Behandelter Abschnitt 5. Mose 1,38-44
Das Volk lehnt die Regierung Gottes ab
Aus den letzten Versen unseres Kapitels ersehen wir jedoch, dass das Volk keineswegs bereit war, sich der Regierung Gottes zu unterwerfen. Sie wollten weder Gnade noch Regierung anerkennen. Sie konnten der Gegenwart und Macht Gottes sicher sein, und doch zögerten sie und weigerten sich hinaufzuziehen. Vergeblich riefen ihnen Kaleb und Josua ermunternde Worte zu, vergeblich malten sie ihnen die reichen und guten Früchte des Landes vor Augen, umsonst suchte Mose sie zu bewegen. Sie wollten nicht hinaufziehen. Und was war die Folge? Es geschah ihnen nach ihrem Unglauben. „Und eure kleinen Kinder, von denen ihr sagtet: Sie werden zur Beute werden!, und eure Söhne, die heute weder Gutes noch Böses kennen, sie sollen hineinkommen, und ihnen werde ich es geben, und sie sollen es in Besitz nehmen. Ihr aber, wendet euch und brecht auf nach der Wüste, den Weg zum Schilfmeer!“ (V. 39.40).
Wie traurig! Doch wie konnte es anders sein? Wenn sie nicht im Glauben in das Land ziehen wollten, so blieb ihnen nichts anderes übrig, als in die Wüste zurückzukehren. Aber auch diesem Befehl wollten sie nicht gehorchen. Sie wollten weder den Segen der Gnade in Anspruch nehmen, noch sich unter die Anordnung Gottes stellen. „Da antwortetet ihr und spracht zu mir: Wir haben gegen den Herrn gesündigt; wir wollen hinaufziehen und kämpfen, nach allem, was der Herr, unser Gott, uns geboten hat. Und ihr gürtetet jeder sein Kriegsgerät um und zogt leichtfertig in das Gebirge hinauf“ (V. 41).
Dies sah aus wie Betrübnis und Selbstgericht, aber das war es nicht. Es ist sehr leicht zu sagen: „Wir haben gesündigt.“ Saul sagte dies auch, ohne dass er ein echtes Empfinden darüber hatte, was er sagte. Was seine Worte wert waren, geht aus der sogleich folgenden Bitte an Samuel hervor: „Nun ehre mich doch vor den Ältesten meines Volkes“ (1Sam 15,30). Welch ein Widerspruch! „Ich habe gesündigt“, doch „ehre mich“! Er würde anders gesprochen haben, wenn er seine Sünde empfunden hätte! Es war alles nur Schein, nur Heuchelei. Denken wir uns einen stolzen, von sich selbst erfüllten Mann, der ohne jedes Gefühl solche Worte ausspricht und dann, um Ehre für sich selbst zu suchen, in leerer Form Gott anbeten will! Welch eine Beleidigung Gottes, der seine Freude hat an „der Wahrheit im Innern“ (Ps 51,8) und der solche sucht, „die ihn in Geist und Wahrheit anbeten“ (Joh 4,23).
Der schwächste Seufzer eines zerschlagenen und zerknirschten Herzens ist wohlgefällig vor Gott; aber wie beleidigend sind für ihn die leeren Formen einer äußerlichen Religiosität, die nur den Menschen in seinen eigenen Augen und in den Augen seiner Mitmenschen erhebt! Wie wertlos ist ein bloßes Lippenbekenntnis, wobei das Herz nichts empfindet! Es ist nicht schwer zu sagen: „Ich habe gesündigt.“ Aber wie oft ist gerade solch ein eiliges Bekenntnis der Beweis, dass die Sünde nicht wirklich empfunden wird, sondern dass das Herz hart und ungebrochen ist!
Das Gewissen merkt, dass ein klares Sündenbekenntnis notwendig ist, aber es gibt kaum etwas, das einen Menschen mehr verhärtet, als die Gewohnheit, Sünde zu bekennen, ohne sie im Inneren zu empfinden. Ich glaube, dass das unaufhörliche Bekennen von Sünden, die Gewohnheit, eine bloße Bekenntnisformel vor Gott herzusagen, von jeher einer der gefährlichsten Fallstricke für die Christenheit gewesen ist. Leider gibt es auch unter den wahren Christen Formwesen genug. Ohne sich vorgegebener Formeln zu bedienen, bildet sich das Herz so gerne seine eigenen. Wir alle werden das mehr oder weniger erfahren haben.
