Behandelter Abschnitt 5. Mose 1,9-18
Die Erwählung der Richter
Im weiteren Verlauf dieses Kapitels berichtet Mose die Dinge, die mit der Erwählung der siebzig Richter und der Sendung der Kundschafter in Verbindung standen. Die Erwählung der Richter schreibt Mose seiner eigenen Anregung, die Aussendung der Kundschafter der des Volkes zu. Der würdige Knecht Gottes fühlte, dass die Last der Versammlung zu schwer für ihn war, und sie war es sicherlich. Doch wir wissen, dass die Gnade Gottes für alle Bedürfnisse vollkommen ausgereicht hätte, und dass sie durch einen Mann ebenso viel ausrichten konnte wie durch siebzig.
Wir können die Schwierigkeiten verstehen, die der sanftmütigste unter allen Menschen auf dem Erdboden (4Mo 12,3) wegen der Verantwortung eines derartig schwierigen Amtes gefühlt hat. Die Art und Weise, wie er diese Schwierigkeiten beschreibt, ist ergreifend. „Und ich sprach in jener Zeit zu euch und sagte: Ich allein kann euch nicht tragen“ – gewiss nicht; welcher Mensch hätte das gekonnt! Aber Gott war da, der immer bereit war, zu helfen. „Der Herr, euer Gott, hat euch zahlreich werden lassen, und siehe, ihr seid heute wie die Sterne des Himmels an Menge. Der Herr, der Gott eurer Väter, füge zu euch, so viele ihr seid, tausendmal hinzu und segne euch, wie er zu euch geredet hat!“ – Eine schöne Einfügung. „Wie könnte ich allein eure Bürde und eure Last und euren Hader tragen?“ (V. 9–12).
Der Hader war die Ursache, weshalb die Bürde und die Last so groß waren. Das Volk war sich nicht einig. Es gab Streitfragen und Zwistigkeiten in ihrer Mitte; und wer war diesen Dingen gewachsen? Wie ganz anders hätte es sein können, wenn sie in Frieden miteinander gezogen wären. Hätte jeder Einzelne das Wohlergehen des anderen gesucht, so wäre kein Streit entstanden. Es hätte keine Last, keine Bürde und keinen Hader gegeben.
Ist es nicht noch viel demütigender, dass es in der Versammlung Gottes genauso aussieht, obwohl unsere Vorrechte viel größer sind? Kaum war die Versammlung durch das Herniederkommen des Heiligen Geistes gebildet, da wurden schon Stimmen des Murrens und der Unzufriedenheit laut. Und worüber? Über eine „Vernachlässigung“ (vgl. Apg 6,1-6). Mochte sie nun wirklich so sein oder auch nur den Anschein haben, jedenfalls wirkte das Ich dabei mit. Entweder mussten die Hellenisten oder die Hebräer getadelt werden. In der Regel gibt es in solchen Fällen Fehler auf beiden Seiten. Der einzige Weg, Streit, Zwist und alle Unzufriedenheit zu vermeiden, ist, sich selbst zu verleugnen und ernstlich das Beste des anderen zu suchen.
Hätten sich die Christen von Anfang an so verhalten, dann hätten sich die christlichen Geschichtsschreiber mit erquicklicheren Themen beschäftigen können. Doch sehen wir, dass die Geschichte der bekennenden Christenheit von Anfang an durch Spaltungen gekennzeichnet ist. Selbst in der Gegenwart des Herrn, dessen ganzes Leben eine einzigartige Selbsterniedrigung war, stritten sich die Jünger darüber, wer der Größte unter ihnen sei. Ein solcher Streit wäre nie entstanden, wenn jeder darauf bedacht gewesen wäre, sich selbst zu vergessen und das Teil des anderen zu suchen. Wer etwas von dem sittlichen Wert der Selbsterniedrigung kennt, wird niemals für sich das Beste oder einen bevorzugten Platz beanspruchen. Wer wirklich demütig ist, hat genug an der Nähe Christi, so dass Ehren, Auszeichnungen und Belohnungen wenig oder gar keinen Wert für ihn haben. Wo aber das eigene Ich wirkt, da werden sich immer Neid und Streit, Verwirrung und jede böse Tat finden.
