Behandelter Abschnitt 2. Mose 3,2-15
Der brennende Dornbusch
Untersuchen wir jetzt, was Mose „hinter der Wüste“ sah und hörte. Er lernte dort Dinge, die das Verständnis der begabtesten Gelehrten Ägyptens weit überstiegen. Ein vierzigjähriger Aufenthalt in der Wüste, um dort eine Schafherde zu hüten, mag allerdings nach menschlichem Ermessen als ein unerklärlicher Zeitverlust erscheinen. Aber Mose war dort mit Gott, und eine mit Gott verlebte Zeit ist niemals verloren. Wir dürfen nie vergessen, dass es für den Diener Christi noch etwas mehr gibt, als ein bloßes Tätigsein. Ein stets tätiger Mensch setzt sich der Gefahr aus, zu viel zu tun; und es ist nötig für ihn, sorgfältig auf die Worte des vollkommenen Dieners zu achten, die wir in Jesaja 50,4 lesen: „Er weckt jeden Morgen, er weckt mir das Ohr, damit ich höre wie solche, die belehrt werden“. Das „Hören“ ist ein unerlässlicher Teil der Tätigkeit eines Dieners.
Der Diener muss häufig in der Gegenwart seines Herrn sein, um zu wissen, was er zu tun hat. Das Ohr und die Zunge sind in mehr als einer Beziehung eng miteinander verbunden; und wenn in geistlicher oder moralischer Hinsicht mein Ohr geschlossen ist und meine Zunge freien Lauf hat, so werde ich unweigerlich viel Törichtes sagen. „Daher meine geliebten Brüder, sei jeder Mensch schnell zum Hören, langsam zum Reden“ (Jak 1,19). Diese Ermahnung stützt sich auf zwei Tatsachen, nämlich darauf, dass jede gute Gabe von oben herabkommt, und dass das Herz zum Überfließen voll ist von Schlechtigkeit. Daher die Notwendigkeit, das Ohr offen und die Zunge im Zaum zu halten – die seltene und treffliche Kunst, in der Mose „hinter der Wüste“ so große Fortschritte machte, und die alle erlernen können, wenn sie nur willig sind, sich in derselben Schule unterweisen zu lassen. „Da erschien ihm der Engel des Herrn in einer Feuerflamme mitten aus einem Dornbusch; und er sah: Und siehe, der Dornbusch brannte im Feuer, und der Dornbusch wurde nicht verzehrt. Und Mose sprach: Ich will doch hinzutreten und dieses große Gesicht sehen, warum der Dornbusch nicht verbrennt“ (V. 2.3). Ein in Flammen stehender Dornbusch, der dennoch nicht verbrannte, war in der Tat ein „großes Gesicht“. Der Palast des Pharaos hätte niemals ein solches Wunder hervorbringen können. Aber dieses Wunder war nicht nur groß, sondern zugleich ein Ausdruck der Gnade, die mitten im Feuerofen Ägyptens die Auserwählten bewahrte, dass sie nicht verzehrt wurden. „Der Herr der Heerscharen ist mit uns, eine hohe Festung ist uns der Gott Jakobs“ (Ps 46,8). Hier ist Kraft und Sicherheit, Sieg und Frieden! Gott mit uns, Gott in uns, Gott für uns; was für eine reiche Vorsorge für jedes Bedürfnis!
Die Heiligkeit Gottes
Die Weise, in der es dem Herrn gefiel, sich hier seinem Knecht zu offenbaren, ist sehr interessant und lehrreich. Gott stand im Begriff, ihm den Auftrag zu erteilen, sein Volk aus Ägypten zu führen, damit es in der Wüste wie im Land Kanaan seine Versammlung, seine Wohnstätte bilde; und der Ort, von dem aus Er redete, war ein brennender Dornbusch. Welch ein schönes, passendes und ernstes Symbol der Wohnstätte des Herrn inmitten seiner auserwählten und erkauften Gemeinde! „Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer“ (Heb 12,29); nicht um uns, sondern alles in und an uns zu verzehren, was seiner Heiligkeit entgegen ist und unser wahres und ewiges Glück zerstört. „Deine Zeugnisse sind sehr zuverlässig. Deinem Haus geziemt Heiligkeit, Herr, auf immerdar“ (Ps 93,5).
