Behandelter Abschnitt Klgl 4,7-8
Ihre Strafe schien noch größer zu sein als die von Sodom, das in einem Au- genblick unterging, während bei Juda die Qual lange andauerte.
Ihre Fürsten waren reiner als Schnee, weißer als Milch; röter waren sie am Leib als Korallen, wie Saphir ihre Gestalt. Dunkler als Schwärze ist ihr Aus- sehen, man erkennt sie nicht auf den Straßen; ihre Haut klebt an ihrem Ge- bein, ist dürr geworden wie Holz (4,7.8).
Um zu verstehen, worauf sich der Prophet in diesen Versen bezieht, muss man mit dem Gesetz der Nasiräer aus 4. Mose 6 einigermaßen vertraut sein. Vielen unserer Leser ist dieser erbauliche Teil der Schrift vertraut; da er aber einigen von ihnen vielleicht nicht so vertraut ist, kann es von Nutzen sein, einen kleinen Abstecher zu machen und zu betrachten, was dort dargelegt wird.
Der Nasiräer war, wie sein Name schon sagt (von einer Wortwurzel, die „absondern“ bedeutet), jemand, der in einem besonderen Sinne dem HERRN, seinem Gott, abgesondert war. Ganz Israel wurde erlöst, um das Volk Gottes zu sein, aber nicht alle waren Nasiräer. Alle Christen sind jedoch als Nasiräer dazu aufgerufen, sich vorbehaltlos dem Herrn zu wei- hen. Der Apostel wendet sich an jeden Erlösten, wenn er schreibt: „Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen Gottes, eure Leiber darzustellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtop- fer, was euer vernünftiger Dienst ist. Und seid nicht gleichförmig dieser Welt, sondern werdet verwandelt durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr prüfen mögt, was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist“ (Röm 12,1.2). Es wird sich zeigen, dass dies bei weitem nicht auf alle Gläubigen zutrifft, und vielleicht auch nicht auf jeden der Gläubigen der damaligen Zeit. Der Herr Jesus war der wahre Nasiräer, der von seiner niedrigen Geburt bis zu seinem Tod in Schande am Kreuz für Gott abgesondert war. Wir sind zweifellos aufgerufen, „seinen Fuß- tapfen zu folgen“; aber es ist in der Tat traurig zu erkennen, wie wenige den Charakter des Nasiräers bewahren. Es gab drei Hauptmerkmale, durch die sich der Nasiräer von einst auszeichnete:
In 4. Mose 6,3.4 heißt es: „... so soll er sich des Weines und des starkem Getränkes enthalten.“ Es ist klar festgelegt, dass er von keinem Produkt des Weinstocks, „von den Kernen bis zur Hülse“, etwas zu sich nehmen sollte.
In Vers 5 lesen wir: „Alle Tage des Gelübdes seiner Absonderung soll kein Schermesser über sein Haupt gehen.“ Er sollte die Haare lang wachsen lassen wie die einer Frau.
In Vers 6 heißt es weiter: „Alle Tage, die er sich für den HERRN ab- sondert, soll er zu keiner Leiche kommen.“ Es wird besonders da- rauf hingewiesen, dass er sich in dieser Hinsicht nicht einmal für seinen Vater, seine Mutter oder einen seiner Verwandten verunrei- nigen sollte.
Jedes Gebot enthält eine bestimmte Lehre, und der Wein symbolisiert in der Schrift die Freude (Ri 9,13; Ps 104,15).
Anwendung
Der Nasiräer muss auf Wein verzichten. Die Welt kann der Freude derer, die mit Gott wandeln, nicht dienen. Viele Christen scheinen das nie zu lernen. Aber so ist es nun einmal, und je eher man es lernt, desto besser. Der Nasiräer ist nicht ohne Freude; aber seine Freude ist tiefer und reiner, als es die Weinstöcke dieser Welt sein können. Der irdische Wein mag die Phantasie anregen und erregen und dadurch für den Augenblick einen Kitzel des Vergnügens her- vorrufen; aber er kann niemals jene tiefe Freude hervorbringen, die die kennzeichnet, die wie Henoch mit Gott wandeln. „Die Freude an dem HERRN ist eure Stärke“ (Neh 8,10), aber sie kommt vom Himmel herab. Keine Pflanze dieser sündenverfluchten Szene bringt sie hervor.