Jedes Blatt der Geschichte der Versammlung beweist die Behauptung, dass das Ich mit seinen bösen Wirkungen von jeher die Ursache des Streites und aller Spaltung gewesen ist. Von den Tagen der Apostel bis heute ist das ungerichtete Ich stets die Quelle all dieser traurigen Erscheinungen gewesen. „Wie könnte ich allein eure Bürde und eure Last und euren Hader tragen? Nehmt euch weise und verständige und bekannte Männer, nach euren Stämmen, damit ich sie zu Häuptern über euch setze. Und ihr antwortetet mir und spracht: Gut ist die Sache, die du zu tun gesagt hast. Und ich nahm die Häupter eurer Stämme, weise und bekannte Männer“ – von Gott befähigte Männer, die das Vertrauen des Volkes besaßen – „und setzte sie als Häupter über euch, als Oberste über Tausend und Oberste über Hundert und Oberste über Fünfzig und Oberste über Zehn, und als Vorsteher für eure Stämme“ (V. 12–15).
Wirklich eine erstaunliche Anordnung! Sofern sie wirklich nötig war, gab es keine bessere Ordnung als diese Abstufung der Autorität, angefangen mit dem Obersten über Zehn bis hinauf zu dem Obersten über Tausend und schließlich Mose selbst als Haupt über alle in unmittelbarer Verbindung mit dem Herrn, dem Gott Israels.
Wir finden hier keine Andeutung, dass die Wahl dieser Richter auf den Rat Jethros, des Schwiegervaters Moses, erfolgte (2Mo 18). Wir hören auch nichts von dem, was uns in 4. Mose 11 mitgeteilt wird. Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass das fünfte Buch Mose keine Wiederholung der vorausgehenden Teile des Pentateuch ist. Es war die Absicht des Knechtes Gottes, oder besser gesagt, des in ihm wirkenden Heiligen Geistes, im Volk Gehorsam zu bewirken. Das ist der Gegenstand dieses Buches.
Wenn wir das fünfte Buch Mose verstehen wollen, ist es gut, daran zu denken. Ungläubige und Zweifler mögen behaupten, es gebe Widersprüche in den verschiedenen Erzählungen, wie sie uns in den einzelnen Büchern mitgeteilt werden. Solche Überlegungen kommen von dem Vater der Lüge, dem Feind der Offenbarung Gottes. Den Ungläubigen Beweise zu liefern, ist nutzlos, weil sie gar nicht imstande sind, das zu verstehen. Ihr Urteil über die Inspiration des Wortes ist deshalb völlig wertlos.
Das Wort Gottes steht hoch erhaben über ihnen. Es ist so vollkommen wie Gott selbst und so unerschütterlich wie sein Thron; doch seine Schönheit, seine Tiefe und Vollkommenheit sind nur für den Glauben sichtbar. „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Verständigen verborgen hast und es Unmündigen offenbart hast. Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir“ (Mt 11,25.26). „Und ich gebot euren Richtern in jener Zeit und sprach: Hört die Streitsachen zwischen euren Brüdern und richtet in Gerechtigkeit zwischen einem Mann und seinem Bruder und dem Fremden bei ihm. Ihr sollt im Gericht nicht die Person ansehen; den Kleinen wie den Großen sollt ihr hören; ihr sollt euch vor niemand fürchten, denn das Gericht ist Gottes. Die Sache aber, die zu schwierig für euch ist, sollt ihr vor mich bringen, damit ich sie höre“ (V. 16.17).