So war es denn auch mit Israel bei Kades. Ihr Bekenntnis war wertlos, weil die Aufrichtigkeit mangelte. Hätten sie ein Empfinden darüber gehabt, was sie sagten, so hätten sie sich unter das Gericht Gottes gebeugt und demütig die Folgen ihrer Sünde auf sich genommen. Wirkliche Zerknirschung zeigt sich in demütiger Unterwerfung unter das Handeln Gottes in seinen Regierungswegen. Betrachten wir Mose. Er beugte sein Haupt unter die göttliche Zucht. „Auch gegen mich“, sagte er, „erzürnte der Herr euretwegen und sprach: Auch du sollst nicht hineinkommen! Josua, der Sohn Nuns, der vor dir steht, er soll hineinkommen; ihn stärke, denn er soll es Israel als Erbe austeilen“ (V. 37.38).
Obwohl Mose das Volk erinnert, dass es daran schuld war, dass er nicht in das Land kommen durfte, hören wir von ihm nicht ein einziges unzufriedenes Wort. Mose anerkennt Gottes Urteil. Nicht nur zufrieden damit, zurückgesetzt zu werden, ernennt und ermuntert er auch seinen Nachfolger, ohne jede Spur von Eifersucht und Neid. Es war genug für ihn, wenn Gott verherrlicht und das Volk gesegnet wurde. Es ging ihm nicht um sich und seine Interessen, sondern um die Verherrlichung Gottes.
Das Volk offenbarte eine völlig andere Gesinnung. „Wir wollen hinaufziehen und kämpfen“, sagten sie. Welch ein törichtes Vorhaben! Als Gott ihnen befohlen hatte, das Land in Besitz zu nehmen, fragten sie: „Wohin sollen wir hinaufziehen?“ Und als ihnen befohlen wurde, in die Wüste zurückzukehren, erwiderten sie: „Wir wollen hinaufziehen und kämpfen.“ „Und der Herr sprach zu mir: Sprich zu ihnen: Zieht nicht hinauf und kämpft nicht, denn ich bin nicht in eurer Mitte; dass ihr nicht von euren Feinden geschlagen werdet! Und ich redete zu euch, aber ihr hörtet nicht; und ihr wart widerspenstig gegen den Befehl des Herrn und handeltet vermessen und zogt in das Gebirge hinauf. Und die Amoriter, die auf jenem Gebirge wohnten, zogen aus, euch entgegen, und verfolgten euch, wie die Bienen tun, und zersprengten euch in Seir bis Horma“ (V. 42–44).
Der Herr konnte sie auf den Wegen des Eigenwillens und der Empörung nicht begleiten. Ohne die Gegenwart Gottes konnte sich Israel mit den Amoritern nicht messen. Wenn Gott mit und für uns ist, dann sind wir in allem Überwinder. Aber wir können nie auf Gott rechnen, wenn wir ungehorsam sind. Es ist Torheit zu glauben, Gott sei mit uns, wenn wir verkehrte Wege gehen. „Der Name desHerrn ist ein starker Turm; der Gerechte läuft dahin und ist in Sicherheit“ (Spr 18,10). Leben wiraber nicht in praktischer Gerechtigkeit, so ist es gottlos, zu sagen, dass wir Gott zu unserem starken Turm haben.
Praktische Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit des Herzens
Gott kann und will uns in unserer Schwachheit helfen, wenn nur ein aufrichtiges Bekenntnis unseres wirklichen Zustandes vorhanden ist. „Vertraue auf den Herrn und tu Gutes“ (Ps 37,3). Das ist die göttliche Ordnung. Aber von Vertrauen auf Gott reden, während wir Böses tun, heißt die Gnade unseres Gottes in Ausschweifung verkehren und liefert uns Satan aus, der uns zu verderben sucht. „Denn des Herrn Augen durchlaufen die ganze Erde, um sich mächtig zu erweisen an denen, deren Herz ungeteilt auf ihn gerichtet ist“ (2Chr 16,9). Wenn wir ein gutes Gewissen haben, so können wir getrost durch alle Schwierigkeiten hindurchgehen; aber mit einem schlechten Gewissen den Weg des Glaubens betreten zu wollen, ist ein vergebliches Beginnen. Wir können nur dann den Schild des Glaubens hochhalten, wenn unsere Lenden mit dem Gurt der Wahrheit umgürtet sind und die Brust mit dem Brustharnisch der Gerechtigkeit bedeckt ist (vgl. Eph 6,14-16).
