„Und frühmorgens, als es noch sehr dunkel war, stand er auf und ging hinaus und ging hin an einen öden Ort und betete dort“ (V. 35).
Obwohl Er früh und spät mit den Leiden anderer beschäftigt war, erfahren wir hier, wie Er der Morgendämmerung zuvor kam, um im Dunkel der Nacht mit seinem Vater Umgang zu pflegen. Was waren das für Gespräche zwischen einem solchen Vater und einem solchen Sohn! Das Alte Testament berichtet uns: „Der Herr, Herr [Jahwe], hat mir eine Zunge der Belehrten gegeben, damit ich wisse, den Müden durch ein Wort aufzurichten. Er weckt jeden Morgen, er weckt mir das Ohr, damit ich höre gleich solchen, die belehrt werden“ (Jes 50,4).
Das Neue Testament erzählt uns, wie Er lange vor Tagesanbruch an einen öden Ort ging, um dort zu beten. Und wenn Er, der selbst der Herr-Gott war, sich so zurückzog, um mit Gott alleine zu sein, bevor Er sich seiner Tagesarbeit zuwandte – müssen wir uns dann wundern, wenn wir in unserer äußeren Arbeit so oft versagen, da wir es so sehr an jener inneren Vertraulichkeit mit dem Vater vermissen lassen? Seid versichert: Das Geheimnis heiliger Kraft und Ausdauer im Dienst wird allein dort gefunden.
Bevor wir von der Reinigung des Aussätzigen sprechen, lasst uns ein wenig den Aufbau unseres Evangeliums im Vergleich zu den anderen betrachten. Eine genaue Prüfung wird den Leser schnell überzeugen, dass Markus der Reihenfolge der Ereignisse nachgeht. So handelt auch Johannes, mit einer kleinen Ausnahme, insoweit er uns einen geschichtlichen Bericht mitteilt. Weder Lukas noch Matthäus halten an der offensichtlichen Aufeinanderfolge der Ereignisse fest. Der Erstere berichtet unter dem Aspekt, uns die sittlichen Bezüge der Ereignisse zu entwickeln und den wirklichen Zustand des Menschen und die bewunderungswürdigen Hilfsquellen der göttlichen Gnade darzustellen. Der Letztere ordnet die Ereignisse so an, dass er um so lebendiger den Wechsel der Haushaltung als Folge der Verwerfung des Messias offenbart.
Das sind, glaube ich, die Ziele des Heiligen Geistes in den verschiedenen Evangelien. Dabei behaupte ich keinesfalls, dass ich sagen könnte, wie weit die Autoren in die weitreichenden Absichten Gottes in ihren eigenen inspirierten Schriften eingedrungen sind. Im Allgemeinen besteht der Charakter der neutestamentlichen Inspiration in verständnisvoller Gemeinschaft mit den Gedanken Gottes. Es handelt sich nicht nur um die Benutzung eines Werkzeugs, wie das gewöhnlich bei den jüdischen Propheten der Fall war (1Pet 1,10-12). Es bleibt eigentlich nur die Frage nach der Absicht Gottes; denn Er achtete auf die bleibende Belehrung und den Segen seiner Kirche (Versammlung) durch das geschriebene Wort.
Es bestehen häufige und schwerwiegende Unterschiede zwischen den verschiedenen Darstellungen des Herrn in den Evangelien, und zwar sowohl in der Reihenfolge der Erzählungen als auch in der Art und Weise, in der ein einzelnes Ereignis und eine Predigt vor uns gestellt werden. Wem sollen wir diese ständig wechselnden Schatten zuschreiben? Beruhen sie auf der Unfähigkeit guter Menschen, welche ihre Arbeit, so gut sie konnten, ausführten und von denen man nicht erwarten kann, dass sie absolut übereinstimmen? Denn selbst die Besten und Fähigsten stimmen in ihren Gedanken, Gefühlen, Auffassungen und Urteilen nicht überein.
Oder sollten wir nicht im Gegenteil diese scheinbaren Widersprüche vielmehr der Weisheit Gottes anstatt der Schwachheit der Menschen zuschreiben? Und dürfen wir nicht ehrfurchtsvoll erwägen, dass alle ihre Abweichungen voneinander genauso mit Wahrheit erfüllt sind wie ihre offenkundigen Übereinstimmungen? Wir vergessen dabei nicht einen Augenblick, dass wir in den Büchern der Schrift in wunderbarer Weise den individuellen Stil und die Schreibweise der Schreiber erhalten finden. Aber wir alle sollten uns immer daran erinnern, dass eine Erhaltung der Individualität nicht eine Zulassung von Irrtümern bedeutet. Die göttliche Inspiration lässt keine Irrtümer zu; sie zerstört jedoch auch nicht die Individualität.
Nur dem flüchtigsten Leser ist nicht bekannt, dass es zahlreiche und auffallende Unterschiede in den Evangelien gibt. Dass diese Unterschiede von Gott gegeben und nicht auf Unachtsamkeit zurückzuführen sind, ist jedem Gläubigen gleichfalls klar. Falls man bekennt, dass die Evangelisten inspiriert wurden, und dennoch den Evangelien Fehler irgendeiner Art zuschreibt, dann täuscht man sich selbst und sündigt gegen Gott. Die Inspiration ist keine Inspiration mehr, wenn sie sich mit Fehlern verträgt. Es ist etwas ganz anderes, wenn wir die Schatten des Unterschieds erklären und aufzeigen, wie notwendig, sinnvoll und göttlich vollkommen sie sind. Letzteres beruht auf dem Maß unserer geistlichen Kraft und unseres geistlichen Verständnisses. Doch kein Christ sollte auch nur einen Augenblick zögern, wenn es darum geht, einen Zweifel über das Wort Gottes abzuweisen.