Welch eine unparteiische Gerechtigkeit! In jedem einzelnen Streitfall sollten auf beiden Seiten alle Tatsachen geduldig angehört und bedacht werden. Vorurteile oder persönliche Gefühle durften den Richter nicht beeinflussen. Ein Urteil sollte nicht auf bloße Eindrücke hin, sondern nur aufgrund unleugbarer Tatsachen gefällt werden. Jede Sache musste so entschieden werden, wie sie es verdiente, ohne Rücksicht auf Stellung oder persönlichen Einfluss der einen oder anderen streitenden Partei. „Den Kleinen wie den Großen sollt ihr hören.“ Der Arme hatte dasselbe Recht wie der Reiche, der Fremde wie der im Land Geborene. Es durfte kein Unterschied gemacht werden.
Welche Belehrung ist darin für uns enthalten! Wir sind nicht alle zu Richtern, Ältesten und Führern berufen; aber auch uns begegnen täglich Situationen, auf die wir diese Grundsätze anwenden können. Unser Urteil muss immer auf Tatsachen beruhen, und zwar auf allen Tatsachen von beiden Seiten. Wir dürfen uns nicht von Eindrücken leiten lassen, die uns täuschen können. Wir bekommen sehr schnell einen falschen Eindruck. Ein Urteil, das nur auf Eindrücken beruht, ist wertlos. Wir dürfen uns nur auf klar erwiesene Tatsachen stützen, die durch zweier oder dreier Zeugen Mund festgestellt sind. Das schärft uns das Wort Gottes wiederholt ein (vgl. 5Mo 17,6; 2Kor 13,1; 1Tim 5,19).
Ebenso wenig sollten wir uns in unserem Urteil durch eine parteiische Darstellung der Tatsachen beeinflussen lassen. Jeder steht in Gefahr, seiner Darstellung, wenn auch in der besten Absicht, eine gewisse Färbung zu geben. Vielleicht lässt man bewusst oder unbewusst eine Tatsache aus, und gerade sie kann unter Umständen alle übrigen Tatsachen in ein ganz anderes Licht stellen. „Audiatur et altera pars“ („man höre auch den anderen Teil“) ist ein alter, stets beachtenswerter Grundsatz. Ja, um wirklich ein richtiges Urteil bilden zu können, müssen wir die Tatsachen auf beiden Seiten hören. Deshalb heißt es: „Höret die Streitsachen zwischen euren Brüdern und richtet in Gerechtigkeit zwischen einem Mann und seinem Bruder und dem Fremden bei ihm.“
Wie wichtig ist die Warnung im 17. Vers: „Ihr sollt im Gericht nicht die Person ansehen; den Kleinen wie den Großen sollt ihr hören; ihr sollt euch vor niemand fürchten.“ Wir sind sehr geneigt, die Person anzusehen, uns von persönlichen Einflüssen leiten lassen, Wert zu legen auf Stellung und Reichtum und uns vor Menschen zu fürchten.
Was ist das Heilmittel gegen alle diese Übel? Es ist die Furcht Gottes. Wenn wir allezeit auf den Herrn sehen, werden wir frei von parteiischem Denken, von Vorurteilen und Menschenfurcht. Wir werden in allem, was uns begegnen mag, geduldig auf die Weisungen des Herrn warten und so davor bewahrt bleiben, uns ein übereiltes und einseitiges Urteil über Personen und menschliche Beziehungen zu bilden. Wie viel Unheil ist schon durch vorschnelles und liebloses Urteilen unter dem Volk Gottes angerichtet worden!
Wir wollen nun betrachten, wie Mose die Gemeinde an die Sendung der Kundschafter erinnert: „Und ich gebot euch in jener Zeit alle die Sachen, die ihr tun solltet“ (V. 18). Der Weg lag klar vor ihnen. Sie brauchten ihn nur gehorsam zu gehen. Sie brauchten nicht über die Folgen zu grübeln und sich Gedanken zu machen über das Ende des Weges. Alles das konnten sie Gott überlassen und mit festem Vorsatz vorangehen.