Behandelter Abschnitt Hag 1-2
Der Prophet Haggai
Dieses Buch ist ein Zeugnis dafür, wie schnell Verfall einsetzt und erneutes Verderben auf Wiederherstellung und Segen folgt.
Zu Beginn des Buches Esra finden wir die Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft nach Jerusalem, und zwar in wunderschöner, verheißungsvoller Weise. Tausende verließen Babylon. Die zurückblieben, halfen ihnen mit ihren Gütern. Ein allgemeines Aufwachen des Herzens des Volkes und der Kraft des Volkes wurde sichtbar.
Das erste, was die zurückgekehrten Gefangenen taten, war, daß sie das Haus Jehovas bauten. Sie legten seinen Grund mit gemischten und verschiedenartigen Empfindungen, die aber doch anzeigten, wie hingebungsvoll und ganz persönlich ihr Einsatz bei diesem Werke war. Tränen und Freude, Frohlocken und Klagen bekundeten die lebendige Wirklichkeit jener Tage, voller Hoffnung, daß die begonnene, ernstgemeinte Arbeit einen guten Verlauf nehmen und auch zu einem glücklichen Abschluß geführt würde. Doch es kam anders. Jene Erwartung erfüllte sich nicht. Hat der Mensch je eingelöst oder verwirklicht, was er gelobt oder versprochen und was man ihm zur Verwaltung anvertraut hatte? Der heidnische Same, der in das Land der zehn Stämme verpflanzt worden war, wurde der Anlaß zu Hindernissen und Schwierigkeiten. Der Bau des Hauses wurde eingestellt, und zwar für die lange Zeit von 14 Jahren. Während dieser Zeit kennzeichnen Schlaffheit und Beschäftigung mit eigennützigen Dingen das Volk, das so ernsthaft und einmütig begonnen hatte.
Unter diesen Gegebenheiten wendet sich der Geist an Haggai, und das Wort Jehovas richtet sich durch ihn an Serubbabel, den Landpfleger von Juda, und an Josua, den Hohenpriester, und an die Versammlung der zurückgekehrten Gefangenen.
Im zweiten Jahr Darius', des Königs von Persien, wurde Haggai von dem Geist berufen. Diese Zeitangabe ist nicht ohne Bedeutung. Sie verrät die Erniedrigung Israels. Bald wird das römische Geld das gängige Zahlungsmittel im Land sein, und Israel wird dann durch sein eigenes Land unterwiesen werden, das Hoheitszeichen des Römischen Staates anzuerkennen. Der Geist gibt ihnen hier die gleiche Belehrung, indem die Abschnitte ihrer Geschichte mittels der Herrschaft der Perser gekennzeichnet werden.
Haggai beginnt damit, das Volk wegen der Vernachlässigung des Hauses Gottes zur Rede zu stellen. Sie waren besorgt um ihre eigenen Häuser. Er versucht, ihnen bewußt zu machen, daß ihr gegenwärtiger Zustand die Folge dieses Verhaltens ist. Er macht sie darauf aufmerksam, daß die Frucht, die sie von ihren Feldern und Weingärten ernteten, in keinem Verhältnis stand zu aller Arbeit und Mühe, die sie darauf verwandt hatten. Durch diese Zurechtweisung wird das Volk zu der Furcht Gottes zurückgeführt. Und nachdem die Furcht erwacht, das Gewissen erreicht und der brachliegende Boden der Natur gepflügt ist, beginnt dieselbe Stimme Gottes durch Haggai ihren Dienst des Trostes und der Ermunterung. „Denn ich bin mit euch, spricht Jehova“ (Kap. 2, 4). Der Geist berührt das Herz des Volkes ebenso wie die Lippen des Propheten, daher wurde das Ziel dieses Dienstes erreicht. „Und Jehova erweckte den Geist Serubbabels, des Sohnes Schealtiels, des Landpflegers von Juda, und den Geist Josuas, des Sohnes Jozadaks, des Hohenpriesters, und den Geist des ganzen Überrestes des Volkes; und sie kamen und arbeiteten am Hause Jehovas der Heerscharen, ihres Gottes" (Kap. 1,14).
Zu einer anderen Zeit öffnete der Herr das Herz der Lydia, so wie Er den Mund des Paulus öffnete, der zu ihr sprach. Er sprach zu ihr, und sie gab acht auf ihn, beides war von Gott. Wie einfach, und doch wie notwendig! Der Herr zeigt uns in Seiner großen Rede in Johannes 6, wie notwendig es ist, daß alles von Gott ausgeht, und belehrt uns, daß, wenn der Vater den Sohn nicht gegeben hätte, wenn Er nicht ziehen würde, wenn Er nicht belehren würde, der Dienst an der Seele vergebens wäre und das Brot des Lebens, das wahre Manna der Wüste, vergebens gegeben würde.
