„Und sie sahen einige seiner Jünger mit unreinen, das ist ungewaschenenHänden Brot essen“, fanden sie etwas zu tadeln (V. 2).
Zweifellos lag in diesem Verhalten kein sittlicher Fehler, nichts, was ihre Seele berührte, bzw. das Verhältnis eines Menschen zu Gott beeinflusste. Doch es widersprach ihrer Überlieferung, und darum ärgerten sie sich. Es ist leicht zu verstehen, dass diese Überlieferung einen frommen Ursprung hatte. In den Gedanken dieser Führer bestand wahrscheinlich eine Vorstellung davon, dass man die Bedeutung einer persönlichen Reinheit vor dem Volk aufrechterhalten müsse; denn das Waschen der Hände könnte dann ein ganz natürliches Zeichen davon sein, dass Gott in den Werken seines Volkes Reinheit sucht und auf Heiligkeit wert legt. Es kommt nicht darauf an, ob es diese Auffassung war oder eine andere, nach der sie den Israeliten ihre Pflicht in den Dingen Gottes vorstellen wollten – auf jeden Fall wurde dieser Brauch von jedem religiösen Bekenner erwartet.
Sie konnten auch indirekt ihre Meinung verteidigen. Zweifellos hatten sie diese dem Wort Gottes entnommen; denn dort gab es gewisse Waschungen, welche die Menschen schon immer ausführten. So sollten die Priester die zu Gott gebrachten Opfer waschen. Sie selbst waren bei ihrer Weihe gewaschen worden und mussten immer ihre Hände und Füße waschen, bevor sie in das Zelt der Zusammenkunft gehen durften. Es erschien vernünftig und folgerichtig, dass dieser gleicherweise einfache wie ausdrucksvolle Ritus von jedem Menschen aus dem heiligen Volk in seinen tagtäglichen gewöhnlichen Verrichtungen beobachtet werden sollte. Wer könnte sich wirklich die Notwendigkeit einer persönlichen Reinheit zu oft vor Augen halten?
Aber genau hier irrten die Menschen sich. Der große Grundsatz des Wortes Gottes besteht darin, dass da, wo der unendlich weise und heilige Gott keine ausdrückliche Anordnung gegeben hat, ein Mensch diese Freiheit nicht verletzen darf. Im Widerspruch hierzu nutzt der Mensch diese Lücke, und macht sich da, wo Gott kein Gesetz gegeben hat, ein eigenes. Gott hat jedoch keine Vollmacht erteilt, auf diese Weise Gesetze zu erlassen. Die Hälfte aller Meinungsverschiedenheiten und Kirchenspaltungen in der Christenheit sind auf diese Ursache zurückzuführen. Die Eile des Menschen, eine Schwierigkeit zu lösen, nimmt zu solchen Maßnahmen ihre Zuflucht. Eine weitere Ursache ist das Verlangen des Menschen, seinen eigenen Willen dort durchzusetzen, wo Gott nicht ausdrücklich etwas bestimmen wollte, sondern die Dinge als eine Probe für das Herz offen gelassen und absichtlich von einem Gebot Abstand genommen hat. Es kann niemand überraschen, dass das, was auf eine solche Weise eingeführt wurde, fast immer böse ist. Doch angenommen, die auferlegte Bestimmung erscheine noch so wünschenswert, so ist das zugrundeliegende Prinzip immer falsch.
Mein Verlangen ist, sehr großen Nachdruck darauf zu legen, dass man außer dem Wort Gottes, wie es jetzt geschrieben vorliegt, keiner Regel irgendeine Autorität gibt. Es ist gut, auf Menschen Gottes zu hören, sich von Knechten Gottes helfen zu lassen und eine Auslegung der Wahrheit zu schätzen – doch das ist etwas ganz anderes als ein verbindliches Regelwerk oder ein Glaubenbekenntnis, welches die Menschen als bindend auf das Gewissen legen. Es ist niemals richtig, etwas, das vom Menschen kommt, anzunehmen. Allein Gott und sein Wort verpflichten das Gewissen. Seine Knechte sollen lehren; und wenn sie richtig lehren, dann ist es die Wahrheit Gottes. Sie sorgen dafür, dass das Wort Gottes seinen Einfluss auf das Gewissen ausübt. Deshalb wird auch niemand, der die Stellung eines Knechtes Gottes versteht, wünschen, eine solche vermischte Verpflichtung hervorzurufen, indem er seine eigenen Gedanken und Worte für verbindlich erklärt. Seine richtige Aufgabe als Knecht Gottes besteht vielmehr darin, die unverhüllte Oberhoheit des Wortes Gottes aufrechtzuerhalten, sodass das Gewissen unter ein zunehmend wirksameres Gefühl seiner Verpflichtung gestellt wird. Wann immer ein Werk gut ausgeführt und durch die Gnade Gottes gesegnet worden ist, sind alle weiteren Fragen gelöst.
