Behandelter Abschnitt Apg 25
Tritt Festus vor unsere Blicke. Ihn beseelte derselbe Wunsch. Er war nicht besser als sein Vorgänger. Sonderbarerweise schlug er vor, dass Paulus nach Jerusalem hinaufgehen sollte. Das war bei einem römischen Landpfleger - dem Hauptrepräsentanten des Reiches - unerhört: Er wollte eine Person, die vor ihn gestellt worden war, nach Jerusalem zurückzusenden, um dort von den Juden gerichtet zu werden! Paulus nahm sofort den wohlbekannten Grundsatz des Römischen Reiches ein, der eigentlich auch Festus hätte leiten müssen. Er sagte: „Ich stehe vor dem Richterstuhl des Kaisers, wo ich gerichtet werden muss; den Juden habe ich kein Unrecht getan, wie auch du sehr wohl weißt. Wenn ich nun Unrecht getan und etwas Todeswürdiges begangen habe, so weigere ich mich nicht zu sterben; wenn aber nichts an dem ist, wessen diese mich anklagen, so kann mich niemand ihnen preisgeben. Ich berufe mich auf den Kaiser“ (V. 10-11).
Hier handelt es sich eindeutig um einen Fall geistlichen Unterscheidungsvermögens. Damit hatte sich Paulus auf diesen Kurs festgelegt, so dass er später tatsächlich vor den Kaiser trat. Er war unwiderruflich. Menschen konnten ihn nicht mehr ändern. Paulus hatte den Satz ausgesprochen, also musste er vor den Kaiser treten. Nichtsdestoweniger lesen wir, dass kurze Zeit später Agrippa herabkam; und der römische Landpfleger, der den regen Verstand des Königs kannte, erzählte ihm Paulus‘ Geschichte. Er empfand seine Schwachheit im Umgang mit dieser Angelegenheit und wusste von der Anteilnahme Agrippas. Daraufhin sagte Agrippa dem Landpfleger, dass er selbst jenen Mann gerne einmal hören wollte. „Als nun des folgenden Tages Agrippa und Bernice mit großem Gepränge gekommen und mit den Obersten und den vornehmsten Männern der Stadt in den Verhörsaal eingetreten waren, und Festus Befehl gegeben hatte, wurde Paulus vorgeführt“ (V. 23). Hier finden wir einen sehr bemerkenswerten Gegensatz zu all dem Glanz und Pomp des königlichen Hofes. Der König selbst war ein sehr fähiger Mann, doch in sittlicher Hinsicht kraftlos. Seine Frau25 hingegen, begünstigt in natürlicher Hinsicht, war, ach!, völlig charakterlos. Beide befanden sich sogar bei den Nichtjuden unter dem Schatten eines außerordentlich peinlichen Verdachts - wie viel mehr bei den Juden!
Das waren die Menschen, welche zusammen mit dem römischen Landpfleger über den Apostel zu Gericht saßen. Und dann trat der mit Ketten gebundene Gefangene vor sie! Doch was für eine Kluft trennte sie von ihm! Welch ein Unterschied in den Augen Gottes! Was für ein Anblick bot sich Ihm, als Er diese Richter im Umgang mit einem solchen Mann wie Paulus sah, ohne dass sie den geringsten Fetzen hatten, der als Bedeckung vor Ihm bestehen konnte - ja, in schändlichsten und entwürdigendsten Umständen! In all dem Glanz ihres hohen Ranges auf der Erde und weltlicher Erhabenheit saßen sie da, um den armen, aber reichen Gefangenen des Herrn zu hören.
25 Anm. d. Übers.: Bernice (Berenike), Urenkelin Herodes' des Großen, war nicht die Frau Agrippas, sondern seine Schwester mit der ihm von seinen Zeitgenossen ein blutschänderisches Verhältnis nachgesagt wurde. Später wurde Bernice die Mätresse des nachmaligen Kaisers Titus. (Das große Bibellexikon I, Wuppertal & Giessen, 2. Aufl., 1990, S. 183)↩︎