Behandelter Abschnitt 3. Mose 16,7-10
Zwei Böcke – das Los für den Herrn
In den beiden Böcken (V. 7–10) sehen wir die zwei bereits erwähnten Seiten der Versöhnung. Das „Los für den Herrn“ fiel auf den einen und das „Los für Asasel“ auf den anderen Bock. Im ersten Fall handelte es sich nicht um Personen, die Vergebung empfangen, oder um Sünden, die vergeben werden sollten, auch nicht um die Gnadenratschlüsse Gottes mit seinen Auserwählten. Dass diese Dinge von größtem Wert sind, braucht kaum gesagt zu werden, aber sie stehen in keiner Beziehung zu dem „Bock, auf den das Los für den Herrn gefallen ist“. In diesem Bock sehen wir den Tod Christi als das, worin Gott, hinsichtlich der Sünde im Allgemeinen, vollkommen verherrlicht worden ist. Der Ausdruck „das Los für den Herrn“ stellt uns diese wichtige Wahrheit vor Augen. Gott hat ein ganz besonderes Teil in dem Tod Christi, ein Teil, das selbst dann ewig in seinem Wert bestehen bleiben würde, wenn nie ein Sünder errettet worden wäre. Um dies in seiner vollen Bedeutung zu verstehen, müssen wir uns daran erinnern, wie sehr Gott in dieser Welt verunehrt worden ist. Seine Wahrheit ist geschmäht, seine Autorität verachtet, seine Majestät geschändet und sein Gesetz gebrochen worden. Seine gerechten Forderungen hat man verächtlich behandelt, seinen Namen gelästert, seine Würde in den Staub getreten.
Nun, der Tod Christi hat hier Abhilfe geschaffen. Gott ist durch ihn gerade an der Stätte, wo jene Dinge geschehen sind, vollkommen verherrlicht worden. Der Tod Christi hat der Majestät, der Wahrheit, der Heiligkeit und Würde Gottes zu ihrem Recht verholfen, hat allen Forderungen seines Thrones in göttlicher Weise entsprochen, hat die Sünde gesühnt und ein göttliches Heilmittel für all das Elend geschaffen, das durch die Sünde in die Welt gekommen ist.
Der Tod Christi hat eine Grundlage gelegt, auf der Gott allen Menschen gegenüber in Gnade, Barmherzigkeit und Langmut handeln kann. Er verbürgt die ewige Verbannung und Verdammnis des Fürsten dieser Welt und bildet die unvergängliche Grundlage der moralischen Regierung Gottes. Kraft dieses Kreuzes kann Gott nach seiner eigenen Unumschränktheit handeln. Er kann die Herrlichkeit seines Wesens und die Eigenschaften seiner Natur entfalten. Er hätte in Ausübung seiner Gerechtigkeit das ganze Menschengeschlecht, samt dem Teufel und seinen Engeln, dem Feuersee überliefern können; aber was wäre dann aus seiner Liebe und Gnade, seiner Langmut und Barmherzigkeit, seiner Geduld und seiner vollkommenen Güte geworden?
Und andererseits, was wäre aus der Gerechtigkeit, Wahrheit, Majestät und Heiligkeit, aus den Regierungsrechten, ja aus der ganzen Herrlichkeit Gottes geworden, wenn die eben genannten Eigenschaften nicht in Verbindung mit der Versöhnung in Tätigkeit getreten wären? Wie hätten sich „Güte und Wahrheit begegnen“ oder „Gerechtigkeit und Frieden sich küssen“ können? Wie könnte „Wahrheit sprossen aus der Erde“ oder „Gerechtigkeit herniederschauen vom Himmel“ (Ps 85,11.12)? Unmöglich. Nichts als das Versöhnungswerk unseres Herrn Jesus Christus vermochte Gott völlig zu verherrlichen.
Dieses Werk hat die Herrlichkeit Gottes so völlig hervorstrahlen lassen, wie sie niemals in dem höchsten Glanz einer nicht gefallenen Schöpfung ans Licht hätte treten können. Aufgrund dieses Versöhnungswerkes, sei es im Vorausblick oder im Rückblick, hat Gott nun schon beinahe sechstausend Jahre diese Welt in Langmut getragen. Kraft dieser Versöhnung „leben und weben und sind“ (Apg 17,28) die gottlosesten, trotzigsten und lasterhaftesten Menschen. Selbst den Bissen, den der öffentlich lästernde Ungläubige in den Mund steckt, verdankt er der Versöhnung, die er nicht kennt und die er verspottet. Die Sonnenstrahlen und die Regenschauer, welche die Felder des Gottesleugners fruchtbar machen, sind ihm kraft des Versöhnungswerkes Christi dienstbar. Ja selbst den Atem, den die Ungläubigen und Gottesleugner schöpfen, um die Offenbarung Gottes zu lästern oder sein Dasein zu leugnen, verdanken sie dem Versöhnungswerk Christi.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich rede hier nicht von Sündenvergebung oder von persönlicher Errettung. Das ist eine ganz andere Sache. Die steht in Verbindung mit dem Bekenntnis des Namens Jesu und dem aufrichtigen Glauben, dass Gott ihn aus den Toten auferweckt hat (Röm 10). Mit der Seite des Versöhnungswerkes, die wir hier betrachten und die in dem „Bock, auf den das Los für den Herrn gefallen ist“, so deutlich dargestellt wird, hat sie nichts zu tun. Beide Dinge gründen sich auf das Kreuz, aber sie betreffen zwei ganz verschiedene Seiten und Anwendungen des Kreuzes.
Die Folge der Sühnung für die ganze Menschheit
Diese Verschiedenheit ist keineswegs unwichtig. Im Gegenteil, wenn sie übersehen wird, muss bezüglich der Lehre von dem Versöhnungswerk Verwirrung entstehen. Und nicht allein das, auch bezüglich der Regierungswege Gottes, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart und Zukunft, hilft dieser wichtige Punkt zu einem klaren Verständnis, und schließlich gibt er uns den Schlüssel zu zahlreichen Schriftstellen, deren Verständnis vielen Christen erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Ich will zwei oder drei solche Stellen als Beispiele anführen. „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt!“ (Joh 1,29).
Verbinden wir mit dieser Schriftstelle eine ähnliche aus dem zweiten Kapitel des ersten Johannesbriefes, in der der Herr Jesus Christus als die „Sühnung für die ganze Welt“ (V. 2)17 bezeichnet wird, so finden wir, dass der Herr Jesus in beiden Stellen als der dargestellt wird, der Gott bezüglich der „Sünde“ und der „Welt“ vollkommen verherrlicht hat. Er wird hier als das große Gegenbild des „Bockes, auf den das Los für den Herrn gefallen ist“, gesehen. Dies zeigt uns das Versöhnungswerk Christi von einer herrlichen Seite, die leider nur zu oft übersehen oder doch nicht deutlich erkannt wird. Wenn die Frage der Sündenvergebung oder der Errettung einzelner Personen mit diesen und ähnlichen Schriftstellen in Verbindung gebracht wird, kommen wir bestimmt in unüberwindliche Schwierigkeiten.
Dasselbe gilt bezüglich der Stellen, in denen die Gnade Gottes der ganzen Welt gegenüber dargestellt wird. Sie alle gründen sich auf jene besondere Seite des Versöhnungswerkes, mit der wir uns gerade beschäftigen (vgl. Mk 16,15; Joh 3,16.17; 1Tim 2,1-6; Tit 2,11; Heb 2,9; 2Pet 3,9).
Gott ist verherrlicht und kann Barmherzigkeit zeigen
Diese Stellen geben ein klares und unzweideutiges Zeugnis von der göttlichen Gnade gegen alle, ohne irgendwelche Rücksicht auf die Verantwortlichkeit des Menschen oder die ewigen Ratschlüsse Gottes. Das Wort Gottes zeigt klar, dass der Mensch verantwortlich ist und Gott unumschränkt handeln kann. Aber es ist auch wichtig, dass wir sehen, wie weit die Gnade Gottes und das Kreuz Christi reicht. Gott ist darin verherrlicht und dem Menschen jede Entschuldigung genommen worden. Menschen streiten wohl über die Ratschlüsse Gottes sowie über die Unfähigkeit des Menschen, ohne göttlichen Einfluss glauben zu können. Aber ihre Gründe beweisen, dass sie Gott nicht nötig haben; wenn sie erkennen würden, wie sehr sie ihn nötig haben – Er würde sich gerne von ihnen finden lassen. Die Gnade Gottes und das Versöhnungswerk Christi sind so umfassend, wie wir es nur wünschen können. „Ein jeder“, „alle“, „wer da will“, das sind Gottes eigene Worte, und ich möchte gern wissen, wer da ausgeschlossen ist.
Wenn Gott dem Menschen eine Heilsbotschaft sendet, so hat Er sie auch für ihn bestimmt, und wie böse ist es, die Gnade Gottes zu verwerfen, ihn „zum Lügner zu machen“ (1Joh 5,10) und hinterher seine geheimen Ratschlüsse als Entschuldigung für solches Tun vorzuschützen? Es wäre ehrlicher, zu sagen: „Ich glaube dem Wort Gottes nicht, und ich brauche seine Gnade und sein Heil nicht.“ Wenn aber Menschen ihren Hass gegen Gott und seine Wahrheit mit dem Schleier einer falschen, völlig einseitigen Theologie zudecken, so ist das böse. Es lässt uns in Wahrheit fühlen, dass der Teufel nie teuflischer ist, als wenn er mit der Bibel in der Hand zu uns kommt.
Wenn es wahr wäre, dass ein Mensch durch Gottes geheime Ratschlüsse daran gehindert würde, das Evangelium anzunehmen, das Gott ihm verkünden lässt, wie könnte Gott dann gerecht sein und einen solchen Menschen mit „ewigem Verderben“ bestrafen, weil er diesem Evangelium nicht gehorcht hat (2Thes 1,6-10)? Wird es in dem finsteren Bereich der Verlorenen eine einzige Seele geben, die Gott dafür verantwortlich machen wird, dass sie sich dort befindet? Gewiss nicht. Gott hat in dem Versöhnungswerk Christi eine so reiche Vorsorge getroffen, sowohl zur Errettung derer, die glauben, als auch zur Erweisung seiner Gnade denen gegenüber, die das Evangelium verwerfen, dass es für niemand eine Entschuldigung gibt. Nicht weil der Mensch nicht glauben kann, sondern weil er nicht glauben will, wird er mit „ewigem Verderben“ bestraft werden.
Die Gnade Gottes ist für alle da, und wenn wir fragen: Wie ist das möglich?, so lautet die Antwort: „Das Los für den Herrn“ fiel auf das wahre Opfer, damit Gott in weitestem Maß betreffs der Sünde verherrlicht wurde und nun volle Freiheit hat, gegen alle in Gnaden zu handeln und das Evangelium der ganzen Schöpfung predigen zu lassen. Diese Gnade und diese Predigt müssen eine unantastbare Grundlage haben, und diese Grundlage findet sich in dem Versöhnungswerk. Und obschon der Mensch sie verwirft, wird doch Gott in der Ausübung der Gnade wie in dem Anbieten des Heils, kraft der Grundlage, auf der beide ruhen, vollkommen verherrlicht. Er ist verherrlicht worden und wird die endlosen Zeitalter der Ewigkeit hindurch verherrlicht werden (vgl. Joh 12,27-32).
Bis hierher haben wir uns nur mit einer Sache beschäftigt, mit dem „Bock, auf den das Los für den Herrn gefallen ist“, und man könnte denken, dass jetzt der zweite Bock, der uns die andere Seite des Todes Christi oder dessen Anwendung auf die Sünden des Volkes vor Augen stellt, an die Reihe kommen müsse. Aber nein, bevor wir dazu kommen, finden wir die vollständige Bestätigung der soeben behandelten Wahrheit in der Tatsache, dass das Blut des geschlachteten Bockes mit dem Blut des jungen Stieres auf und vor den Thron des Herrn gesprengt wurde, um so zu beweisen, dass allen Ansprüchen dieses Thrones voll Genüge geschehen und für alle Forderungen der moralischen Verwaltung Gottes jede Vorsorge getroffen war.
17 Die in manchen Übersetzungen sich findenden Worte „Sünden der“ („für die Sünden der ganzen Welt“) sind nicht inspiriert. Durch diese Einschiebung geht die g öttliche Genauigkeit dieser Stelle gänzlich verloren. Die hier darg estellte Lehre ist einfach diese. Im ersten Teil des Verses wird Christus als die Sühnung für die Sünden seines Volkes betrachtet; im letzten Teil ist aber weder von Sünden noch von Personen die Rede, sondern von der Sünde und der Welt im Allgemeinen. Tatsächlich wird Christus in dem ganzen Vers als das Gegenbild der beiden Böcke dargestellt, zunächst als der, der die Sünden seines Volkes trug, und dann als der, der Gott hinsichtlich der Sünde im Allgemeinen vollkommen verherrlicht und der für ein gnädiges Handeln mit der ganzen Welt sowie für die schließliche Befreiung und Segnung der ganzen Schöpfung die Grundlage gelegt hat.↩︎