Im Alten wie im Neuen Testament findet sich eine Reihe von Vorfällen, bei denen Gott sich als ein „verzehrendes Feuer“ offenbarte. So lesen wir z. B. in 3. Mose 10, dass Nadab und Abihu vom Feuer verzehrt wurden. Gott wohnte in der Mitte seines Volkes, und sein Wille war, es in einem Zustand zu erhalten, wodurch er selbst verherrlicht wurde. Er konnte nicht anders handeln. Es würde weder zu seiner Verherrlichung noch zum Besten der Seinen dienen, wenn Er irgendetwas an ihnen duldete, was mit der Reinheit seiner Gegenwart unverträglich wäre. Die Wohnstätte Gottes muss heilig sein. Die Sünde Achans (Jos 7) liefert einen weiteren Beweis dafür, dass der Herr das Böse, wie verborgen es auch sein und in welcher Form es auch auftreten mag, niemals durch seine Gegenwart bestätigen kann. Er war ein „verzehrendes Feuer“; und in diesem Charakter musste Er handeln gegenüber jedem Versuch, eine Versammlung zu verunreinigen, in deren Mitte sich seine Wohnstätte befand. Die Absicht, die Gegenwart Gottes mit ungerichtetem Bösen in Verbindung zu bringen, ist der höchste Ausdruck der Gottlosigkeit.
Auch die Geschichte von Ananias und Sapphira (Apg 5) belehrt uns in derselben ernsten Weise. Gott, der Heilige Geist, wohnte, und zwar nicht nur als Einfluss, sondern als eine göttliche Person, inmitten der Versammlung, so dass es möglich war, ihn zu „belügen“. Die Versammlung war und ist noch jetzt sein Wohnplatz, und in ihrer Mitte muss Er herrschen und richten. Die Menschen mögen sich den Betrug, die Begierde und die Heuchelei zu Gefährten wählen; aber Gott kann es nicht. Wenn Er mit uns gehen soll, müssen wir unsere Wege richten, oder Er wird es an unserer Statt tun (vgl. auch 1Kor 11,29-32).
In allen diesen und in vielen anderen Fällen, die wir noch anführen könnten, erkennen wir die Kraft des ernsten Wortes: „Deinem Haus geziemt Heiligkeit, Herr, auf immerdar“ (Ps 93,5). Die moralische Wirkung dieser Wahrheit wird immer derjenigen gleichen, die sich hier bei Mose zeigt. „Tritt nicht näher herzu! Zieh deine Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Boden“ (V. 5). Die Stätte der Gegenwart Gottes ist heilig; nur mit unbeschuhten Füßen darf sie betreten werden. Gott, der in der Mitte seines Volkes wohnt, verleiht der Versammlung dieses Volkes den Charakter der Heiligkeit, die die Grundlage jeder heiligen Zuneigung und jeder heiligen Tätigkeit bildet.
Die Wohnstätte muss dem Charakter ihres Besitzers entsprechen. Die Anwendung dieses Grundsatzes auf die Versammlung, die gegenwärtige Behausung Gottes im Geist, ist in praktischer Hinsicht von größter Wichtigkeit. Wie es wahr ist, dass Gott durch den Heiligen Geist in jedem Glied der Versammlung persönlich wohnt und jedem Einzelnen den Charakter der Heiligkeit verleiht, so ist es ebenfalls wahr, dass die Versammlung sein Wohnplatz ist und demzufolge heilig sein muss. Nichts Geringeres als die Person eines lebenden, siegreichen und verherrlichten Christus ist der Mittelpunkt, um den die Glieder gesammelt sind; und die Macht, die sie sammelt, ist keine geringere als der Heilige Geist selbst; und der Herr, Gott der Allmächtige, wohnt in ihnen und wandelt in ihrer Mitte (siehe Mt 18,20; 1Kor 6,19; Eph 2,21.22).
Wenn dies nun aber die hohe, heilige Stellung des Hauses Gottes ist, so ist es offenbar, dass sowohl im Grundsatz als auch im praktischen Wandel nichts Unreines darin geduldet werden darf. Jeder, der mit dieser Behausung in Verbindung steht, sollte den Ernst und die Wichtigkeit des Wortes fühlen: „Der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Boden“. „Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben“ (1Kor 3,17). Wie wichtig sind diese Worte für jedes Glied der Versammlung Gottes, für jeden „lebendigen Stein“ an seinem heiligen Tempel! O möchten wir doch alle lernen, die Vorhöfe Gottes mit unbeschuhten Füßen zu betreten!