Dies war eine Erweckung. Eine Wiederbelebung des Werkes Gottes inmitten der Jahre (Hab 3,2) wurde notwendig, weil in uns die Neigung zum Niedergang vorhanden ist. Der vollständige Ruin des Sünders und die gänzliche Unfähigkeit, sich selbst wiederherzustellen, ist die Ausgangsposition, bei der Gottes unumschränktes Wirken beginnen muß (Jes 1,9). Die Neigung des Gläubigen oder der Kirche, träge, kalt und gefühllos zu werden, bereitet in ähnlicher Weise den Boden, auf dem neue, wiederholte Erweckungen später stattfinden. Das frische Hervorkommen der Kraft zur Wiederbelebung ist immer der Weg gewesen, eine Haushaltung doch noch in einem Zustand zu erhalten, der angemessen und ihrer würdig ist. Und die Zeit Haggais war eine solche Zeit der Wiederbelebung.
Der Inhalt dieser prophetischen Worte Haggais kann uns dahin bringen, daß wir erkennen, wie vollkommen die göttlichen Gedanken und Absichten zu ihrer Zeit sind, so verschiedenartig und mannigfaltig sie auch sein mögen. David plante, für die Bundeslade ein Haus zu bauen, ein Haus von Zedern, kostspielig und stabil, doch das Wort des Propheten erlaubte es ihm nicht; die Zeit war noch nicht gekommen. Es hätte moralischerweise nicht gepaßt, daß die Lade einen Ruheort fand, bevor Israel zur Ruhe gekommen war. Die Lade konnte keinen Wohnplatz in einem Land haben, das noch nicht von dem Blut des Kampfschwertes gereinigt war. Doch in den Tagen Haggais finden wir das genaue Gegenteil. Israel wird von dem Propheten getadelt, weil sie das Haus Jehovas nicht bauten. David irrte, als er sagte; die Zeit für ein derartiges Werk sei gekommen (1Chr 17). Die zurückgekehrten Gefangenen irrten nun, indem sie sagten, daß die Zeit noch nicht gekommen sei. Der Geist Jehovas wußte die Zeiten und auch das, was Israel zu tun hatte, ob sie bauen oder nicht bauen sollten. „Der Fels: vollkommen ist sein Tun“ (5Mo 32,4). Er ist wahrhaftig, jeder Mensch aber ein Lügner.
Wie wir auch im Buch Esra finden, hatten sich die zurückgekehrten Gefangenen geweigert, die Samariter am Tempelbau mitarbeiten zu lassen und hatten ein Bündnis mit einem Volk solch vermischten Blutes und vermischter Grundsätze abgelehnt. Darin hatten sie recht gehandelt. Sie hatten sich selbst rein erhalten. Doch gegenüber den Samaritern war das eine Herausforderung, und auf das Verlangen dieser samaritischen Gegner hatte der große persische König, „die Brust von Silber“, dem Bau des Hauses Einhalt geboten.
Das wird für Israel zu einer Versuchung. Sobald ihre Hände frei werden von der Arbeit am Haus Jehovas, wendet sich das Volk, jeder einzelne, seinem eigenen Hause zu. Wie leicht ist das zu verstehen! Die Natur ist bereit, alle ihre Vorteile zu nutzen. Das sehen wir jeden Tag. Doch der Glaube steht in seinem Handeln hoch über der Natur. Paulus wird zum Beispiel ein Gefangener, nachdem er jahrelang im Dienst gestanden hatte. Seine weitreichende Tätigkeit wird durch die Gegner zum Stillstand gebracht. Doch wartet Paulus, obwohl er ein Gefangener ist und sein Reisedienst aufgehört hat, weiter auf seinen Herrn. Es gibt einen „Gefängnis“-Dienst, so wie es auch einen „Feld“- oder „Predigt“-Dienst gibt. Er empfängt, obwohl er in Ketten ist, in seinem eigenen gemieteten Haus alle, die zu ihm kommen, und spricht mit ihnen vom Morgen bis zum Abend und erklärt ihnen das Königreich Gottes und bezeugt und lehrt sie die Dinge, die den Herrn Jesus Christus betreffen (Apg 28,30.31). Das war Glaube und nicht Natur. Doch die zurückgekehrten Gefangenen benutzen ihre Hände für sich selbst. Nachdem sie von dem Werk am Hause Gottes entbunden sind, gebrauchen sie ihre Hände, als ob sie frei seien für das Werk an ihren eigenen Häusern. Auf diese Weise beherrscht Satan sowohl sie als auch die Samariter. In diesen Verhältnissen trifft sie Gottes Wort durch die Stimme Haggais.
