Behandelter Abschnitt 1. Mose 3,5-8
Das Gewissen
Wir wollen jetzt untersuchen, wie sich bei Adam und Eva der von der Schlange versprochene Vorteil verwirklichte. Das wird uns zu einem wichtigen Punkt in Verbindung mit dem Fall des Menschen leiten. Nach der Anordnung Gottes des Herrn sollte der Mensch durch den Fall etwas erhalten, was er vorher nicht besaß, nämlich ein Gewissen, die Erkenntnis des Guten und des Bösen. Früher konnte er kein Gewissen haben. Wie hätte er etwas über das Böse wissen können, so lange das Böse nicht vorhanden war? Er befand sich in einem Zustand der Unwissenheit über das Böse.
Durch seinen Fall empfing der Mensch ein Gewissen, und wir finden, dass die erste Wirkung dieses Gewissens darin bestand, einen Feigling aus ihm zu machen. Satan hatte die Frau betrogen. Er hatte gesagt: „Eure Augen werden aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott, erkennend Gutes und Böses“ (V. 5). Aber er hatte einen wesentlichen Teil der Wahrheit ausgelassen, nämlich, dass sie das Gute erkennen würden, ohne die Macht zu besitzen, es zu tun, und dass sie das Böse erkennen würden, ohne die Kraft zu haben, es zu lassen. Gerade der Versuch des Menschen, sich selbst zu erheben, schloss den Verlust wahrer Erhabenheit in sich. Sie sanken zu erniedrigten, kraftlosen, von Satan unterjochten und von Gewissensbissen gequälten, furchtsamen Geschöpfen herab. „Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan“ (V. 7). Aber wozu? Nur, um ihre eigene Nacktheit zu entdecken. Ihr geöffnetes Auge erblickte ihren Zustand, und der war elend, jämmerlich, arm und bloß. „Sie erkannten, dass sie nackt waren“. Wie traurig war die Frucht des Baumes der Erkenntnis! Sie hatten keine neue Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes erlangt. Nein, das erste Ergebnis ihres ungehorsamen Strebens nach Erkenntnis war die Entdeckung, dass sie nackt waren.
Es ist gut, dies zu verstehen. Wenn wir wissen, wie das Gewissen wirkt, so sehen wir, dass es uns nur zu Feiglingen machen kann, da es uns bewusst macht, was wir sind. Viele irren sich in dieser Hinsicht, da sie meinen, dass das Gewissen uns zu Gott führt. War das denn seine Wirkung bei Adam und Eva? Keineswegs. Und wir werden dies bei keinem Sünder finden. Wie wäre es auch möglich? Wie könnte mich je das Gefühl von dem, was ich bin, zu Gott bringen, wenn es nicht begleitet ist von dem Glauben an das, was Gott ist? Es wird vielmehr Scham, Selbstanklage, Gewissensangst und Schrecken hervorrufen. Es mag auch gewisse Anstrengungen meinerseits hervorrufen, um den Zustand zu heilen, aber gerade diese Anstrengungen wirken wie eine Blende, anstatt uns zu Gott zu ziehen, sie verbergen ihn vor unseren Blicken. So folgte bei Adam und Eva auf die Entdeckung ihrer Nacktheit der Versuch, die Nacktheit durch eigenes Bemühen zu verbergen. „Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze“ (V. 7).
Hier haben wir den ältesten Bericht über den Versuch des Menschen, seinen Zustand durch selbst erfundene Mittel zu ändern, und die aufmerksame Betrachtung dieses Versuchs zeigt uns den wahren Charakter der menschlichen Religiosität zu allen Zeiten. Zunächst sehen wir, dass nicht nur bei Adam, sondern in jedem Fall die Anstrengung des Menschen, seinen Zustand zu heilen, aus der Erkenntnis seiner Nacktheit hervorgeht. Er ist nackt, das ist nicht zu leugnen, und sein ganzes Wirken ist die Folge der Erkenntnis dieses Zustandes. Was aber nützt alle Anstrengung? Bevor ich etwas tun kann, was in den Augen Gottes angenehm ist, muss ich wissen, dass ich bekleidet bin.