Das ist das wahre Ziel eines Dienstes, wie ihn die Schrift anerkennt. Sie stellt ausreichend heraus, dass die Gewissen der Menschen geweckt werden sollen. Der Geist Gottes gibt ihm die göttliche Kraft, sodass den Seelen keine Entschuldigung mehr bleibt. Sogar bei der Predigt des Evangeliums steht jeder unbekehrte Mensch unter der Verantwortung, das Zeugnis Gottes anzunehmen. Das gilt in göttlichen Dingen noch mehr, nachdem wir die Wahrheit angenommen und den Platz und den unschätzbaren Wert des Wortes Gottes entdeckt haben. Welche Hilfestellung auch immer Menschen gegeben haben und wie stark das Licht Gottes auch immer durch die Werkzeuge, die Gott benutzte, schien – es ist von allumfassender Bedeutung, dass unsere Seele festhält, dass es dennoch Gottes Licht, Gottes Wahrheit, ist. Nichts außer dem Wort Gottes darf als verbindlich anerkannt werden.
Sicherlich ist es jetzt nicht die Aufgabe eines Christen, eines Knechtes Gottes, zwischen dem Menschen und Gott zu stehen. Das war die Stellung des Priesters im Judentum. Der Christ soll die verhüllenden Hindernisse wegräumen, damit der Mensch sich der Wahrheit, und in Wirklichkeit Gott selbst, gegenübergestellt sieht, ohne ausweichen zu können, und damit das Licht, das von Gott ausgeht, voll auf das Gewissen und das Herz des Menschen scheinen kann. Das gefällt dem sich selbst überlassenen Menschen nicht. Es missfällt der Welt, die eine gewisse Zurückhaltung vorzieht. Und diese Pharisäer und Schriftgelehrten waren, obwohl sie aus Jerusalem kamen, in Wirklichkeit von der Welt. Darum überlegten sie in göttlichen Dingen einfach, wie Menschen es normalerweise tun, und nach Grundsätzen, die in irdischen Dingen zu Recht gültig sind. Das Wort war in ihren Herzen nicht mit dem Glauben verbunden (Heb 4,2).
Zweifellos überlässt Gott den Menschen in der natürlichen Welt weitgehend sich selbst, außer dass Er durch die Vorsehung eine gewisse Kontrolle über ihn aufrechterhält. Die Regierung auf der Erde ist in menschliche Hände gelegt. Der Mensch steht unter der Verantwortung, diese Regierung auf der Erde auszuüben bzw. ihr zu gehorchen. Deshalb soll er entsprechend den Mitteln, die Gott ihm gegeben hat, richten. Gott hat dazu gewisse Orientierungszeichen gesetzt. Ein Beispiel ist die Heiligkeit des menschlichen Lebens, welche Gott schon vor der Berufung Abrahams herausstellte und die als Grundsatz damals wie heute verpflichtend ist: „Wer Menschenblut vergießt, durch den Menschen soll sein Blut vergossen werden“ (1Mo 9,6). Diesen Grundsatz stellte Gott zur Zeit der Sintflut auf. Doch abgesehen von wenigen gleichartigen Ausnahmen ist der Mensch frei, den Umständen entsprechend seine verschiedenen Strafen und Belohnungen in dieser Welt auszuteilen.
In göttlichen Dingen geht es jedoch darum, dass Gott durch sein Wort und seinen Geist mit dem Gewissen, welches Ihm unmittelbar unterworfen ist, handelt. Daraus folgt, dass alles, was die direkte Einwirkung der Schrift von Seiten Gottes auf seine Kinder unterbricht, ein schlimmes Unrecht ist. Der Mensch stellt sich auf den Platz Gottes. Dieses Kennzeichen liefert einen sicheren Hinweis bei der Unterscheidung, ob etwas von Gott ist oder nicht. Wenn man mir von Hilfsmitteln erzählt, um das Wort Gottes zu verstehen, dann weiß ich, dass es diese gibt und dass Gott sie gegeben hat. Es handelt sich um Gegenstände des Dienstes, den Gott eingesetzt hat, um seinem Wort Wirksamkeit zu verleihen. Aber nichtsdestoweniger ist sein Wort das Mittel, um sich mit Sündern zu befassen oder seine Kinder aufzuerbauen. Sicherlich stützen diese Hilfsmittel den Dienst Gottes in seinem Wort und stellen keine konkurrierende oder seinem Wort gleichrangige Autorität dar.
