Doch die Hohenpriester waren, wie üblich, noch gründlicher. Sie spotteten untereinander „und sprachen: Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten“ (V. 31).
Das war eine große Wahrheit – nur nicht in dem Sinn, wie sie es meinten. Beide Satzteile sind, wenn sie richtig angewandt werden, sehr wahr. Natürlich konnte Er sich selbst retten, aber Er tat es nicht – ja, wenn die Gnade in der Erlösung triumphieren wollte, dann konnte Er es nicht. „Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten.“ Das war die Geschichte Christi auf der Erde. Es war vor allem die Geschichte seines Kreuzes, wo die volle Wahrheit über die Person Christi ins Licht gestellt wurde. Obwohl Er für unsere Sünden unter der uneingeschränkten Heimsuchung des göttlichen Zorns sowie der größten Belastung durch äußere Umstände stand, ertrug Er alles in Vollkommenheit.
In Christus wurde seine persönliche Heiligkeit, die um jeden Preis zur Verherrlichung Gottes die Sünde hinwegschaffen sollte, seine Liebe, welche, ohne die eigenen Kosten zu scheuen, eine ewige Erlösung für andere einführen wollte, und die Gnade Gottes in vollem Ausmaß offenbart. Außerdem zeigten sich dort das gerechte Gericht, die Wahrheit und die Majestät Gottes. Ausschließlich das Kreuz ist es, welches alle Dinge ins rechte Licht stellt. Entfaltet wurden diese Wahrheiten allerdings erst in der Auferstehung, in der Gott bekannt gab, was Er über das Geschehen am Kreuz dachte. Der Herr wurde, wie gesagt wird, durch die Herrlichkeit des Vater aus den Toten auferweckt (Röm 6,4). Was am Kreuz vollbracht wurde, geschah für andere. Doch die Folgen für Ihn – und für andere – zeigten sich in der Auferstehung und der Erhöhung Christi zur Rechten Gottes.
Aber im Mund des Unglaubens tragen dieselben Ausdrücke einen ganz anderen Charakter als auf den Lippen des Glaubens. So kann sich auch ein Weltmensch den Anschein des Friedens angesichts des Todes geben, den nur der Glaube dem, der sein Auge auf Jesus richtet, wirklich gibt. Im zweiten Fall ist es Frieden, im ersten nicht mehr als Gleichgültigkeit. Bei einem einfachen Gläubigen, der die Fülle der Gnade nicht versteht, treten dann Angstgefühle auf, die viel größer sind als bei einem Ungläubigen; denn letzterer fühlt weder, was Sünde ist, noch was die Herrlichkeit Gottes fordern muss. Wenn eine Seele glaubt, jedoch noch nicht in der Gnade befestigt ist, befindet sie sich in Übungen und Furcht bezüglich ihrer ewigen Errettung. Und so muss es auch sein, bevor das Herz durch Christus Jesus zur Ruhe kommt.
Wie wenig kannten diese Hohenpriester das Geheimnis der Gnade! „Andere hat er gerettet!“, sagten sie. Sie mussten es anerkennen. Sich selbst wollte Er – konnte Er – nicht retten. Ja, unter dem Gesichtspunkt der Liebe und der göttlichen Ratschlüsse konnte Er sich selbst nicht retten. Er gab sein Leben für uns. Wir konnten auf keine andere Weise errettet werden. Darüber hinaus war Er seinem Vater um jeden Preis gehorsam. Er war entschlossen, seinen Willen auszuführen und auch unsere Heiligung zu bewirken. Nur in diesem Sinn konnte Er sich selbst nicht retten.
In der Natur des Herrn Jesus Christus bestand keine Notwendigkeit des Todes. Alle anderen Menschen standen durch Adam unter der Notwendigkeit des Todes. Christus besaß sie nicht, obwohl Er, der letzte Adam, Christus, durch seine Mutter von Adam abstammte. Er unterstand in sich selbst überhaupt nicht den Folgen der Sünde des ersten Adams, wenn Er auch all diese Folgen am Kreuz in Gnade trug. Trotzdem stand Er nicht unter ihnen. Er trug sie nach dem Willen Gottes und seiner eigenen unumschränkten Liebe ausschließlich für andere. Darum konnte Er ausdrücklich in Hinsicht auf das Kreuz sagen: „Ich habe Gewalt, es [mein Leben] zu lassen, und habe Gewalt, es wiederzunehmen“ (Joh 10,18). Seit Anfang der Welt war Er der einzige Mensch, der so reden konnte. Adam im Paradies hätte nicht so sprechen können. Nur Christus hatte dieses Vorrecht entsprechend den Rechten seiner Person. Seine Menschwerdung tat seiner göttlichen Herrlichkeit keinen Abbruch. Dass Er Gott war, schwächte sein Leiden als Mensch nicht ab. Seine Gottheit wurde nicht verringert; doch in Wirklichkeit wurde in seiner Person die menschliche Natur gewaltig erhöht.
Nichtsdestoweniger mussten die Schriften erfüllt werden. Der Gesalbte musste sterben. Gottes Herrlichkeit musste gerechtfertigt werden. Der Tod musste im Sterben überwunden und seine Macht – nicht durch einen Sieg, sondern durch Gerechtigkeit – gebrochen werden; denn das ist die wunderbare Frucht des Todes Christi. Die Macht des Todes wurde von der Gerechtigkeit verschlungen. Jesus selbst hat den Fluch, das Gericht über die Sünde, auf sich genommen, damit Gott sogar darin verherrlicht wurde. Daraus folgt die Fülle der Segnung und der Friede für den Gläubigen. Das gibt der Sühne ihren wundervollen Platz in der ganzen Wahrheit Gottes. Nichts kann sie ersetzen. Jesus ist in der Sühne der Stellvertreter für alle Menschen Gottes. Alles sonst, was für sich beanspruchen könnte, etwas mit dem Opfer für die Sünde zu tun zu haben, verschwindet.