Hierin liegt der Unterschied zwischen wahrem Christentum und menschlicher Religiosität. Wahres Christentum ist darauf gegründet, dass Gott den Menschen göttlich bekleidet hat, und hier hat der Christ seinen Ausgangspunkt. Menschliche Religiosität geht von dem nackten Zustand des Menschen aus und ist gekennzeichnet durch sein Bemühen, sich selbst zu bekleiden. Alles, was ein wahrer Christ tut, geschieht, weil er bekleidet ist. Alles, was ein äußerlich religiöser Mensch tut, geschieht, um bekleidet zu werden. Das ist ein großer Unterschied. Je mehr wir den Geist der menschlichen Religion in allen seinen Formen prüfen, umso mehr werden wir erkennen, wie völlig unfähig die Religion ist, den Zustand des Menschen zu heilen oder auch nur seinem Bewusstsein darüber wirksam zu begegnen. Sie mag für eine Zeit genügen und auch so lange befriedigen, wie man den Tod, das Gericht und den Zorn Gottes nur aus der Ferne betrachtet. Sobald aber ein Mensch diesen Dingen in ihrer schrecklichen Wirklichkeit ins Angesicht schaut, wird er spüren, dass seine Religion niemals genügen kann.
In demselben Augenblick, als Adam in Eden die Stimme Gottes vernahm, „fürchtete er sich“, weil er nackt war, wie er selbst bekannte. Ja, er war nackt, obwohl sie sich Schurze aus Feigenblättern umgebunden hatten. Offenbar befriedigte diese Bedeckung nicht einmal Adams eigenes Gewissen. Denn wäre sein Gewissen göttlich befriedigt gewesen, so hätte er sich nicht gefürchtet. „Wenn unser Herz uns nicht verurteilt, so haben wir Freimütigkeit zu Gott“ (1Joh 3,21). Wenn aber nicht einmal das menschliche Gewissen in den religiösen Anstrengungen des Menschen Ruhe finden kann, wie viel weniger die Heiligkeit Gottes! Adams Schurz genügte nicht in den Augen Gottes, um ihn zu bedecken, und nackt konnte er nicht in seiner Gegenwart erscheinen. Darum floh er, um sich zu verbergen. Das bewirkt das Gewissen zu allen Zeiten. Es veranlasst den Menschen, sich vor Gott zu verbergen. Überhaupt ist alles, was seine eigene Religiosität ihm bietet, nichts anderes als ein Mittel, um sich vor Gott zu verbergen. Wie erbärmlich aber ist ein solcher Schutz, da der Mensch doch einmal vor Gott erscheinen muss! Und wie bestürzt und unglücklich muss er sein, wenn er nichts anderes besitzt als das traurige Bewusstsein seines Zustandes. Nur die Hölle selbst ist noch nötig, um das Elend eines Menschen voll zu machen, der fühlt, dass er Gott begegnen muss, und nur weiß, dass er unfähig ist, ihm begegnen zu können.
Hätte Adam die vollkommene Liebe Gottes erkannt, so hätte er sich nicht gefürchtet, denn „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe“ (1Joh 4,18). Aber Adam wusste hiervon nichts, weil er der Lüge der Schlange geglaubt hatte. Er dachte, Gott sei alles, aber nicht Liebe, und daher wäre es der letzte Gedanke seines Herzens gewesen, sich in seine Gegenwart zu wagen. Die Sünde war da, und Gott kann sich mit der Sünde niemals vereinigen. Solange die Sünde auf dem Gewissen lastet, muss auch das Gefühl der Entfernung von Gott vorhanden sein. „Du bist zu rein von Augen, um Böses zu sehen, und Mühsal vermagst du nicht anzuschauen“ (Hab 1,13). Heiligkeit und Sünde können nicht zusammen wohnen. Die Sünde kann nur dem Zorn Gottes begegnen.