Lasst uns der praktischen Gerechtigkeit nachstreben. „Darum bemühe ich mich auch, allezeit ein Gewissen ohne Anstoß zu haben vor Gott und den Menschen“ (Apg 24,16). Der Apostel Paulus suchte immer den Brustharnisch zu tragen und in die weiße Leinwand gekleidet zu sein, die die Gerechtigkeit der Heiligen ist. Auch wir wollen danach trachten, Tag für Tag gehorsam zu sein. Auf diesem Weg können wir mit Gewissheit auf das Wohlgefallen und die Hilfe Gottes rechnen, uns auf ihn stützen und in ihm alle unsere Quellen finden. Das gibt unseren Herzen Frieden und führt uns zur Anbetung Gottes auf dem Weg zur himmlischen Heimat.
Wir können aber auch in unserer Schwachheit und in unseren Fehlern, auch wenn wir gesündigt haben, zu Gott emporblicken. Sein Ohr ist immer offen für unser Rufen. „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit“ (1Joh 1,9). Die göttliche Vergebung ist unbegrenzt, wie das Versöhnungswerk. Christus, der Sohn Gottes, hat sein Blut vergossen, und Er ist auch unser Sachwalter, unser großer Hoherpriester, der „völlig zu erretten vermag, die durch ihn Gott nahen“ (Heb 7,25).
Das sind Wahrheiten, die in der Heiligen Schrift ausdrücklich gelehrt werden. Wir dürfen allerdings das Bekennen der Sünde und die darauf folgende Vergebung nicht mit der praktischen Gerechtigkeit vermengen. Es gibt zwei verschiedene Voraussetzungen, unter denen wir Gott anrufen können: Wir können ihn anrufen in tiefer Betrübnis oder mit einem guten Gewissen und einem Herzen, das uns nicht verurteilt. In beiden Fällen werden wir erhört. Diese beiden Voraussetzungen sind sehr verschieden voneinander. Sie stehen aber beide im Gegensatz zu einer Gleichgültigkeit und Härte des Herzens. Solche Gleichgültigkeit ist schrecklich in den Augen des Herrn und führt seine ernsten Gerichte herbei. Praktische Gerechtigkeit erkennt Gott an, und Sünde kann Er frei und völlig vergeben, wenn sie aufrichtig bekannt wird. Aber sich einzubilden, man setze sein Vertrauen auf Gott, während die Füße auf dem Weg der Ungerechtigkeit wandeln, ist Gottlosigkeit (vgl. Jer 7,4-10).
Gott wünscht „Wahrheit im Innern“ (Ps 51,8). Wenn die Menschen in ihrer Ungerechtigkeit auch noch behaupten, die Wahrheit zu besitzen, so müssen sie mit Gottes gerechtem Gericht rechnen. Die Schriftstelle aus dem Propheten Jeremia an die Männer von Juda und die Bewohner von Jerusalem kann auch auf die Christenheit angewendet werden. In 2. Timotheus 3 hören wir, dass all die Gräuel des Heidentums, wie sie am Ende von Römer 1 beschrieben werden, in den letzten Tagen unter dem Gewand eines christlichen Bekenntnisses und in Verbindung mit einer „Form der Gottseligkeit“ (2Tim 3,5) erscheinen. Dieser Zustand bewirkt den Zorn Gottes.
Die schwersten Gerichte werden das christliche Abendland treffen. Der Herr kommt bald, um sein geliebtes, durch sein Blut erkauftes Volk aus dieser finsteren und sündigen, obgleich „christlich“ genannten Welt wegzunehmen und es immer bei sich zu haben, in der Heimat der Liebe, die Er im Haus des Vaters bereitet hat. Dann sendet Gott eine „wirksame Kraft des Irrwahns“ (2Thes 2,11) über die ganze Christenheit, über die Länder, in denen das Evangelium verbreitet worden ist.
Und was dann? Was folgt auf diese „wirksame Kraft des Irrwahns“? Irgendein neues Zeugnis der langmütigen Gnade Gottes? Aber nicht an die Christenheit, die die Gnade Gottes verworfen hat. Die Heiden werden das „ewige Evangelium“ hören und „das Evangelium des Reiches“, aber für die abgefallene Christenheit, „den Weinstock der Erde“, bleibt nichts anderes übrig als die Kelter des Zorns des Allmächtigen, nichts als die ewige Finsternis und der See, der mit Feuer und Schwefel brennt!