Die Überlieferung ist notwendigerweise anders. Sie geht nicht von Gott, sondern vom Menschen aus. Wir finden schon im Neuen Testament und während der Apostel Paulus noch mitten in seiner Arbeit stand, den Versuch, sie einzuführen. Die Versammlung in Korinth zeigte vielleicht den ersten Versuch des Feindes, menschliche Überlieferung einzuschmuggeln. Die Korinther hatten erlaubt, dass Frauen in den öffentlichen Versammlungen predigten. Der Apostel musste es öffentlich tadeln. Man konnte viel zu Gunsten ihrer Handlungsweise anführen. Die Menschen mochten überlegt haben: Wenn Frauen Gaben haben – warum sollen diese nicht genutzt werden? Wenn Gaben vorhanden sind, um die Wahrheit Gottes herauszustellen – warum sollte man in einer christlichen Versammlung nicht den größten Nutzen daraus ziehen? Das Wort Gottes verbietet das aber ausdrücklich. Es erlaubt, dass eine Frau weissagt; denn die vier Töchter des Evangelisten Philippus, zum Beispiel, weissagten zweifellos (Apg 21,9). Es erheben sich nun die Fragen: Wo und wie?
Zu allererst einmal weissagten sie nicht Männern; denn das würde die Ordnung Gottes umkehren. Es ist einer Frau nicht erlaubt, zu lehren oder zu herrschen (vgl. 1Kor 14,34). Wenn ihnen also erlaubt war, alles an Licht, das sie hatten, und sei es von höchstem Charakter, vorzustellen, dann sollte es in Unterwürfigkeit unter das Wort des Herrn geschehen. Ein Mann ist, wie der Apostel zeigt, Gottes Herrlichkeit (1Kor 11,7). Hingegen ist die Frau in einer Stellung der Unterordnung. Der Mann hat öffentlich die Stellung des Vorranges vor der Frau (1Kor 11,3). Es konnte demnach niemals vorausgesetzt werden, dass Gott einer Frau eine Gabe gab, damit sie in einer so wichtigen Angelegenheit den Unterschied aufhob, der vom Anfang der Schöpfung an bestand und der im Neuen Testament anerkannt und auf den dort großer Wert gelegt wurde.
Zudem wurde in einer öffentlichen Versammlung, das Reden der Frau in jeder Form – sogar das Stellen von Fragen – verboten (1Kor 14,34-40). Sie sollen zu Hause ihre Ehemänner fragen. Gerade die Zulassung des Frauendienstes war es, die den Apostel veranlasste, die Überlieferung zu verurteilen. Die Korinther hatten nämlich anscheinend diesen begabten Frauen erlaubt, in der Versammlung zu reden, und kämpften für diese Freiheit. Doch der Apostel weist sie zurecht und stellt ihnen vor Augen, dass, wenn einige von ihnen wirklich geistlich oder Propheten wären, sie sich dem Wort des Herrn unterwerfen würden. Andererseits, wenn jemand von ihnen unwissend sei, dann sollte er eben unwissend sein. Was für ein Schlag gegen diese möchte-gern weisen Theoretiker, als sie hören mussten, dass ihre Theorien als vorsätzliche Unwissenheit abgetan wurden! „Wenn aber jemand unwissend ist, so sei er unwissend“ (1Kor 14,38). Diese hochtrabenden Männer waren wirklich unwissend über die Gedanken Gottes.
Offensichtlich ist diese Erkenntnis außerordentlich wichtig, denn sie führt uns zu jener großen Wahrheit, welche die Kirche Gottes vergessen und in allen Zeitaltern mit Füssen getreten hat. Denn das Wort Gottes ist nicht von uns ausgegangen. Wir brauchen das Wort, das von Gott zur Kirche (Versammlung) gelangte, und nicht das, was die so genannte Kirche sich anmaßte auszusprechen. Die Kirche sollte niemals lehren oder herrschen. Was vom Menschen oder von der Kirche kommt, hat überhaupt keine Autorität. Im Gegenteil, die Kirche ist berufen, den Platz der Unterwürfigkeit unter Christus einzunehmen. Sie nimmt nicht die Stellung des Hausherrn, sondern den der Gemahlin ein. Jesus ist der Herr. Er befiehlt der Kirche, welche von Gott in die weibliche Stellung als dem Herrn unterworfen versetzt wurde.
