenstig gewesen waren“. Lasst uns diese Worte zu Herzen nehmen! Es ist etwas Schreckliches, widerspenstig zu sein gegen das Wort Gottes. Je höher die Stellung derjenigen ist, die sich dem Wort widersetzen, desto größer die Verantwortung und desto ernster und schneller erreicht sie das göttliche Gericht. „Denn wie Sünde der Wahrsagerei ist Widerspenstigkeit, und der Eigenwille wie Abgötterei und Götzendienst“ (1Sam 15,23). Diese ernsten Worte wurden an Saul gerichtet, als er dem Wort des Herrn nicht gehorchte. So werden ein Prophet, ein Priester und ein König als Beispiele dafür vorgestellt, dass Gott in seiner Regierung wegen eines einmaligen Ungehorsams züchtigt. Die beiden ersteren durften das Land Kanaan nicht betreten, und der König verlor seinen Thron.
Wir sollen gehorchen und alles Übrige den Händen unseres Herrn überlassen. Es ist nicht die Sache eines treuen Dieners, über die Früchte seines Gehorsams nachzusinnen. Er tut das, was ihm aufgetragen ist. Die Früchte überlässt er seinem Herrn. Hätten Mose und Aaron dies bedacht, so würden sie den Jordan überschritten haben, und hätte Saul gehorcht, so würde er seinen Thron nicht verloren haben.
Schwächen wir diesen wichtigen Grundsatz nicht oft dadurch ab, dass wir sagen, Gott wisse und sehe alles voraus, was sich ereignen und was der Mensch im Lauf der Zeit tun werde? Doch was hat das Vorauswissen Gottes mit der Verantwortung des Menschen zu tun? Ist der Mensch verantwortlich oder nicht? Ohne Zweifel! Er ist berufen, dem Wort Gottes zu gehorchen. Er ist nicht verantwortlich, über Gottes Vorsätze und geheimen Ratschlüsse etwas zu wissen. Die Verantwortung des Menschen erstreckt sich auf das, was offenbart ist, und nicht auf das Verborgene. Was wusste zum Beispiel Adam über die ewigen Ratschlüsse und Vorsätze Gottes, als er in den Garten gesetzt wurde und Gott ihm verbot, von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen? Wurde seine Übertretung durch die Tatsache gemildert, dass Gott gerade diese Übertretung dazu benutzen wollte, seinen wunderbaren Plan der Erlösung durch das Blut des Lammes zu entfalten? Sicher nicht. Adam empfing ein eindeutiges Gebot, das er beachten sollte, aber er war ungehorsam und wurde aus dem Paradies vertrieben.
Gott sei gepriesen! die Gnade ist in diese arme, sündige Welt gekommen und hält da eine Ernte, die auf den Feldern einer nicht gefallenen Schöpfung nie hätte gehalten werden können. Aber der Mensch wurde gerichtet wegen seiner Übertretung. Er wurde vertrieben durch die regierende Hand Gottes und gezwungen, im Schweiß seines Angesichts sein Brot zu essen. „Was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten“ (Gal 6,7).