„Und er fragte sie: Ihr aber, wer sagt ihr, dass ich sei? Petrus antwortet und sagt zu ihm: Du bist der Christus“ (V. 29). Wir haben hier nicht wie im Matthäusevangelium den Ausspruch des Herrn: „Glückselig bist du, Simon Bar Jona“ (Mt 16,17). Wie kommt das? Wir haben hier auch nicht wie dort die bemerkenswerte Anrede an Petrus: „Du bist Petrus; und auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen“ (Mt 16,18).
Warum gibt es all diese Unterschiede? Weil Petrus hier vorgestellt wird, als hätte er nur gesagt: „Du bist der Christus. „Wenn hinzugefügt wird, dass er den Herrn als den „Sohn des lebendigen Gottes“ bekannte (Mt 16,16), wird auch besonders erwähnt, dass er glückselig sei, „denn Fleisch und Blut haben es dir nicht offenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist“. Ein so einzigartig herrliches Bekenntnis führte zu der Anerkennung der Gnade seines Vaters an Simon, Bar Jona, durch den Heiland. Daraufhin übte auch der Herr seine Rechte aus und gab ihm den neuen Namen „Petrus“ und fügte hinzu: „Auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen“. Er war der Sohn des lebendigen Gottes. Wäre Er nur der Christus, der Messias Israels, gewesen, hätte das keine ausreichende Grundlage für die Kirche ergeben. Seine messianische Würde – in welcher Er nach Psalm 2 ebenso als Sohn Gottes angesprochen wird – wäre ein ausreichender Felsen für Israel gewesen; denn das war der Gegenstand ihres Glaubens und ihrer Hoffnung. Doch die Worte „der Sohn des lebendigen Gottes“ waren eine Offenbarung seiner Herrlichkeit, welche die messianische weit übertraf.
In dem Augenblick, als der Herr in dieser seiner erhabensten Herrlichkeit erkannt und bekannt wurde, begann Er zum ersten Mal den Bau seiner Versammlung (Kirche) anzukündigen. Jenes neue Bauwerk, das den Platz Israels, welches Christus verwarf, einnehmen sollte, ist gegründet auf Ihn, der nicht nur der Christus, sondern auch der Sohn des lebendigen Gottes ist. Deshalb folgen danach die Hinweise auf Tod und Auferstehung, die Ihn nicht nur als Sohn Gottes in Kraft erwiesen, sondern auch dem Christen und der Kirche ihren angemessenen Charakter mitteilen (2Kor 5,15-19; Eph 1 und 2). Auf diesen Felsen ist die Versammlung gebaut. Was könnte klarer zeigen, dass diese etwas ganz und gar Neues ist? Der Versuch, die Bedeutung der Kirche in den Zeiten des Alten Testaments aufzuspüren, beweist nur, dass die wahre Natur des gegenwärtigen Tempels Gottes unbekannt ist.
Es ist wichtig, die Punkte des Unterschiedes und Gegensatzes zu sehen. Wenn man jüdische Pflichten, Erfahrungen und Hoffnungen mit der Offenbarung unseres Herrn, nachdem das Volk Ihn verworfen hat, verwechselt, löscht man zwar nicht jede Wahrheit aus, doch jeden Charakterzug der notwendigerweise zu dem „einen neuen Menschen“ gehört (Eph 2,15). Wenn man die volle Entfaltung der Person unseres Herrn im Neuen Testament und die daraus folgenden Verpflichtungen und Freuden des Christen nicht beachtet, nimmt man das weg, was insbesondere dem Christen und der Kirche Gottes obliegt.
Diese Gedanken zeigen, wie wichtig es für unsere Seelen ist, auf die Schrift zu achten. Es gibt Gläubige, die so mit menschlicher Überlieferung angefüllt und so unbewandert in den haushälterischen Wegen Gottes sind, dass ihnen die Vorstellung, die Kirche als Teil des Geheimnisses, das vor den Zeitalter verborgen war und erst seit Pfingsten offenbart ist, zu sehen, wie eine Wiederbelebung des monströsen und bösen Irrtums der Manichäer11 erscheint. Das Wort Gottes drückt sich jedoch nichtsdestoweniger klar und eindeutig über diese Wahrheit aus. Und Christen sollten lieber die Schriften untersuchen als tadeln, damit sie nicht etwa als solche gefunden werden, die gegen Gott streiten.
Das war also der weite Ausblick, der auf das hohe Bekenntnis des Petrus im Matthäusevangelium antwortete. Der Geist Gottes berichtet im Markusevangelium nur einen Teil jenes Bekenntnisses. Da Er absichtlich den einzigartigsten Teil desselben („der Sohn des lebendigen Gottes“) auslässt, so finden wir auch, und mit gleicher Absichtlichkeit, die Antwort des Herrn nur zum Teil angeführt. Die Wahrheit, dass Er der Sohn des lebendigen Gottes ist, konnte, wie wir gesehen haben, zwar jetzt schon anerkannt, aber noch nicht frei und vollständig herausgestellt werden, bevor unser Herr durch Sterben und Wiederauferstehen sozusagen das Siegel auf diese großartige Wahrheit gelegt hatte. Darum war erst der Apostel Paulus der große Zeuge von ihr. Das erste Zeugnis, dass er in der Synagoge nach seiner Bekehrung ablegte, besagte nach Apostelgeschichte 9,20, dass Christus nicht nur zum Herrn gemacht wurde, sondern auch „der Sohn Gottes ist“. Folglich verkündigte er auch die Berufung, die Natur und die Hoffnungen der Kirche Gottes in einer Weise wie niemand sonst.
Ich möchte jedoch die Aufmerksamkeit auch darauf lenken, dass, obwohl Petrus hier nur sagt: „Du bist der Christus“, unser Herr ihnen dennoch befiehlt, niemand davon zu sagen. So handelt Er in allen drei synoptischen Evangelien. Diesen Gesichtspunkt der Unterweisung sollte man wohl beachten! Denn zuerst hatte Er sie gefragt: „Wer sagt ihr, dass ich sei?“ Dann, nachdem Er das Bekenntnis über seine Person von Petrus gehört hatte, verpflichtete Er sie, niemand davon zu erzählen. Wie kommt das?
Dazu war es zu spät! Er hatte dem Volk ausreichend Beweise gewährt. Die Zeit war vorbei, Ihn weiter als den jüdischen Messias vorzustellen. Es war dem Volk genug erzählt worden; und wer sagte dieses Volk, dass Er sei? Etwas anderes steht jetzt vor Ihm, und Er macht es auch den Jüngern, seinen Freunden, bekannt. Er würde weggehen. Deshalb zieht Er sich zurück auf eine andere Herrlichkeit, die Ihm gehört. Wenn Er als „Sohn Davids“ verworfen wurde, dann wurde Er durch den Glauben als „Sohn des lebendigen Gottes“ anerkannt. Doch Er ist auch der „Sohn des Menschen“. Er stand im Begriff, bis zum Tod erniedrigt zu werden; und das konnte nur in seiner menschlichen Natur geschehen. So wird Er auch dereinst als Sohn des Menschen in seiner Herrlichkeit zurückkehren (vgl. V. 31 mit V. 38).
11 Manichäismus: Weltreligion der Antike und des frühen Mittelalters, die sich z. T. mit christlichen Lehren vermischte (Übs.).↩︎