Das Bauen des Hauses scheint, wie ich bereits bemerkte, für 14 Jahre unterbrochen worden zu sein. Aber es ist wunderschön zu sehen, daß diese Arbeit wiederaufgenommen wurde, nicht durch einen Erlaß zu ihren Gunsten von seiten des großen persischen Königs, der zu jener Zeit über die Juden herrschte, sondern durch die Stimme der Propheten Gottes, Haggai und Sacharja. Tatsächlich machte Jehova das Herz dieses Königs willig, doch das geschah erst, nachdem Sein Prophet das Herz Israels willig gemacht hatte (siehe Esra 5; 6). Es ist gut, das bei dieser Prophezeiung vor Augen zu haben. Dieser frische Antrieb im Herzen des Volkes war nicht durch irgendwelche Umstände bewirkt, sondern Gott hatte ihn hervorgerufen. Die Stimme Gottes durch Seine Propheten war es, die sie dazu brachte, das Werk aufs neue zu beginnen, und nicht die königliche Gunst des Persers. Jehova wendete das Herz ihres Herrn, des Königs, das Werk zu unterstützen, als sie wiederum den Platz des Glaubens und des Gehorsams eingenommen hatten.
Haggai wird einfach „Haggai, der Prophet" genannt. Mehr wissen wir nicht von ihm. Er gab bei mehreren besonderen Anlässen das Wort Jehovas weiter, und zwar während des zweiten Jahres Darius', des Königs von Persien. Alles, was er sagte, zielte darauf ab, den Bau des Hauses Jehovas fortzusetzen und zu beschleunigen.
Ich kann nur ganz allgemein darauf eingehen und den jeweiligen Zeitpunkt festhalten; alles geschah, wie gesagt, im zweiten Jahre Darius', des Persers.
6. Monat, 1. Tag: Haggai rüttelt das sorglose, genußsüchtige Volk auf, den zurückgekehrten Überrest, der das Haus Jehovas vernachlässigt hatte und sich selbst diente.
Monat, 24. Tag: Er verheißt ihnen, daß Jehova mit ihnen ist. Er würdigt im Namen Jehovas die aufkommende Gottesfurcht. Und so beginnt das Volk zu arbeiten.
Monat, 21. Tag: Um sie in ihrer Arbeit zu ermutigen, erzählt Haggai ihnen, daß die letzte Herrlichkeit dieses Hauses, das sie nun aufzubauen begonnen hatten, am größten sein würde, nachdem alle Dinge noch einmal durch die Hand Jehovas erschüttert worden wären.
9. Monat, 24. Tag: Er führt das Volk zu einem demütigenden Bewußtsein über das, was sie waren, bevor sie sich dem Hause Jehovas gewidmet hatten. Er berichtet aber auch von dem zukünftigen Segen.
Am gleichen Tag: Er wendet sich an Serubbabel und spricht wiederum von der Erschütterung aller Dinge und davon, daß Jehova Serubbabel wie Seinen Siegelring machen werde.
Das sind die Aussprüche Haggais zu ihrer jeweiligen Zeit. Die Stimme Jehovas durch diesen Propheten rüttelt zuerst das Gewissen des Volkes auf und ermutigt sie dann durch die Gnade auf verschiedene Weise in ihrem erneuerten Zustand und in ihrer Energie.
Ich möchte bemerken, daß der Geist Gottes in dem Propheten weder Partei für die Alten ergreift, die bei der Erinnerung an die Vergangenheit weinten, noch für die Jungen, die sich über die Gegenwart freuten (siehe Esra 3), sondern daß Er das Herz des Volkes auf die Zukunft hinlenkt. Die Tränen der Alten waren echt gewesen, ebenso aufrichtig auch der Dienst der Jungen für Gott: doch beides war nicht vollkommen. Der Geist, der gottgemäß leitet, bleibt weder bei dem einen noch bei dem andern stehen, sondern richtet Herz und Hoffnung nach vorne. Durch Seinen Knecht ermutigt Er das Volk in seiner Arbeit. Er erzählt ihnen von der zukünftigen Herrlichkeit des Hauses und der Festigkeit des wahren Serubbabel, wenn alles, was seine Grundlage in der ersten Schöpfung hat, mag es sein, was es wolle, erschüttert werden wird, um endgültig gestürzt und abgeschafft zu werden.
Der Geist gibt dann später durch einen Apostel (in Hebräer 12) Erläuterungen über dieses Wort des Propheten. Er kennzeichnet die Dinge, die erschüttert werden, als solche, die „gemacht" sind — das sind meines Erachtens die, die nicht ihre Wurzel oder Grundlage in Dem haben, in Dem alle Verheißungen Gottes Ja und Amen sind (2Kor 1,20). Er allein ist der Felsen. Sein Werk ist vollkommen. Christus, der Herr, kann sagen und wird sagen: „Zerschmolzen sind die Erde und alle ihre Bewohner: Ich habe ihre Säulen festgestellt“ (Ps 75,3). Was von Ihm ist, kann nicht erschüttert werden. Es bleibt. Und in dem Glauben und der Hoffnung auf das, was wir in Ihm und von Ihm haben, Geliebte, laßt uns mit den Worten des Apostels einander zurufen: „Deshalb, da wir ein unerschütterliches Reich empfangen, laßt uns Gnade haben, durch welche wir Gott wohlgefällig dienen mögen mit Frömmigkeit und Furcht“ (Heb 12,28).