BehandelterAbschnitt 4. Mose 22,22-41
Wird Bileam Israel verfluchen können?
Sehen wir uns jetzt die wunderbaren Weissagungen an, die Bileam in der Gegenwart Balaks, des Moabiterkönigs, aussprach. Es ist sehr interessant, Zeuge der Szene auf den Höhen Baals zu sein, über die großen Fragen nachzudenken, um die es sich handelt, den Sprechenden zuhören und hinter die Szene sehen zu dürfen. Wie wenig ahnte Israel von dem, was zwischen dem Herrn und dem Feind vorging! Vielleicht murrten sie in ihren Zelten in demselben Augenblick, als Gott durch den Mund des geldgierigen Propheten ihre Vollkommenheit verkünden ließ. Balak wollte Israel verflucht sehen, aber Gott wird nicht zulassen, dass irgendjemand sein Volk verflucht. Er mag sich selbst mit viel Bösem an ihnen zu beschäftigen haben; aber Er wird nie erlauben, dass ein anderer gegen sie spricht. Er mag sie vor ihren eigenen Augen bloßstellen müssen, aber Er wird nie gestatten, dass ein Fremder sie tadelt.
Das ist ein außerordentlich wichtiger Punkt. Es geht nicht so sehr darum, was der Feind von dem Volk Gottes denken mag, was dieses Volk von sich selbst denkt oder was sie voneinander denken; die wichtige Frage ist vielmehr: Was denkt Gott von seinem Volk? Er weiß alles, was seine Kinder betrifft, alles, was sie sind, was sie getan haben, was in ihnen ist. Nichts ist vor seinem durchdringenden Auge verborgen. Die tiefsten Geheimnisse des Herzens, der Natur und des Lebens sind ihm bekannt. Weder Engel noch Menschen noch Teufel kennen uns so genau, wie Gott uns kennt. Gott kennt uns völlig, und mit ihm haben wir es zu tun. Wir können mit dem Apostel triumphierend sagen: „Wenn Gott für uns ist, wer gegen uns?“ (Röm 8,31).
Unterschied zwischen Stellung und praktischem Zustand
Gott sieht uns, denkt an uns, spricht über uns, handelt für uns entsprechend dem, was Er selbst aus uns gemacht und was Er für uns gewirkt hat, der Vollkommenheit seines eigenen Werkes entsprechend. Andere mögen viele Fehler finden; Gott aber sieht uns, was unsere Stellung betrifft, nur in der Schönheit Christi. Wir sind in ihm vollkommen. Wenn Gott sein Werk betrachtet, so sieht Er in ihm sein eigenes Werk. Zur Ehre seines heiligen Namens und zum Lob seines Heils ist kein Flecken zu sehen an denen, die sein sind und die Er in seiner unumschränkten Gnade zu seinem Eigentum gemacht hat. Sein Wesen, sein Name, seine Herrlichkeit und die Vollkommenheit seines Werkes bestimmen die Stellung derer, mit denen Er sich selbst verbunden hat.
Sobald ein Feind oder Ankläger aufsteht, tritt deshalb der Herr selbst ihm entgegen, um die Anklage entgegenzunehmen und zu beantworten. Seine Antwort beruht nicht auf dem, was sein Volk in sich selbst ist, sondern immer auf dem, was Gott durch die Vollkommenheit seines Werkes aus ihm gemacht hat. Seine Herrlichkeit ist mit seinen Kindern verbunden, und indem Er sein Volk verteidigt, hält Er seine eigene Herrlichkeit aufrecht. Er selbst stellt sich zwischen die Seinen und jeden Ankläger. Seine Herrlichkeit verlangt, dass sie in der ganzen Schönheit, die Er ihnen gegeben hat, dargestellt werden. Wenn der Feind auftritt, um zu verfluchen und anzuklagen, so antwortet der Herr ihm damit, dass Er seinem ewigen Wohlgefallen an denen Ausdruck gibt, die Er für sich auserwählt und die Er fähig gemacht hat, für immer in seiner Gegenwart zu sein.