Der Nasiräer ließ sich die Haupthaare wachsen. Nach 1. Korinther 11 ist langes Haar die angemessene Bedeckung für die Frau, was auf ihre Unterordnung in der gegenwärtigen Ordnung der Dinge seit dem Sündenfall hinweist (1Mo 3,16; 1Kor 11,4-15). Wenn der Mann langes Haar hat, ist das für ihn eine Schande; für die Frau aber ist es eine Ehre, „weil das Haar ihr anstatt eines Schlei- ers gegeben ist“. Das lange Haar ist also ein Hinweis auf die Ab- hängigkeit. Im Nasiräer sehen wir jemanden, der freiwillig auf das verzichtet hat, was der Mensch als „seine Rechte“ und seine Unabhängigkeit bezeichnen würde, um sich ganz Gott unterzu- ordnen. Der Herr Jesus ist darin wie in allem anderen das große Vorbild, denn Er konnte sagen: „Denn ich bin vom Himmel her- abgekommen, nicht um meinen Willen zu tun, sondern den Wil- len dessen, der mich gesandt hat“ (Joh 6,28). Das war bei Ihm umso bemerkenswerter, als Er der einzige Mensch war, der je- mals den Anspruch hatte, seinen eigenen Willen zu tun; aber er verzichtete freiwillig auf diesen Anspruch und demütigte sich
selbst und wurde zum abhängigen Menschen im vollsten Sinne. In gleicher Weise muss der Mann Gottes seine eigenen Gedanken und Neigungen beiseitelegen, um den Willen des Herrn in seinem Leben an die erste Stelle zu setzen.
Der Nasiräer durfte sich nicht durch einen Toten verunreinigen. So wird der, der sich dem Herrn weihen will, aufgefordert, sich von al- len verunreinigenden Einflüssen seiner Umgebung fernzuhalten. Wenn er das Wort Jesu hört: „Lass die Toten ihre Toten begraben“ (Lk 9,60), sollte er sich sofort von allem abwenden, was den Heiligen Geist betrüben und seine geistlichen Empfindungen abstumpfen würde, um allein dem Herrn zu gehören. Es ist durchaus möglich, zu bestimmten Zeiten ein Nasiräer zu sein und zu anderen nicht. Der Rest des Kapitels zeigt die ernste Folge der Verunreinigung. Wenn er mit dem Tod in Berührung kam, waren alle vorhergehenden Tage seiner Absonderung verloren, weil seine Absonderung unrein ge- worden war (V. 9–12). Nur wenn er die vorgeschriebenen Opferga- ben brachte, die das Kreuz und den Heiligen, der dort hing, darstell- ten, konnte er wieder an den Ort des besonderen Segens und Vor- rechts sowie der Verantwortung zurückkehren.
Erst wenn die Tage der Absonderung vorüber waren, durfte er sein Haupt scheren und von der Frucht des Weinstocks essen und trinken. Für den Gläubigen wird dies erst der Fall sein, wenn er die Reise durch die Wüste beendet und in die Herrlichkeit eingetreten ist. Dann werden wir mit dem Herrn, der uns geliebt hat, den neuen Wein im Reich des Vaters trinken, wo reine, von der Sünde unbefleckte Freuden für immer das Teil unseres Herzens sein werden.
Nachdem wir die Wahrheit, die der Geist Gottes über den Nasiräer vermitteln wollte, kennengelernt haben, wenden wir uns mit einfühlsa- mem und traurigem Interesse den Versen 7 und 8 unseres Kapitels zu. Die vergangenen Tage der Hingabe an Gott werden dem schrecklichen Versagen des gegenwärtigen Zustands Judas und Jerusalems gegenübergestellt. „Ihre Fürsten [o. Nasiräer] waren reiner als Schnee ... Dunkler als Schwärze ist ihr Aussehen“ (V. 7.8). Wie schrecklich war der Niedergang! Judas got- tesfürchtigste und gutmütigste Söhne, einst ihr ganzer Stolz, sind jetzt auf den Straßen unbekannt, so sehr haben Hunger und Pest sie verändert. Ihr Los war sogar noch härter als das derer, die mit dem Schwert erschlagen worden waren: