Behandelter Abschnitt Mk 11-12
Ab Kapitel 10,46 folgt die letzte Szene. Der Herr zeigte sich Jerusalem, und zwar, wie wir alle wissen, von Jericho aus. Wir erfahren von seinem Weg nach Jerusalem, der mit der Heilung des Blinden begann. Ich will mich jetzt nicht mit den Einzelheiten beschäftigen, noch mit dem Einzug in die Stadt auf dem Eselsfüllen als der König. Auch brauche ich nichts mehr über den Feigenbaum, der an einem Tag verflucht wurde und am nächsten Tag völlig verdorrt war, zu sagen - oder zu der Aufforderung, dass wir Gott glauben sollen, und zu den Auswirkungen, die der Glaube auf das Gebet ausübt. Ebenso wenig müssen wir noch besonders auf die Frage der Autorität, welche die religiösen Führer stellten, eingehen.7
Das Gleichnis vom Weinberg enthält für einen Knecht, der Gott verantwortlich ist, sehr viel. Danach hören wir von dem verworfenen Stein, der später zum Eckstein wird. Wieder sehen wir die verschiedenen Gruppen der Juden, die mit ihren Fragen zu Ihm kamen. Jede dieser Szenen, die vor unserem Auge vorüberziehen, enthält durchaus wichtige Punkte; aber die vorgerückte Stunde erlaubt mir nicht mehr, sie ausführlich zu betrachten. Deshalb übergehe ich diese Einzelheiten absichtlich. Die Pharisäer und Herodianer wurden getadelt, die Sadduzäer widerlegt. Der Schriftgelehrte zeigte, was der wahre Charakter des Gesetzes ist. In seiner Antwort auf dessen Frage warf unser Herr tatsächlich das volle Licht Gottes auf das Gesetz. Aber Er verband das mit einer beachtenswerten Bemerkung an den Gesetzgelehrten. „Und als Jesus sah, dass er verständig geantwortet hatte, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reiche Gottes“ (V. 34).
Ist das nicht ein schönes Merkmal des Dienstes unseres Herrn? Er war bereit, alles anzuerkennen, was der Wahrheit entsprach, egal, wo Er es fand. Dann stellte der Herr seine Frage zu seiner Person nach der Schrift und warnte mit einigen Worten vor den Schriftgelehrten. Im Gegensatz dazu beachtete Er die gesegnete arme Witwe, die Er als ein Muster wahrer Hingabe und wirklichen Glaubens in diesem in geistlicher Hinsicht armseligsten Zustand des Volkes Gottes auf der Erde darstellte. In welch großartiger Weise missachtete Er hier völlig den Wohlstand, der nur das gab, was er überhaupt nicht als Verlust empfand! Stattdessen stellte Er die Handlungsweise des Glaubens für alle Zeiten heraus, die sich da zeigte, wo man sie am wenigsten erwartet hätte, und würdigte sie.
Die Witwe, welche nur die beiden Scherflein hatte, warf ihren ganzen Lebensunterhalt in den Schatzkasten Gottes. Und das tat sie zur Zeit der Altersschwäche, in der häufig die Selbstsucht ihr höchstes Maß erreicht. Wie wenig dachte jene Witwe daran, dass sie schon auf der Erde ein Auge gefunden hatte, welches anerkannte, was Gott zu seinem eigenen Ruhm in dem Herzen und durch die Hand der ärmsten Frau in Israel tun konnte! Und sogar eine Zunge war da, um dieses zu verkündigen.
7 Auf alle diese Punkte ist bei der Auslegung des Matthäusevangeliums schon eingegangen worden (Übs.)↩︎
Behandelter Abschnitt Mk 11,1-3
Der Herr geht jetzt auf seiner Reise nach Jerusalem weiter. Es war seine letzte Vorstellung, so weit das äußere Zeugnis reichte, als der Messias. Seine Aufgabe als Prophet war erfüllt und verworfen worden; das große Werk der Versöhnung lag noch vor Ihm. Zwischen beiden lag sein königliches Vorrücken, wie man es nennen mag, auf die Stadt des Großen Königs zu. Er war der vorhergesagte Prophet wie Mose; und doch sprach nie ein Mensch wie dieser Mensch. Er war das Gegenbild aller Opfer; und doch waren sie nur die Schatten und noch nicht einmal ein Bild der kommenden Wirklichkeit. Ebenso wich Er auch in seinem Charakter als König der Könige und Herr der Herren von der üblichen Handlungsweise von Königen ab, als Er in sein Besitztum auf der Erde, sein peculium (lat. „Sondergut“) einzog, indem Er die Frage, ob sein Volk in annehmen wollte, endgültig entscheiden ließ.
„Und als sie sich Jerusalem, Bethphage und Bethanien nähern, gegen den Ölberg hin, sendet er zwei seiner Jünger und spricht zu ihnen: Geht hin in das Dorf euch gegenüber; und sogleich, wenn ihr dort hineinkommt, werdet ihr ein Fohlen angebunden finden, auf dem noch nie ein Mensch gesessen hat; bindet es los und bringt es herbei. Und wenn jemand zu euch sagt: Warum tut ihr dies?, so sagt: Der Herr benötigt es, und er sendet es sogleich hierher“ (V. 1–3).17
Es handelt sich hier vor allem um eine Szene unter der leitenden Hand Gottes. Er beherrschte die Empfindungen der Zeugen, die sahen wie das Füllen weggeholt wurde. Genauso leitete Er im folgenden Ereignis die Handlungen und Zurufe der Volksmenge am Weg. „Die Entwürfe des Herzens sind des Menschen, aber die Antwort der Zunge kommt von dem Herrn [Jahwe]“ (Spr 16,1 nach der englischen „Authorized Version“). Das ist hier anscheinend so sehr der Fall, dass nach meiner Mutmaßung der Ausdruck „der Herr“ wie in Markus 5,19 absichtlich so unbestimmt gelassen wurde. Der Herr benötigte das Eselsfüllen, unabhängig davon, ob sie diesen Titel Jahwe oder dem König, der auf diese Weise in Gottes Namen kam, zuschrieben. Wenn ihr Glaube in dem Messias wirklich Jahwe erkannte, dann war es richtig und für sie nur umso besser. Doch ich bin mir nicht sicher, ob man darauf bestehen darf, dass die Absicht des Heiligen Geistes in beiden Fällen so weit ging, dem Wort „Herr“ diese Bedeutung zuzuschreiben. Nur zu den beiden letzten Versen dieses Evangeliums können wir mit Sicherheit sagen, dass Jesus als „der Herr“ bezeichnet wird. Diese Zurückhaltung unseres Evangelisten, der sich mit dem Dienst Jesu hienieden beschäftigt, bis zur Darstellung seines letzten Triumphes ist auffallend schön. Genauso ist es auch mit dem Weglassen dieses Titels vorher und seine Einführung am Ende des Evangeliums.
17 Wenn Lachmann (durch seine Interpunktion bzw. Nicht-Interpunktion der beiden letzten Sätze; denn er liest: ‘O κ´υριoς αυ᾿ τoυ῀ χρε´ιαν ε῎χει κα`ι ευ᾿ θ`υς αυ᾿ τ`oν α᾿ πoστ´ελλει ω῟ δε“) meint, dass es der Herr sei, der auch sogleich das Füllen sendet, dann erscheint es mir seltsam, warum er das Wort „π´αλιν“ nicht zusätzlich einfügt, welches in den Manuskripten von Sinai, Cambridge (Bezas), vom Vatikan, von Paris (L.) und mehr als zehn Kursivschriften enthalten ist. Nach meiner Meinung widerspricht das Wort „ω῟ δε“ dieser Interpretation, welche statt dessen das Wort „ε᾿ κε῀ι“ („dort“ oder „dorthin“) erfordert (W. K.). Anm. d. Übers.: Das von Kelly angeschnittene Problem ist anscheinend auch heute noch nicht gelöst. Es geht darum, wer das Eselsfüllen sendet: Ist es der Besitzer des Eselsfüllen oder der Herr Jesus? Die erste Frage, die beantwortet werden muss, besteht darin, ob hinter dem „bedarf seiner“ („χρε´ιαν ε῎χει“) ein Komma oder Semikolon stehen muss (Die griechischen Originaltexte der Bibel wurden nämlich ohne Satzzeichen geschrieben). Ohne Satzzeichen spricht alles dafür, dass das Subjekt des ersten Satzes, der Herr Jesus, auch das Subjekt des zweiten Satzes ist.
Dieser Ansicht folgt der erwähnte deutsche Herausgeber eines griechischen Neuen Testaments Karl Lachmann (1793–1851). Er fügt kein Satzzeichen ein. Nach seiner Meinung ist es der Herr Jesus, der das Füllen sendet, und zwar wieder zurück, nachdem er es nicht mehr braucht. Eine heutige Übersetzung, die dieser Ansicht folgt, befindet sich in dem Buch von K. Berger und Chr. Nord: Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, Frankfurt/M. & Leipzig, 1999 (vgl. auch die moderne Übersetzung „Hoffnung für alle!“). Die meisten Bibelwissenschaftler setzen jedoch ein Semikolon ein und beziehen den zweiten Satz auf den Besitzer des Füllens. Damit sind aber keineswegs alle Probleme gelöst; denn so wie der griechische Text heute akzeptiert wird, lautet er in deutscher Übersetzung: „und sogleich sendet er es wieder („π´αλιν“) hierher.“ Das Problem liefert das Wort „π´αλιν“ („wieder“). Das Wort „wieder“ spricht dafür, dass der Besitzer des Esels vorher schon etwas getan hat, was jedoch nicht der Fall ist. Stattdessen hat im Satz vorher der Herr Jesus gehandelt.
Darum weist Kelly auch darauf hin, dass Lachmann diese Stütze seiner Interpunktion (Satzzeichensetzung) nicht berücksichtigt hat. Andererseits besagt das Wort „ω῟ δε“ („hierher“), dass das Füllen zum Herrn Jesus und nicht zurück zum Besitzer gesandt werden sollte, denn dann müsste im Text das von Kelly erwähnte „ε᾿ κε῀ι“ („dort“ oder „dorthin“) stehen. Nach Chr. Briem: Das Neue Testament mit sprachlichen Erklärungen aus dem Grundtext 1, Hückeswagen, 1995, (vgl. auch „Nestle-Aland“, 26. Aufl. u. f.!) wird das Wort „π´αλιν“ („wieder“) heute nicht mehr als sicher zum Bibeltext gehörend angesehen. Vielleicht liegt die Lösung des Problems darin, dass tatsächlich dieses Wort gar nicht zum inspirierten Bibeltext gehört, sondern erst von den Abschreibern eingefügt wurde.↩︎