Das führt sofort in der Praxis zu einem bedeutungsvollen Widerspruch. Denn wir5 können uns alle noch daran erinnern, dass wir einst dachten, die menschlichen Regeln in den Dingen Gottes seien richtig und notwendig. Es schien uns, dass der kirchliche Zustand ohne menschliche Regelung nicht aufrechtzuerhalten sei. Wir urteilten, dass die gegenwärtige Lage so von der am Anfang abwich, dass es unmöglich wäre, das Wort Gottes in seiner Ganzheit auf die Kirche anzuwenden. Deshalb müssten also neue Regeln eingeführt werden, die für unsere Tage passender seien. Wenn man einen solchen Grundsatz zulässt, tut man zweierlei. Zunächst einmal verunehrt man das Wort Gottes; denn das Wort Gottes ist nicht wie das Wort eines Menschen ein toter Buchstabe.
Das Wort Gottes ist damals wie heute ein lebendiges Wort. In Hinsicht auf sein Heil glaubt jeder Christ daran – jedoch nicht hinsichtlich seines Wandels und seiner Leitung Tag für Tag und erst recht nicht bezüglich des Gottesdienstes und der Verwaltung der Kirche. Ist es nicht ganz offensichtlich ein unheilvoller Grundsatz, wenn man in der einen Angelegenheit dem Wort Gottes eine ausreichende Autorität zuschreibt und es in einer anderen im Grunde genommen für veraltet und tot hält? Wagt man sich damit nicht in die Nähe des verhängnisvollen Absturzes in den Unglauben? Ich sage nicht, dass Menschen, die so reden und handeln, ungläubig sind. Doch es ist ein ungläubiger Grundsatz, wenn man irgendein Teil des Wortes Gottes, sozusagen, dem Grab übereignet. Es ist Unglaube, wenn man festhält, dass all jene Bibelabschnitte, die sich ausführlich mit der Einheit der Christen und der Anbetung beschäftigen und die Art, wie sie zusammen wandeln sollen im Bekenntnis ihres Herrn und in gemeinsamer Unterwürfigkeit unter das Wort und den Geist Gottes, überholt und für die heutigen Heiligen nicht mehr verpflichtend seien.
Aber man verunehrt auf einem solchen Weg das Wort Gottes noch in anderer Weise; denn man entthront es nicht nur von seinem Platz der Oberhoheit über das Gewissen, sondern man erhöht auch noch die Gebote des Menschen. Man missachtet die wahre Autorität und erkennt einen Thronräuber an. Offensichtlich muss es irgendetwas geben, das mich leitet. Wenn ich mich nicht einfältig unter das Wort Gottes stelle, dann beuge ich mich sicherlich dem Wort des Menschen. Einige ziehen ihre eigenen Gedanken vor, indem sie denken, dass ihre eigene Weisheit denen anderer Menschen überlegen sei. Doch im allgemeinen zeigt sich nicht diese Form der individuellen Unabhängigkeit, sondern vielmehr die des Zusammenschließens einer Anzahl Personen, welche sich gegenseitig Mut machen, an dem Rennen nach Unabhängigkeit teilzunehmen. Das schließt aber Unabhängigkeit gegen Gottes Wort ein.
Wir leben in einer Zeit, in der Satan alles versucht, um den Wert der Bibel abzuschwächen. Andererseits hat Gott ihren Wert jetzt viel mehr herausgestellt und legt ihre praktische Bedeutung mit mehr Nachdruck auf die Gewissen als in früheren Tagen. Es gab eine Zeit, als keiner von uns je über diesen Gegenstand geübt war. Es wurde als selbstverständlich vorausgesetzt, dass menschliche Zusatzregeln erforderlich seien. Doch jede von Menschen zur Leitung von Christen erfundene Regel ist eine Überlieferung, und zwar übelster Art, weil sie auf diese Weise zu einer ausdrücklichen Autorität für Glaube und Tat gemacht wird.
5 Das sind die Christen um 1850 (Übs.).↩︎