Behandelter Abschnitt 4. Mose 17,9-11
Ein Zeugnis der Gnade Gottes
„Und Mose brachte alle die Stäbe heraus vor dem Herrn weg zu allen Kindern Israels, und sie sahen sie und nahmen jeder seinen Stab. Und der Herr sprach zu Mose: Bring den Stab Aarons vor das Zeugnis zurück, um ihn als ein Zeichen für die Widerspenstigen aufzubewahren, so dass du ihrem Murren vor mir ein Ende machst, und sie nicht sterben. Und Mose tat es; so wie der Herr ihm geboten hatte, so tat er“ (V. 9–11).
So war denn die Frage von Gott gelöst. Das Priestertum gründet sich auf die Gnade, die aus dem Tod Leben bringt. Es wäre nutzlos gewesen, einen der elf dürren Stäbe zum Kennzeichen des priesterlichen Amtes machen zu wollen. Alle menschliche Macht unter der Sonne konnte einem dürren Stab weder Leben geben noch ihn in einen Segenskanal für die Seelen verwandeln. Ebenso brachten die elf Stäbe zusammengenommen keine einzige Knospe oder Blüte hervor. Aber da, wo Beweise einer belebenden Kraft, Spuren göttlichen Lebens und Segens, wo Früchte wirksamer Gnade vorhanden waren, da allein war die Quelle des priesterlichen Dienstes zu finden, der ein nicht nur bedürftiges, sondern auch murrendes und widerspenstiges Volk durch die Wüste zu führen vermochte.
Doch warum war der Stab Moses nicht unter den zwölf Stäben? Der Grund hierfür ist sehr einfach. Der Stab Moses war der Ausdruck der Macht und der Autorität, derjenige Aarons dagegen der liebliche Ausdruck einer Gnade, die das Tote lebendig macht und das Nichtsseiende ruft, wie wenn es da wäre. Bloße Macht oder bloße Autorität konnten die Gemeinde nicht durch die Wüste führen. Die Macht konnte den Aufrührer vernichten, die Autorität den Sünder schlagen; aber nur Gnade und Barmherzigkeit konnten einer Versammlung von bedürftigen, hilflosen, sündigen Männern, Frauen und Kindern helfen. Die Gnade, die aus einem dürren Stab Mandeln hervorbringen konnte, konnte auch Israel durch die Wüste führen. Nur in Verbindung mit dem sprossenden Stab Aarons konnte der Herr sagen: „. . . so dass du ihrem Murren vor mir ein Ende machst, und sie nicht sterben.“ Der Stab der Gewalt konnte die Murrenden wegraffen, der Stab der Gnade aber konnte das Murren beenden.
Es wird nützlich sein, kurz auf eine Stelle im Anfang von Hebräer 9 einzugehen, die mit dem vorliegenden Thema in Verbindung steht. Es wird dort von der Bundeslade gesagt: „In der der goldene Krug war, der das Manna enthielt und der Stab Aarons, der gesprosst hatte, und die Tafeln des Bundes“ (V. 4). Der Stab und das Manna entsprangen der Vorsorge der göttlichen Gnade für die Wanderung und die Bedürfnisse Israels in der Wüste. In 1. Könige 8,9 jedoch lesen wir: „Nichts war in der Lade als nur die beiden steinernen Tafeln, die Mose am Horeb hineinlegte, als der Herr einen Bund mit den Kindern Israel schloss, als sie aus dem Land Ägypten zogen.“ Die Wanderungen in der Wüste waren vorbei; die Herrlichkeit der Tage Salomos verbreitete ihren Glanz über das Land. Daher hören wir nichts von dem sprossenden Stab und von dem Mannakrug. Nur das Gesetz Gottes blieb, das die Grundlage seiner gerechten Regierung in der Mitte seines Volkes bildete.
Wir finden hierin nicht nur ein Beispiel für die göttliche Genauigkeit der Schrift als Ganzes, sondern auch einen Hinweis auf den besonderen Charakter und Zweck des vierten Buches Mose. Aarons Stab befand sich während der Wüstenwanderung Israels in der Lade. Wunderbare Tatsache! Möchten wir ihre tiefe und segensreiche Bedeutung verstehen! Möchten wir den Unterschied zwischen dem Stab Moses und dem Aarons begreifen! Wir haben gesehen, wie jener die ihm eigentümlichen Aufgaben zu anderen Zeiten und bei anderen Gelegenheiten tat. Wir haben gesehen, wie das Land Ägypten unter seinen schweren Schlägen zitterte. Plage auf Plage fiel auf das Land, wenn Mose diesen Stab ausstreckte. Wir haben gesehen, wie unter ihm die Wasser des Meeres sich teilten. Es war also ein Stab der Macht und der Gewalt. Er konnte das Murren der Kinder Israel nicht zum Schweigen bringen und das Volk nicht durch die Wüste führen. Das konnte allein die Gnade. Und den Ausdruck der reinen, freien, unumschränkten Gnade finden wir in dem sprossenden Stab Aarons.
Der dürre, tote Stab Aarons war ein treffendes Bild des natürlichen Zustandes von Israel und von uns. Da war kein Leben, keine Kraft. Man hätte wohl fragen können: „Was für Gutes kann je aus ihm hervorkommen?“ In der Tat, gar nichts – wenn nicht die Gnade ins Mittel getreten wäre und ihre belebende Kraft entfaltet hätte. Wie hätte Israel von Tag zu Tag geleitet werden können? Wie sollten sie in all ihrer Schwachheit und Not unterstützt und in all ihrer Sünde und Torheit ertragen werden? Die Antwort findet sich allein in dem sprossenden Stab Aarons. So wie der dürre, tote Stab das Bild von dem natürlichen Zustand Israels war, so stellten die Knospen, Blüten und Früchte die lebendige und lebengebende Gnade und Macht Gottes dar, auf die der priesterliche Dienst gegründet war, der allein die Gemeinde durch die Wüste leiten konnte.
Das Priestertum und der Dienst
Und so wie es damals mit dem Priestertum war, so ist es heute mit dem Dienst. Jeder Dienst in der Versammlung Gottes ist eine Frucht göttlicher Gnade, ist die Gabe Christi, des Hauptes, der Versammlung. Eine andere Quelle des Dienstes gibt es nicht. So schreibt Paulus den Galatern: „Apostel, nicht von Menschen noch durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott, den Vater, der ihn aus den Toten auferweckt hat“ (Gal 1,1). Der Mensch kann dürre Stäbe nehmen und sie nach seinem Willen formen und bearbeiten. Er kann sie weihen, einsetzen und ihnen hochklingende Titel beilegen. Doch wozu nützt es?
Sie sind und bleiben dürre, tote Stäbe. Eine einzige Knospe genügt, um zu beweisen, dass etwas Göttliches da ist. Aber wenn sie fehlt, so fehlt eben jede Voraussetzung zu einem lebendigen Dienst in der Versammlung Gottes. Die Gabe Christi allein ist es, die jemanden zu seinem Diener macht. Ohne diese ist es Anmaßung, sich als Diener einzusetzen oder von anderen einsetzen zu lassen. Anders ausgedrückt: Jeder wahre Dienst ist von Gott und nicht von Menschen, durch Gott und nicht durch Menschen. Das Neue Testament kennt keinen von Menschen verordneten Dienst. Alles ist von Gott.
Damit kein Missverständnis entsteht, sei betont, dass hier von den Gaben zum Dienst der Versammlung Gottes die Rede ist, nicht von einem Amt oder einem übertragenen Dienst in einer örtlichen Versammlung, d. h. nicht von dem Amt der Ältesten oder dem Dienst der Diakonen. Diese wurden von den Aposteln und ihren Abgesandten eingesetzt und konnten zugleich eine besondere Gabe besitzen und ausüben. Aber weder der Apostel Paulus noch ein von ihm Beauftragter setzte sie ein, damit sie diese Gabe ausübten, sondern nur, damit sie ihren örtlichen Pflichten entsprachen. Jede geistliche Gabe kam von dem Haupt der Versammlung und war von einem örtlichen Amt ganz und gar unabhängig.
Es ist gut, über den Unterschied zwischen einer geistlichen Gabe und einem örtlichen Amt Klarheit zu haben. Im Allgemeinen herrscht große Verwirrung über diese beiden Dinge, und die Folge davon ist, dass der Dienst gar nicht verstanden wird und die Glieder des Leibes Christi ihren Platz und ihre Aufgaben nicht kennen. Erwählung durch Menschen oder durch menschliche Autorität in der einen oder anderen Form wird für die Ausübung des Dienstes als wesentlich betrachtet. Aber nirgends im Neuen Testament findet sich eine Zeile, in der menschliche Berufung, menschliche Einsetzung, menschliche Autorität irgendetwas mit der Ausübung des Dienstes zu tun haben.10
Nein, Gott sei Dank, der Dienst in seiner Versammlung ist „nicht von Menschen noch durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott, den Vater, der ihn aus den Toten auferweckt hat“ (Gal 1,1). „Nun aber hat Gott die Glieder gesetzt, jedes einzelne von ihnen an dem Leib, wie es ihm gefallen hat“ (1Kor 12,18).
In Epheser 4,7-13 werden alle Gaben zum Dienst von den Aposteln bis zu den Evangelisten und Lehrern auf denselben Boden gestellt. Sie werden alle von dem Haupt der Versammlung gegeben und machen den Besitzer verantwortlich – sowohl dem Haupt im Himmel als auch den Gliedern auf der Erde gegenüber. Die Behauptung, dass ein Mensch, der von Gott eine bestimmte Gabe empfangen hat, auf die Einsetzung durch eine menschliche Autorität zu warten habe, ist ebenso verkehrt, als wenn Aaron mit seinem sprossenden Stab in der Hand hingegangen wäre, um sich von irgendeinem seinesgleichen ins Priesteramt einsetzen zu lassen. Aaron war von Gott berufen, und das war ihm genug. Und so sind jetzt alle, die eine göttliche Gabe besitzen, von Gott zum Dienst berufen, und sie haben nichts anderes nötig, als ihren Dienst zu tun und ihre Gabe auszuüben.
So viel über den Dienst und das Priestertum. Die Quelle von beidem ist Gott. Die wahre Grundlage für beide wird uns in dem sprossenden Stab dargestellt. Aaron konnte sagen: „Gott hat mir das Priestertum gegeben“, und wenn man Beweise von ihm verlangte, so konnte er auf den Stab mit den Früchten hinweisen. Paulus konnte sagen: „Gott hat mich in den Dienst eingesetzt“ (Gal 1,1), und zum Beweis konnte er auf Tausende von lebendigen Siegeln seines Werkes hinweisen. So muss es grundsätzlich immer sein, ganz gleich, ob es sich dabei um kleine oder große Dinge dreht. Der Dienst darf nicht nur in Worten, er muss in Tat und Wahrheit bestehen. Gott wird nicht die Worte anerkennen, sondern die Kraft.
Bevor wir dieses Thema verlassen, sei noch einmal die Wichtigkeit des Unterschieds zwischen Dienst und Priestertum betont. Die Sünde Korahs bestand darin, dass er, nicht zufrieden damit, ein Diener zu sein, danach trachtete, ein Priester zu werden. Die Sünde der Christenheit trägt den gleichen Charakter. Anstatt den Dienst in der Versammlung Gottes auf der ihm im Neuen Testament angewiesenen Grundlage zu lassen, hat man ein Priestertum daraus gemacht, eine Art priesterlicher Kaste, deren Glieder sich von ihren Brüdern durch besondere Kleider, Titel und Rechte auszeichnen. Nach den klaren Belehrungen des Neuen Testaments aber sind alle Gläubigen Priester.
In 1. Petrus 2,5 lesen wir: „Ihr selbst werdet als lebendige Steine aufgebaut . . . zu einer heiligen Priesterschaft, um darzubringen geistliche Schlachtopfer . . . “, und in V. 9: „Ihr [nicht allein die Apostel sondern alle Gläubigen] seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft.“ So auch in Offenbarung 1,5.6: „Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem Blut und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater“ (vgl. auch Heb 10,19-22; 13,15.16).
Was für einen Eindruck muss es auf jüdische Gläubige, die mit den Einrichtungen der mosaischen Haushaltung aufgewachsen waren, gemacht haben, wenn sie im Hebräerbrief aufgefordert wurden, in das Allerheiligste einzutreten, wo selbst der höchste Würdenträger in Israel nur einmal im Jahr und nur für wenige Augenblicke sein durfte; wenn sie ferner berufen wurden, Opfer darzubringen und die besonderen Aufgaben des Priestertums zu versehen! Aber das, und nichts anderes sehen wir, wenn wir uns durch die Schrift und nicht durch Gebote, Lehrsätze und Überlieferungen der Menschen belehren lassen. Nicht alle Christen sind Apostel, Propheten, Lehrer, Hirten oder Evangelisten; aber alle sind Priester. Das schwächste Glied der Versammlung ist ebenso ein Priester, wie Petrus, Paulus, Jakobus oder Johannes es waren. Wir reden jetzt nicht von Fähigkeiten oder von geistlicher Kraft, sondern von der Stellung, die alle kraft des Blutes Christi einnehmen.
10 Selbst die Anstellung der Diakonen (Apg 6,3) war mehr eine apostolische Handlung als ein Akt der Versammlung. Wir lesen dort: „Seht euch nun um, Brüder, nach sieben Männern von euch, von gutem Zeugnis, voll Heiligen Geistes und Weisheit, die wir über diese Aufgabe bestellen wollen“. Es war Sache der Brüder, die Männer auszuwählen, weil es ihr Geld war, um das es sich handelte. Aber die Anstellung war von Gott. Und sie bezog sich, vergessen wir es nicht, nur auf die Aufgaben der Diakone, die die zeitlichen Angelegenheiten der Versammlung zu besorgen hatten. Aber das Werk eines Evangelisten, Hirten und Lehrers war und ist völlig unabhängig von menschlicher Wahl und Autorität und gründet sich allein auf die Gabe Christi (Eph 4,11)↩︎