Die Gnade Gottes zu seinem Volk
Doch zeugen die Erscheinungen am Berg Horeb ebenso sehr von der Gnade des Gottes Israels, als von seiner Heiligkeit. Ist die Heiligkeit Gottes unendlich, so ist es seine Gnade nicht weniger; und während die Weise, in der Er sich seinem Diener Mose offenbarte, die Heiligkeit erkennen lässt, bürgt die Tatsache, dass Er sich überhaupt offenbarte, für die Gnade. Dass Gott herniederkam, war Gnade; aber nachdem Er gekommen war, musste Er sich in Heiligkeit offenbaren. „Und er sprach: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Da verbarg Mose sein Angesicht, denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen“ (V. 6). Die Gegenwart Gottes bewirkt stets, dass die Natur sich verbirgt; wenn wir daher mit unbeschuhten Füßen und mit bedecktem Antlitz, d.h. in jener Gesinnung, die in diesen Gesten ihren angemessenen Ausdruck findet, vor Gott stehen, so sind wir zubereitet, um die Worte der Gnade vernehmen zu können. Nimmt der Mensch den ihm geziemenden Platz ein, so kann Gott in uneingeschränkter Gnade mit ihm reden.
„Und der Herr sprach: Gesehen habe ich das Elend meines Volkes, das in Ägypten ist, und sein Geschrei wegen seiner Treiber habe ich gehört; denn ich kenne seine Schmerzen. Und ich bin herabgekommen, um es aus der Hand der Ägypter zu erretten und es aus diesem Land hinaufzuführen in ein gutes und geräumiges Land, in ein Land, das von Milch und Honig fließt . . . Und nun siehe, das Schreien der Kinder Israel ist vor mich gekommen; und ich habe auch den Druck gesehen, womit die Ägypter sie drücken. Und nun gehe hin“, usw. (V. 7–9). Die freie, bedingungslose Gnade des Gottes Abrahams und des Gottes der Nachkommen Abrahams wird hier sichtbar, ohne irgendwie durch die „Wenn“ und „Aber“, durch die Gelübde, Entschlüsse und Bedingungen des gesetzlichen Geistes des Menschen gehemmt zu sein.
Gott war herniedergekommen, um sich in unumschränkter Gnade zu offenbaren, um das ganze Werk der Erlösung zu vollbringen, und um seine Verheißung zu erfüllen, die Er Abraham gegeben und Isaak und Jakob erneuert hatte. Er war nicht gekommen, um zu erforschen, ob die Gegenstände seiner Verheißung in einem Zustand waren, dass sie seine Erlösung verdienten. Sie brauchten Erlösung; das war genug für ihn. Der schwere Druck, der auf ihnen lastete, ihre Mühsal, ihre Tränen, ihre Seufzer, ihre harte Sklaverei – alles das war eingehend von ihm geprüft worden; denn, gepriesen sei sein Name!, Er zählt das Umherirren seines Volkes und legt dessen Tränen in seinen Schlauch (Ps 56,9). Es waren nicht ihre Vorzüge oder ihre Tugenden, die ihn angezogen hatten. Er besuchte sie nicht, weil Er etwas Gutes in ihnen entdeckt hatte oder voraussah; nein, Er wusste, was in ihnen war. Wir finden den einzigen wahren Grund seines gnädigen Eingreifens in den Worten: „Ich bin der Gott Abrahams“, und: „Gesehen habe ich das Elend meines Volkes“.
Diese Worte offenbaren einen fundamentalen Grundsatz in den Wegen Gottes. Gott handelt stets aufgrund dessen, was Er ist. „Ich bin“, sichert alles für „Mein Volk“. Er wollte sein Volk nicht bei den Ziegelöfen Ägyptens und unter der Geißel der Fronvögte des Pharaos lassen. Israel war sein Volk; und Er wollte zu seinen Gunsten in einer Weise handeln, die seiner selbst würdig war. Die Tatsache, dass Israel das Volk Gottes, der Gegenstand seiner auserwählenden Liebe und seiner bedingungslosen Verheißung war, ordnete alles. Nichts sollte die öffentliche Entfaltung seines Verhältnisses zu denen verhindern, welchen Er nach seinen ewigen Ratschlüssen den Besitz des Landes Kanaan zugesichert hatte. Er war zu ihrer Befreiung gekommen; und die vereinigten Mächte der Erde und der Hölle konnten sie nicht eine Stunde über die von ihm festgesetzte Zeit hinaus in Gefangenschaft halten. Wohl konnte Er Ägypten als Schule und den Pharao als Zuchtmeister brauchen; und Er hat dies tatsächlich getan; aber nachdem das notwendige Werk vollendet war, wurden Schule und Zuchtmeister beiseitegesetzt, und mit starker Hand und ausgestrecktem Arm führte Er sein auserwähltes Volk aus Ägypten heraus.
Das Geheimnis eines fruchtbaren Dienstes
Das also war der zweifache Charakter der Offenbarung, die Mose am Berg Horeb empfing. Heiligkeit und Gnade vereinigten sich in dem, was er sah und hörte. Diese beiden Elemente charakterisieren, wie wir wissen, alle Wege und Beziehungen unseres Gottes sehr deutlich; und ebenso sollten sie auch die Wege derer kennzeichnen, die auf irgendeine Art für Gott tätig sind oder Gemeinschaft mit ihm haben. Jeder wahre Diener ist aus der unmittelbaren Gegenwart Gottes mit ihrer Gnade und Heiligkeit in seine Arbeit gesandt; er ist berufen, heilig und gnädig zu sein und auf der Erde die Gnade und Heiligkeit Gottes widerzuspiegeln; und um dies zu können, darf er nicht nur von der Gegenwart Gottes aus seinen Lauf beginnen, sondern muss dort auch immer im Geist anwesend sein. Das ist das Geheimnis jedes fruchtbaren Dienstes.
Nur der geistlich gesinnte Mensch versteht die Bedeutung der beiden Dinge: „Schreite zum Werk fort“, und: „Verlasse nie“. Um nach außen für Gott wirken zu können, muss ich innerlich bei ihm sein. Wenn ich nicht in dem verborgenen Heiligtum seiner Gegenwart bin, werde ich bald in meinem Dienst ermatten.
Viele scheitern an dieser Klippe. Wir sind immer der Gefahr ausgesetzt, im Getriebe unseres Verkehrs mit den Menschen und in der Aufregung der Diensttätigkeit aus dem Ernst und der Ruhe der Gegenwart Gottes herauszutreten. In diesem Punkt ist sorgfältige Wachsamkeit nötig. Wenn wir diese heilige Geistesstimmung verlieren, die in den „unbeschuhten Füßen“ ihren Ausdruck findet, so wird unser Dienst sehr bald geistlos und fruchtleer werden. Wenn wir unserer Arbeit erlauben, sich zwischen unser Herz und den Herrn zu drängen, so wird sie von geringem Wert sein. Nur wenn wir Christus genießen, werden wir ihm in wirksamer Weise dienen können. Nur wenn das Herz in seiner Nähe bleibt, sind die Hände fähig, seinem Namen in wohlgefälliger Weise zu dienen. Niemand kann Christus mit Frische und Kraft anderen vorstellen, wenn er sich nicht selbst in der Verborgenheit von ihm nährt. Wohl mag er einen Vortrag halten, Gebete sprechen, Bücher schreiben und den äußeren Dienst, soweit er reichen mag, ausüben; aber dennoch dient er Christus nicht. Wer ihn vor anderen darstellen will, muss selbst mit ihm beschäftigt sein.
Glücklich ist der Mensch, der in dieser Weise tätig ist, wie auch immer der Erfolg seiner Arbeit und die Aufnahme seines Dienstes sein mag! Denn sollte auch sein Dienst nicht die allgemeine Beachtung finden, keinen sichtbaren Einfluss ausüben oder keine augenfälligen Ergebnisse aufweisen, so findet er selbst dennoch in Christus seine glückselige Ruhestätte und sein sicheres Teil, das ihm niemand rauben kann. Ein anderer dagegen, der sich nur an den Früchten seines Dienstes weidet oder an der ihm geschenkten Beachtung seine Lust findet, gleicht einer Röhre, die anderen Wasser zuführt, aber für sich selbst nichts als Rest zurückbehält. Wie beklagenswert ist ein solcher Zustand! Und doch befindet sich tatsächlich jeder Diener in diesem Zustand, der sich mehr mit seiner Arbeit und deren Ergebnissen beschäftigt, als mit dem Herrn und seiner Verherrlichung.
Dies ist eine Sache, die strenges Selbstgericht erfordert. Das Herz ist betrüglich und der Feind listig; und darum ist es unerlässlich nötig, dass wir auf das Wort der Ermahnung hören: „Seid nüchtern, wacht!“ (1Pet 5,8). Erst dann, wenn man sich der zahlreichen und verschiedenen Gefahren bewusst wird, die den Weg des Dieners Christi umringen, ist man fähig, die Notwendigkeit zu erkennen, viel mit Gott allein zu sein; denn nur dort ist man glücklich und in Sicherheit. Nur wenn wir unser Werk zu den Füßen des Herrn beginnen, fortsetzen und vollenden, ist unser Dienst von der rechten Art.
Mose erhält seinen Auftrag
Nach diesen Ausführungen muss dem Leser einleuchten, dass der Aufenthalt „hinter der Wüste“ für jeden Diener Christi sehr heilsam ist. Horeb ist in der Tat der Ausgangspunkt für alle, die Gott zu seinem Dienst aussendet. Am Horeb war es, wo Mose lernte, seine Schuhe auszuziehen und sein Antlitz zu verhüllen. Vierzig Jahre vorher hatte er seine Hand bereits ans Werk gelegt; aber dieser Anlauf war zur Unzeit geschehen. Erst in der Einsamkeit des Berges Gottes und aus dem brennenden Busch hörte der Diener die Botschaft Gottes: „Und nun geh hin, denn ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Kinder Israel, aus Ägypten herausführst“ (V. 10). Hier war wirkliche Autorität. Ob Gott jemand sendet oder ob ein Mensch ungesandt seinen Lauf beginnt, das sind zwei sehr verschiedene Dinge; und es ist offenbar, dass Mose, als er zum ersten Mal die Hand zur Befreiung seiner Brüder erhob, nicht reif zum Dienst war. Wie hätte er auch, wenn eine vierzigjährige geheime Zucht für ihn erforderlich war, sein Werk früher erfüllen können? Unmöglich! Er musste von Gott erzogen und von Gott ausgerüstet werden; und das gilt für alle, die den Weg des Dienstes und des Zeugnisses für Christus betreten. Möchten sich die heiligen Unterweisungen Gottes tief in unsere Herzen eingraben, damit alle unsere Werke das Gepräge der Autorität und des Beifalls unseres Herrn und Meisters tragen!
Jedoch haben wir am Fuß des Berges Horeb noch etwas anderes zu lernen. „Es ist gut, dass wir hier sind“, sagte Petrus auf dem Berg der Verklärung (Mt 17,4). Die Gegenwart Gottes ist immer ein Ort von äußerst praktischer Bedeutung, weil dort das Herz aufgedeckt werden muss. Das Licht, das an dieser heiligen Stätte leuchtet, macht alles offenbar; und gerade dieses Offenbarwerden brauchen wir so sehr mitten unter den uns umringenden, eitlen Anmaßungen und gegenüber dem Stolz und der Selbstherrlichkeit unserer eigenen Herzen.
Wir könnten nun meinen, dass Mose in demselben Augenblick, als er den göttlichen Auftrag empfing, geantwortet hätte: „Hier bin ich!“ oder: „Herr, was willst du, dass ich tun soll?“ Aber nein; dahin musste er noch gebracht werden. Ohne Zweifel erinnerte er sich an seinen früheren Fehlgriff; denn wenn man in irgendeiner Sache ohne Gott handelt, so wird, selbst wenn Gott uns aussendet, Verzagtheit und Mutlosigkeit die unausbleibliche Folge sein. „Und Mose sprach zu Gott: Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und dass ich die Kinder Israel aus Ägypten herausführen sollte?“ (V. 11). Wie wenig gleicht hier Mose dem Mann, der vierzig Jahre früher „meinte . . . seine Brüder würden verstehen, dass Gott ihnen durch seine Hand Rettung gebe“! (Apg 7,25). So ist der Mensch: heute zu eilig und morgen zu langsam zum Handeln.
Mose hatte vieles gelernt seit dem Tag, an dem er den Ägypter erschlug. Er hatte Fortschritte gemacht in der Selbsterkenntnis; und diese Erkenntnis erzeugte Misstrauen und Furchtsamkeit. Aber zugleich zeigte er offenbaren Mangel an Gottvertrauen. Wenn ich allein auf mich schaue, werde ich nichts ausrichten; wenn ich aber auf Christus blicke, so vermag ich alles. Als daher Mose aus Misstrauen und Furchtsamkeit die Frage stellte: „Wer bin ich?“, antwortete Gott: „Ich werde mit dir sein“ (V. 12). Das hätte ihm genügen sollen. Wenn Gott mit mir ist, dann ist es überhaupt nicht wichtig, wer ich bin oder was ich bin. Wenn Gott sagt: „Ich will dich senden“, und „Ich werde mit dir sein“, dann ist der Diener reichlich mit göttlicher Autorität und Kraft versehen, und er sollte daher freudig und zufrieden seine Straße ziehen.
Ich bin, der ich bin
Aber Mose erhebt noch eine andere Frage; denn das menschliche Herz ist voller Fragen. „Und Mose sprach zu Gott: Siehe, wenn ich zu den Kindern Israel komme und zu ihnen spreche: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt, und sie zu mir sagen werden: Was ist sein Name? Was soll ich zu ihnen sagen“? (V. 13). Es ist verwunderlich, wie das menschliche Herz hin und her überlegt und fragt, während es doch Gott Gehorsam ohne Zögern schuldet; aber wunderbar ist die Gnade, die alle Überlegungen und Bedenken geduldig trägt und alle Fragen beantwortet. Ja, jede Frage scheint immer nur einen neuen Zug dieser göttlichen Gnade hervorzubringen. „Da sprach Gott zu Mose: Ich bin, der ich bin. Und er sprach: So sollst du zu den Kindern Israel sagen: Ich bin hat mich zu euch gesandt“ (V. 14).
Der Titel, den Gott sich hier beilegt, hat eine wunderbare Bedeutung. Wenn wir in der Heiligen Schrift die verschiedenen Namen aufsuchen, die Gott angenommen hat, so finden wir, dass sie stets in enger Beziehung zu den verschiedenen Bedürfnissen derer standen, mit denen Er in Verbindung trat. Er hat sich unter den bedeutungsvollen Namen offenbart: „Jahwe-Jireh“; der Herr wird ersehen (1Mo 22,14), „Jahwe-Nissi“; der Herr, mein Banner (2Mo 17,15), „Jahwe-Zidkenu“; der Herr, unsere Gerechtigkeit (Jer 23,6), „Jahwe-Schalom“; der Herr ist Friede (Ri 6,24); und in allen diesen gnadenreichen Titeln begegnet Er den Bedürfnissen seines Volkes. Wenn Er sich aber den Titel: „Ich bin“ beilegt, so schließt dieser alle anderen ein. In diesem Titel überreicht der Herr seinem Volk sozusagen einen Blankoscheck, der über einen beliebig hohen Betrag ausgestellt werden kann. Er nennt sich „Ich bin“, und der Glaube darf kühn seine Bedürfnisse neben diesen unaussprechlich kostbaren Namen schreiben. Brauchen wir Leben, Christus sagt: „Ich bin das Leben“; brauchen wir Gerechtigkeit, Er ist unsere Gerechtigkeit; brauchen wir Frieden, Er ist unser Friede; brauchen wir Weisheit, Heilung und Erlösung, Er ist uns zu allem diesem „geworden“ (1Kor 1,30).
Wir müssen den ganzen weiten Bereich menschlicher Bedürfnisse kennenlernen, um von der erstaunlichen Tiefe und Fülle dieses Namens: „Ich bin“ eine richtige Vorstellung zu bekommen.
Welch eine Gnade, berufen zu sein, in der Gemeinschaft dessen zu leben, der einen solchen Namen trägt! Wir sind in der Wüste, und dort begegnen wir Prüfungen, Kümmernissen und Schwierigkeiten; aber solange wir das Vorrecht genießen, immer und unter allen Umständen zu dem unsere Zuflucht nehmen zu dürfen, der sich gerade in Verbindung mit unseren Bedürfnissen und unserer Schwachheit in reicher Gnade offenbart hat, solange haben wir keine Ursache, die Wüste zu fürchten. Gott stand im Begriff, sein Volk durch die sandige Wüste zu führen, als Er seinen allumfassenden Namen mitteilte; und obwohl der Gläubige jetzt, im Besitz des Geistes der Kindschaft „Abba Vater“ sagen kann, so hat er doch auch das Vorrecht, sich der Gemeinschaft mit Gott in all den verschiedenen Offenbarungen zu erfreuen, die Er uns in seiner Güte über sich selbst geschenkt hat.
Der Name „Gott“ offenbart uns ihn z. B. wie Er in der Abgeschiedenheit seines eigenen Wesens wirkt, wie Er seine ewige Macht und Gottheit in den Werken der Schöpfung entfaltet. „Der Herr, Gott“ ist der Titel, den Er in Verbindung mit den Menschen annimmt. Seinem Diener Abraham erscheint Er als der „Allmächtige“, um ihn in der Gewissheit zu befestigen, dass Er ihm die wegen seiner Nachkommen gegebene Verheißung erfüllen werde. Als „der Herr „ endlich gibt Er sich den Kindern Israel kund, indem Er sie aus dem Land der Ägypter befreit und in das Land Kanaan bringt.
Das sind also die verschiedenen Arten, in denen Gott „. . . ehemals zu den Vätern geredet hat in den Propheten“ (Heb 1,1); und der Gläubige in der heutigen Zeit kann, weil er den Geist der Sohnschaft besitzt, kühn sagen: „Es ist mein Vater, der sich so offenbart, der so geredet, so gehandelt hat“.
Kaum etwas könnte von größerem praktischem Wert sein als eine eingehende Prüfung der erhabenen Titel, die Gott sich in den verschiedenen Zeiten gegeben hat. Sie stehen immer in genauer moralischer Übereinstimmung mit den Umständen, unter denen sie offenbart wurden; aber in dem Namen: „Ich bin“ findet sich eine Höhe und Tiefe, eine Breite und Länge, die sich weit über die Grenze menschlicher Vorstellungen hinaus erstreckt.
Allerdings dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren, dass Er diesen Namen nur in Beziehung zu seinem Volk annimmt. Er wendet sich nicht an den Pharao unter einem solchen Namen. Wenn Er zu diesem redet, nennt Er sich mit dem Achtung gebietenden, majestätischen Titel „Gott der Hebräer“; d. h. Er tritt vor ihn als der Gott, der gerade mit dem Volk verbündet war, das der Pharao unterdrücken wollte. Dies hätte genügen sollen, um den Pharao die entsetzliche Stellung erkennen zu lassen, in der er sich Gott gegenüber befand. Der Titel: „Ich bin“ hätte für ein unbeschnittenes Ohr keinen verständlichen Sinn und für ein ungläubiges Herz keine göttliche Wirklichkeit gehabt. Als Gott, offenbart im Fleisch, den ungläubigen Juden die Worte zurief: „Ehe Abraham wurde, bin ich“ (Joh 8,58), hoben sie Steine auf, um ihn zu steinigen. Nur der wahre Gläubige ist imstande, einigermaßen die unermessliche Kraft und Schönheit des Namens „Ich bin“ zu empfinden. Nur er kann mit Freude von seinem hoch gepriesenen Herrn die Worte vernehmen: „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,48). „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12). „Ich bin der gute Hirte“ (Joh 10,11). „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ (Joh 11,25). „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). „Ich bin der wahre Weinstock“ (Joh 15,1). „Ich bin das Alpha und das Omega“ (Off 22,13). „Ich bin der glänzende Morgenstern“ (Off 22,16) usw. Er kann jeden Namen von göttlicher Würde und Schönheit nehmen und, nachdem er ihn hinter das majestätische „Ich bin“ gestellt hat, mit Bewunderung und Anbetung Jesus darin erblicken.
In dem Titel „Ich bin“ liegt eine Schönheit und eine Fülle von Kraft, für die die menschliche Sprache keinen Ausdruck hat. Jeder Gläubige kann gerade das darin finden, was seinem persönlichen geistlichen Bedürfnis völlig entspricht. Für jede einzelne Biegung auf seinem Wüstenpfad, für jeden einzelnen Abschnitt in der Erfahrung seiner Seele, für jeden einzelnen Punkt in seiner Lage, ja, für alles findet er in diesem Titel eine göttlich befriedigende Lösung; und zwar aus dem einfachen Grund, weil er alle seine Bedürfnisse durch den Glauben nur jenem „Ich bin“ gegenüber zu stellen braucht, um dann alles in Jesus zu finden. Es gibt für den Gläubigen, so schwach und gering er sein mag, nichts als Segnung in diesem Namen.