Ein herrliches Beispiel von dieser Handlungsweise Gottes finden wir im 3. Kapitel des Propheten Sacharja. Dort erscheint der Feind auch, um dem Stellvertreter des Volkes Gottes zu widerstehen. Wie antwortet Gott? Einfach dadurch, dass Er denjenigen, den Satan gern verwünschen und anklagen möchte, reinigt, bekleidet und krönt, so dass Satan kein Wort mehr zu sagen hat und für immer zum Schweigen gebracht ist. Die schmutzigen Kleider sind verschwunden, und aus dem wie ein Brand aus dem Feuer Gerissenen ist ein mit dem Kopfbund geschmückter Priester geworden. Er, dem nur die Flammen der Hölle zukamen, ist jetzt fähig, in den Höfen des Herrn zu sein.
Wir finden in dem Hohenlied genau dasselbe. Dort spricht der Bräutigam im Blick auf seine Braut: „Ganz schön bist du, meine Freundin, und kein Makel ist an dir“ (Kap. 4,7). Sie selbst aber kann, wenn sie von sich redet, nur ausrufen: „Ich bin schwarz“ (Kap. 1,5.6). Ebenso sagt der Herr Jesus in Johannes 13,10, seine Jünger seien „ganz rein“, obwohl einer von ihnen wenige Stunden später ihn verleugnete und schwor, ihn nicht zu kennen. So unermesslich groß also ist der Unterschied zwischen dem, was wir in uns selbst, und dem, was wir in Christus sind, zwischen unserer Stellung und dem Zustand, in dem wir sein können.
Sollte diese herrliche Tatsache, dass wir unserer Stellung nach vollkommen sind, uns im Hinblick auf unseren praktischen Zustand sorglos machen? Fern sei ein solch ungeheuerlicher Gedanke! Nein, gerade aus der Erkenntnis unserer ewig sicheren und vollkommenen Stellung in Christus macht der Heilige Geist den Maßstab für unser praktisches Leben. Hören wir, was der Apostel sagt: „Wenn ihr nun mit dem Christus auferweckt worden seid, so sucht, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnt auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist; denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott. Wenn der Christus, unser Leben, offenbart werden wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbart werden in Herrlichkeit. Tötet nun eure Glieder, die auf der Erde sind usw.“ (Kol 3,1-5). Wir dürfen unsere Stellung nie an unserem Zustand messen; wir müssen unseren Zustand immer nach unserer Stellung beurteilen. Die Stellung um des Zustandes willen herabzusetzen würde bedeuten, jeden Fortschritt im praktischen Christentum im Leben eines Christen unmöglich zu machen.
Die soeben gezeigten Tatsachen treten in den vier „Sprüchen“ Bileams sehr schön und klar ans Licht. Menschlich gesprochen hätten wir Israel nie so herrlich gesehen, wie es in dem „Gesicht des Allmächtigen“ (24,4) vom Gipfel der Felsen aus und von dem „Mann geöffneten Auges“ (24,15) dargestellt ist, wenn nicht Balak versucht hätte, das Volk zu verfluchen. Der Herr kann einem
Menschen die Stellung seines Volkes und sein Urteil über die Kinder Gottes sehr schnell klar machen. Er nimmt das Vorrecht für sich in Anspruch, seine Gedanken über sein Volk darzulegen. Balak und Bileam mögen sich mit „allen Fürsten Moabs“ (22,8) versammeln, um zu hören, dass Israel verflucht wird. Sie mögen „sieben Altäre bauen“ und „auf jedem Altar einen Stier und einen Widder opfern“ (23,1). Balaks Silber und Gold mag vor den gierigen Blicken des falschen Propheten blinken. Doch die Anstrengungen der Erde und der Hölle, der Menschen und der Teufel zusammen können gegen das Israel Gottes nicht den leisesten Fluch und nicht die geringste Anklage hervorbringen. Der Feind hätte ebenso gut einen Mangel in der Schöpfung, die Gott „sehr gut“ genannt hatte, suchen können. Die Erlösten des Herrn strahlen in der Schönheit, die Er ihnen gegeben hat. Um sie so zu sehen, brauchen wir nur „auf den Gipfel der Felsen“ (23,9) zu steigen und „geöffnete Augen“ zu haben, so dass wir sie von dem Standpunkt Gottes aus, in „dem Gesicht des Allmächtigen“, betrachten können.
Nach diesem kurzen Überblick über den Inhalt dieser bemerkenswerten Kapitel wollen wir uns jetzt mit den vier Sprüchen im Einzelnen beschäftigen. Wir werden in jedem etwas Besonderes finden, einen bestimmten Zug in dem Charakter und in dem Zustand des Volkes, wie es in „dem Gesicht des Allmächtigen“ gesehen wird.