Behandelter Abschnitt 4. Mose 14,20-35
Gnade und Regierung
Beachten wir diese beiden Worte sorgfältig: „Ich habe vergeben“, und: „soll die ganze Erde von der Herrlichkeit des Herrn erfüllt werden.“ Die Vergebung ist zugesichert, und die Herrlichkeit wird noch über die ganze Erde ihren Glanz verbreiten. Keine Macht der Erde oder der Hölle kann je die göttliche Unangreifbarkeit dieser beiden kostbaren Feststellungen zerstören. Und Israel wird sich einst der völligen Vergebung seines Gottes erfreuen, und die ganze Erde wird sich einmal an den hellen Strahlen seiner Herrlichkeit freuen. Dann aber begegnen wir hier sowohl der Regierung Gottes als auch seiner Gnade. Diese Begriffe dürfen nie durcheinandergebracht werden.
Das ganze Buch Gottes zeigt den Unterschied zwischen Gnade und Regierung, und vielleicht tut es keine andere Stelle stärker als der hier betrachtete Abschnitt. Die Gnade vergibt und wird die Erde mit den Strahlen der göttlichen Herrlichkeit erfüllen. Aber beachten wir das erschreckende Walten der Regierung, wie es sich in den folgenden Worten kundgibt: „Denn alle Männer, die meine Herrlichkeit und meine Zeichen gesehen haben, die ich in Ägypten und in der Wüste getan habe, und mich nun zehnmal versucht und nicht gehört haben auf meine Stimme – wenn sie das Land sehen werden, das ich ihren Vätern zugeschworen habe! Ja, alle, die mich verachtet haben, sollen es nicht sehen. Aber meinen Knecht Kaleb – weil ein anderer Geist in ihm gewesen und er mir völlig nachgefolgt ist –, ihn werde ich in das Land bringen, in das er gekommen ist; und seine Nachkommenschaft soll es besitzen. Die Amalekiter aber und die Kanaaniter wohnen in der Talebene; morgen wendet euch und brecht auf nach der Wüste, den Weg zum Schilfmeer“ (V. 22–25).
Das ist sehr ernst. Anstatt Gott zu vertrauen und in einfacher Abhängigkeit von seiner Allmacht mutig in das Land der Verheißung zu gehen, fordert das Volk ihn durch seinen Ungehorsam heraus, verachtet das angenehme Land und wurde gezwungen, wieder in die große und schreckliche Wüste zurückzukehren (V. 26–35).
Es ist äußerst wichtig, hier zu erkennen, dass es der Unglaube war, der Israel außerhalb des Landes Kanaan hielt. Die göttliche Erklärung in Hebräer 3,19 stellt dies außer Zweifel: „Und wir sehen, dass sie nicht eingehen konnten wegen des Unglaubens.“ Vielleicht mag jemand einwenden, dass die Zeit zum Eintritt Israels in das Land Kanaan noch nicht gekommen war, weil die Gottlosigkeit der Amoriter noch nicht ihren Höhepunkt erreicht hatte. Aber das war nicht der Grund, weshalb Israel sich weigerte, den Jordan zu überschreiten. Sie wussten nichts von der Gottlosigkeit der Amoriter und dachten auch gar nicht daran. Die Schrift spricht klar und eindeutig: „Sie konnten nicht eingehen.“ Und es wird nicht hinzugefügt: wegen der Amoriter, oder: weil die Zeit noch nicht gekommen war, sondern gewiss: „wegen des Unglaubens“.
Sie hätten hineingehen sollen. Das war ihre Pflicht, und weil sie es unterließen, wurden sie gerichtet. Der Weg lag offen vor ihnen. Das Urteil des Glaubens war klar und bestimmt: „Lasst uns nur hinaufziehen und es in Besitz nehmen, denn wir werden es gewiss überwältigen.“ Sie waren damals ebenso gut wie zu irgendeinem anderen Zeitpunkt fähig, das Land in Besitz zu nehmen, weil der, welcher ihnen das Land gegeben hatte, die Ursache ihrer Fähigkeit war.
Es ist gut, das zu beachten und sorgfältig darüber nachzudenken. Es gibt eine Art, von den Ratschlüssen, Plänen und Anordnungen Gottes zu sprechen, von den Handlungen seiner Regierung, und von den Zeiten und Stunden, die Er seiner Macht vorbehalten hat – eine Art, die darauf abzielt, die Grundlagen menschlicher Verantwortlichkeit umzustoßen. Wir müssen davor sorgfältig auf der Hut sein. Nie dürfen wir vergessen, dass die Verantwortlichkeit des Menschen auf dem beruht, was offenbart ist, nicht auf dem, was verborgen ist. Die Israeliten waren verantwortlich, sofort zu gehen und das Land in Besitz zu nehmen, und sie wurden gerichtet, weil sie es nicht taten. Sie starben in der Wüste, weil sie keinen Glauben hatten, das Land zu betreten.
Die bildliche Bedeutung des Einzugs in Kanaan
Enthält das nicht eine ernste Lehre für uns? Ganz gewiss! Woher kommt es, dass wir als Christen so wenig unsere himmlische Stellung praktisch verwirklichen? Wir sind durch das Blut des Lammes vom Gericht und durch den Tod Christi von dieser gegenwärtigen Welt befreit; aber wir gehen nicht im Geist und durch den Glauben über den Jordan und nehmen nicht Besitz von unserem himmlischen Erbe. Man deutet gewöhnlich den Jordan als Bild des Todes, als das Ende unseres natürlichen Lebens in dieser Welt. Das ist in gewissem Sinn richtig. Aber wie kommt es, dass die Israeliten, als sie endlich den Jordan überschritten hatten, anfangen mussten zu kämpfen? Gewiss werden wir keinen Kampf mehr haben, sobald wir wirklich im Himmel sind! Die Seelen derer, die im Glauben an Christus heimgegangen sind, kämpfen nicht mehr. Sie sind da, wo es keinen Kampf und keinen Streit mehr gibt. Sie sind in der Ruhe. Sie warten auf den Auferstehungsmorgen; aber sie warten in Ruhe, ohne Kampf.
Es ist daher im Jordan mehr als nur das Ende unseres natürlichen Lebens in dieser Welt bildlich dargestellt. Wir müssen den Jordan als Bild des Todes Christi betrachten, ebenso wie das Rote Meer und das Blut des Passahlammes Bilder dieses Todes waren, obwohl von anderen Gesichtspunkten aus betrachtet. Das Blut des Lammes war Israels Schutz vor dem Gericht Gottes über Ägypten. Die Wasser des Roten Meeres befreiten Israel von Ägypten selbst und von seiner Macht. Aber es musste noch über den Jordan gehen. Es musste seine Fußsohle auf das Land der Verheißung setzen und dort seinen Platz trotz aller Feinde behaupten. Israel musste jeden Zentimeter Boden in Kanaan erkämpfen.
Aber haben wir uns denn den Himmel noch zu erkämpfen? Wenn ein Christ entschläft und seine Seele hingeht, um mit Christus im Paradies zu sein, steht ihm dann noch ein Kampf bevor? Gewiss nicht! Was aber bedeutet dann der Übergang über den Jordan und der Kampf in Kanaan selbst? Einfach dies: Jesus ist gestorben. Er hat diese Welt verlassen. Er ist nicht nur für unsere Sünden gestorben, sondern Er hat auch jedes Band zerrissen, das uns mit dieser Welt verknüpfte, so dass wir der Welt gestorben sind, so wie wir auch der Sünde und dem Gesetz gestorben sind. Wir haben in den Augen Gottes und nach dem Urteil des Glaubens so wenig mit dieser Welt zu tun wie ein Toter. Wir sind berufen, uns hier für tot zu halten und Gott zu leben durch Christus Jesus, unseren Herrn.