Gott hat dafür Sorge getragen, dass von den Schreibern der Evangelien zwei (Matthäus und Johannes) Apostel waren und zwei nicht (Markus und Lukas). Dabei wurden sie natürlich alle in gleicher Weise inspiriert. Außerdem hatte seine Weisheit es so eingerichtet, dass von diesen beiden Gruppen jeweils einer (Markus und Johannes) an der chronologischen Reihenfolge festhielt. Die anderen beiden (Matthäus und Lukas) sollten in einem gewissen Maß die Ereignisse anders anordnen, anstatt sie einfach hintereinander in der Reihenfolge aufzuzeichnen, in der sie geschahen. Es ist bemerkenswert, dass wir gerade unserem Evangelisten, der kein Apostel war, den klarsten Blick auf die geschichtliche Aufeinanderfolge des Dienstes unseres Heilandes verdanken. Das gilt auch für die Ereignisse vom Kreuz bis zur Himmelfahrt, die dem Dienst folgten und ihn krönten.
Wenn wir unsere Betrachtung dieses Evangeliums weiterverfolgen, werden wir von Zeit zu Zeit Beweise finden, dass Markus in seiner kurzen, schnellen, jedoch sehr lebensnahen Skizze die Folge der Ereignisse einhält. Ich stelle hier diese Tatsache dar; falls sie als richtig angenommen wird, erkennt man sofort ihre große Wichtigkeit. Wir haben so nämlich eine Art Standard für die Reihenfolge, an dem wir wie an einem vollkommenen Maßstab die Umstellungen von Matthäus und Lukas beurteilen können. Wir müssen dann reiflich im einzelnen die Grundsätze und die Gegenstände bedenken, die der Heilige Geist im Blick hatte, als Er diese Evangelisten dazu anleitete, gewisse Ereignisse, Wunder oder Predigten aus der natürlichen Reihenfolge herauszunehmen, um sie an einer anderen Stelle in ihren Text einzufügen. Dabei wurde selbstverständlich genauso eine bestimmte Ordnung eingehalten wie bei Markus, nur dass sie natürlich besser zu der besonderen Absicht des Geistes im jeweiligen Evangelium passt.
Auch die Auslassung oder Anführung bestimmter Punkte in einem oder mehreren Evangelien, aber nicht in den übrigen, beruht auf derselben Ursache. Zum Beispiel wird das erste Aufdämmern des wahren Lichtes in den Herzen von Andreas, Johannes, Petrus, usw. nur in Johannes 1 geschildert. „Er ruft seine eigenen Schafe mit Namen und führt sie heraus“ (Joh 10,3). Auf der anderen Seite zeigen uns nicht Johannes, sondern die anderen Evangelisten die öffentliche Aufforderung an die genannten Jünger, Christus nachzufolgen und Menschenfischer zu werden. Von diesen versieht uns nur Lukas (Lk 5,10.11), und zwar unabhängig von dem wirklichen Zeitpunkt, mit den Einzelheiten des wunderbaren Fischzugs, welchen der Herr veranlasste, um mit solcher herzerforschenden Kraft an der Seele des Petrus sowie seiner Freunde zu wirken.
Andererseits stimmt die Reihenfolge der Ereignisse am Anfang des Dienstes unseres Herrn im Lukasevangelium mit der im Markusevangelium überein, außer dass allein das erstere mit der Szene in der Synagoge von Nazareth beginnt (Lk 4,16-29). Diese illustriert so lebendig die Dazwischenkunft der göttlichen Güte in Jesus, der mit dem Heiligen Geist und mit Kraft gesalbt war, und zeigt, wie nach seiner Verwerfung durch sein Volk die Gnade zu den Nicht-Juden ausfließt. Matthäus bringt hier keine Einzelheiten (Mt 4,23-25), sondern verweilt bei seiner Predigt und seinen Wundern in ganz Galiläa, ihrem weitreichenden Ruf und ihren Folgen. Nach diesem weiten Ausblick folgt die Bergpredigt, welche aus der zeitlichen Reihenfolge herausgenommen wird, um schon am Anfang eine ausführlichere Erklärung der Grundsätze des Reiches zu geben.
Markus bringt diese Predigt nicht. Es war nicht seine Aufgabe, den Charakter des Reiches der Himmel im Gegensatz zum Gesetz (wie es der Prophet wie und größer als Mose (5Mo 18,15) im Matthäusevangelium tut) zu entfalten. Er sollte im einzelnen von den Werken und dem Evangeliumsdienst des Herrn erzählen. Ich glaube, der richtige Platz für die Bergpredigt wäre, wenn Markus sie angeführt hätte, in der Mitte seines dritten Kapitels gewesen. Auf diese Weise erleichtert uns der Vergleich mit der chronologischen Folge der Ereignisse bei Markus als, sozusagen, festem Maßstab unsere Kenntnis von den Umstellungen bei Matthäus und Lukas. Dann können wir erwägen, warum die göttliche Weisheit ihre Berichte jeweils so gruppiert hat.