Ich kann dieses Kapitel nicht schließen, ohne die Aufmerksamkeit des Lesers noch auf die bemerkenswerten Worte zu lenken, die wir in V. 15 finden: „Und Gott sprach weiter zu Mose: So sollst du zu den Kindern Israel sagen: Der Herr, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name auf ewig, und das ist mein Gedächtnis von Geschlecht zu Geschlecht“. Dieser Ausspruch schließt eine wichtige Wahrheit in sich, die aber leider von vielen Christen völlig unbeachtet bleibt: Die Wahrheit nämlich, dass das Verhältnis Gottes zu Israel ein ewiges ist. Er ist ebenso sehr der Gott Israels heute wie damals, als Er das Volk im Land Ägypten besuchte. Er beschäftigt sich heute ebenso gewiss mit ihm, wie damals, wenn auch in einer anderen Weise. Er sagt klar und mit Nachdruck. „Das ist mein Name auf ewig“. Er sagt nicht: „Das ist mein Name für eine Zeit, oder für so lange, wie sie das bleiben, was sie sein sollen“; nein, sondern: „Das ist mein Name auf ewig, und das ist mein Gedächtnis von Geschlecht zu Geschlecht“. Möge der Leser dies wohl beachten! „Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das Er zuvor erkannt hat“ (Röm 11,2).
Das Volk Israel, ob gehorsam, ob ungehorsam, ob vereinigt oder zerstreut, ob den Nationen offenbart oder von ihren Blicken verborgen, ist noch immer das Volk Gottes. Sie sind sein Volk, und Er ist ihr Gott. Die Erklärung im 15. Vers unseres Kapitels liefert dafür den klaren Beweis. Die bekennende Christenheit ist nicht berechtigt, ein Verhältnis zu leugnen, dessen „ewige“ Fortdauer von Gott bestimmt ausgesprochen ist. Hüten wir uns, die Erklärung abzuschwächen: „Das ist mein Name auf ewig“. Gott hat gesprochen, und Er meint, was Er sagt; und bald wird Er vor allen Nationen der Erde offenbar machen, dass sein Verhältnis zu Israel alle Wechsel und Umwälzungen der Zeit überdauert. „Die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar“ (Röm 11,29). „Ich bin“ hat erklärt, dass Er in Ewigkeit der Gott Israels sein will; und alle Heiden werden dahin gebracht werden, diese Wahrheit zu erkennen und sich vor ihr in den Staub zu beugen; zugleich werden sie anerkennen müssen, dass alle Vorsehungswege Gottes mit ihnen, sowie alle ihre Geschicke in der einen oder der anderen Weise mit diesem begünstigten und geehrten, wenn auch jetzt gerichteten und zerstreuten Volk verbunden sind. „Als der Höchste den Nationen das Erbe austeilte, als er voneinander schied die Menschenkinder, da stellte er die Grenzen der Völker fest nach der Zahl der Kinder Israel. Denn des Herrn Teil ist sein Volk, Jakob die Schnur seines Erbteils“ (5Mo 32,8.9).
Hat das, was Gott gesagt hat, aufgehört, wahr zu sein? Hat der Herr sein „Teil“ aufgegeben und die „Schnur seines Erbteils“ abgetreten? Ruht der Blick seiner Liebe nicht mehr auf den zerstreuten Stämmen Israels, die dem menschlichen Auge schon so lange entschwunden sind? Sind die Mauern Jerusalems nicht mehr vor ihm, oder hat ihr Staub aufgehört, teuer zu sein in seinen Augen? Um diese Fragen eingehend zu beantworten, müssten wir einen großen Teil des Alten und zahlreiche Stellen des Neuen Testaments anführen, aber hier ist nicht der Ort, um sorgfältig auf diese Einzelheiten einzugehen. Ich möchte am Schluss dieses Kapitels nur noch allen zurufen, nicht unbekannt zu sein mit diesem Geheimnis: „. . . dass Israel zum Teil Verhärtung widerfahren ist, bis die Vollzahl der Nationen eingegangen ist; und so wird ganz Israel errettet werden“ (Röm 11,25.26).