Wir leben in der Kraft des neuen Lebens, das wir in der Vereinigung mit einem auferstandenen Christus besitzen. Wir gehören dem Himmel an, und indem wir unsere Stellung als himmlische Menschen auch praktisch wahr machen, haben wir mit den geistlichen Mächten der Bosheit in den himmlischen Örtern zu kämpfen (Eph 6) – gerade in dem Gebiet, das uns gehört und aus dem diese Mächte noch nicht vertrieben sind. Wenn wir uns allerdings damit begnügen, „nach Menschenweise zu wandeln“ (vgl. 1Kor 3,3), als solche zu leben, die zu dieser Welt gehören, beim Jordan stehen zu bleiben; wenn wir uns damit begnügen, „als solche, die auf der Erde wohnen“, zu leben, wenn wir nicht nach dem uns gehörenden himmlischen Teil und Platz streben, dann allerdings werden wir den Kampf nicht kennen, der in Epheser 6,12 beschrieben wird. Dadurch, dass wir jetzt auf dieser Erde als himmlische Menschen zu leben suchen, erfahren wir die Bedeutung dieses Kampfes, der das Gegenbild der Kriege Israels in Kanaan ist. Wir werden nicht mehr zu kämpfen haben, wenn wir in den Himmel eingehen. Aber wenn wir auf der Erde ein himmlisches Leben zu führen wünschen, wenn wir uns als solche betragen wollen, die der Welt gestorben sind und in dem leben, der für uns in die kalten Fluten des Jordan hinabgestiegen ist, dann wird uns der Kampf nicht erspart bleiben. Satan wird nichts unversucht lassen, uns daran zu hindern, in der Kraft unseres himmlischen Lebens zu leben.
Daher rührt der Kampf. Der Teufel wird uns so weit bringen, dass wir wie diejenigen leben, die als Bürger dieser Welt eine irdische Stellung haben und sich für ihre Rechte einsetzen, so dass wir auf diese Weise praktisch die große christliche Grundwahrheit, dass wir in und mit Christus gestorben und auferstanden sind, verleugnen.
Wenden wir uns einen Augenblick Epheser 6 zu, um zu sehen, wie dieses interessante Thema dort von dem inspirierten Schreiber dargestellt wird! „Im Übrigen, Brüder, seid stark in dem Herrn und in der Macht seiner Stärke. Zieht die ganze Waffenrüstung Gottes an, damit ihr zu bestehen vermögt gegen die Listen des Teufels. Denn unser Kampf ist nicht gegen Fleisch und Blut [wie er es für Israel war], sondern gegen die Fürstentümer, gegen die Gewalten, gegen die Weltbeherrscher dieser Finsternis, gegen die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Örtern. Deshalb nehmt die ganze Waffenrüstung Gottes, damit ihr an dem bösen Tag zu widerstehen und, nachdem ihr alles ausgerichtet habt, zu stehen vermögt“ (V. 10–13).
Das ist der eigentlich christliche Kampf. Es handelt sich hier nicht um die Lüste des Fleisches oder um die Lockungen der Welt (obschon wir gewiss auch gegen diese zu wachen haben), sondern um „die Listen des Teufels“. Es geht auch nicht um die Macht des Teufels – die ist für immer gebrochen –, sondern um die schlau gelegten Schlingen und Fallstricke, durch die er die Christen daran zu hindern sucht, ihre himmlische Stellung praktisch wahr zu machen und ihr himmlisches Erbe zu genießen. Und gerade in diesem Kampf versagen wir leider so außerordentlich. Wir streben nicht danach, das zu ergreifen, wozu wir von Christus ergriffen worden sind.
Viele begnügen sich mit dem Wissen, dass sie durch das Blut des Lammes vor dem Gericht geschützt sind. Sie dringen nicht ein in die tiefe geistliche Bedeutung des Roten Meeres und des Jordan. Sie leben nach Menschenweise, tun also gerade das, wofür der Apostel die Korinther so ernst tadelt. Sie leben und handeln, als gehörten sie noch dieser Welt an, während die Schrift uns lehrt und unsere Taufe es ausdrückt, dass wir der Welt ebenso gestorben sind, wie auch Jesus ihr gestorben ist, und dass wir durch den Glauben an die wirksame Kraft Gottes, der ihn aus den Toten auferweckt hat, mit ihm auferweckt sind (Kol 2,12).
Möge der Heilige Geist uns mehr in die Wirklichkeit dieser Dinge leiten! Möge Er uns die köstlichen Früchte des himmlischen Landes, das in Christus unser ist, so darbieten und uns durch seine Kraft an dem inneren Menschen so stärken, dass wir mutig über den Jordan und in das geistliche Kanaan gehen! Gewöhnlich nehmen wir unsere Vorrechte als Christen bei Weitem nicht voll in Anspruch. Wir erlauben den sichtbaren Dingen, uns den Genuss der unsichtbaren zu rauben. Hätten wir doch einen stärkeren Glauben, um alles das in Besitz zu nehmen, was Gott uns in Christus aus freier Gnade gegeben hat!