Aber hier haben die Leidenden eine andere Stellung. Sie nehmen die Stellung ein und drücken die Gefühle aus, die in den Psalmen beschrieben werden, die nach göttlicher Rache rufen. Wer also meint, die Psalmen seien dazu bestimmt, unseren Platz und unsere eigenen Empfindungen als Christen auszudrücken, hat große Schwierigkeiten, die Sprache der Verwünschung zu verstehen, die hier gebraucht wird. Es ist ein Irrtum, sie so anzuwenden; denn „was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind“, ist der Kommentar des Apostels, nachdem er aus den Psalmen zitiert hat (Röm 3,19). Aber wenn die Versammlung entrückt ist, wird Gott – von seinem Platz auf dem Thron aus – die in dieser Prophezeiung beschriebenen Gerichte ausgießen. Und dann sind diese Psalmen völlig anwendbar. Jetzt handelt Gott in Barmherzigkeit, dann wird es um ein irdisches Gericht gehen. Wenn sich diese Visionen wirklich erfüllen, wird Gott nicht wie jetzt den übergroßen Reichtum seiner Gnade erweisen, sondern den übergroßen Schrecken seines gerechten Zorns; und wenn dieser Tag kommt und die Menschen immer noch achtlos sind, sagen die lebenden oder sterbenden Heiligen: „Bis wann, o Herrscher“.
Und es wurde ihnen, einem jeden, ein weißes Gewand gegeben; und es wurde ihnen gesagt, dass sie noch eine kleine Zeit ruhen sollten, bis auch ihre Mitknechte und ihre Brüder vollendet sein würden, die ebenso wie sie getötet werden würden (6,11).
Das heißt, dass ihnen die Rechtfertigung zuteilgeworden ist, obwohl sie ihren Platz auf dem Thron erst in Kapitel 20 einnehmen werden. Von körperlosen Geistern wird nie gesagt, dass sie dort sitzen. Wir lesen nichts von verherrlichten Geistern, sondern von Leibern, wenn sie in die ihnen zugedachte Glückseligkeit im Himmel eingehen. Sie werden mit Christus regieren. So wird es, nachdem die Versammlung entrückt ist, Personen geben, die hier auf der Erde für Gott Zeugnis ablegen, aber eine ganz andere Sprache benutzen: Sie rufen nach Vergeltung und nicht nach langmütiger Gnade. Einst war es eine heilige Verpflichtung, die Kanaaniter auszurotten; jetzt würde so etwas einem Christen fernliegen. Wie unpassend wäre es für uns, um Rache zu rufen, wenn Gott Barmherzigkeit erweisen will! Aber wenn Er sein Reich durch Gerichte einführt, wird dieses Verhalten passend und angemessen sein, das passt jedoch nicht in unsere Zeit. Wenn für Gott der passende Augenblick gekommen ist, die Erde zu züchtigen und zu richten, wird es eine heilige Sache sein, daran teilzuhaben. Aber wenn ein Christ sich jetzt damit beschäftigen würde, schlechte Menschen auf der Erde zu richten, würde er etwas tun, was der Herr jetzt nicht tut; Er tut genau das Gegenteil von dem, was Ihn beschäftigt, denn Er handelt jetzt in Wundern der Gnade, und so werden alle, die Ihn jetzt verstehen, im gleichen Geist handeln.
Die gewaltige Erschütterung beim sechsten Siegel ab Vers 12 ist offenbar eine Antwort auf das Gebet der Gläubigen in den Versen 9‒11. Die Sprache am Ende des Kapitels zeigt, dass die Mächte und Werkzeuge, ob hoch oder niedrig, der Welt, die die Gläubigen dann verfolgt, einen Vorgeschmack von dem gibt, was sie erwartet. Das ist so wahrhaftig, wie die Erschlagenen im Siegel zuvor ihre Anerkennung zum Teil haben, bevor sie das Reich erben. Ihr Blut, so können wir sagen, schrie zum Herrn der Heerscharen. Sie lebten für Gott und werden sicherlich wieder auferstehen; aber sie müssen warten. Eine weitere Gruppe von Märtyrern muss noch gebildet werden: „und es wurde ihnen gesagt, dass sie noch eine kleine Zeit ruhen sollten, bis auch ihre Mitknechte und ihre Brüder vollendet sein würden, die ebenso wie sie getötet werden würden (V. 11).
Von der Ermordung dieser Gläubigen wird hier nichts berichtet: Wir müssen das in anderen und späteren Teilen dieses Buches suchen. Die früheren Leidtragenden erfreuen sich inzwischen des Ergebnisses der Gerechtigkeit und werden von Gott anerkannt; aber sie sollen darauf warten, dass eine neue und gesonderte Schar von Brüdern, die als Märtyrer hinzukommt, und die bis zum Ende leiden wird. Dann wird die Vergeltung kommen. Die Ungerechtigkeit muss ihren Höhepunkt erreichen und ihr Schlimmstes hervorbringen, bevor die Stunde des gesamten göttlichen Gerichts anbricht. Ein weiterer und letzter Ausbruch der Verfolgung muss vorausgehen. Beachte aber auch hier, dass dem Einzelnen keine solche Hoffnung gemacht wird, dass der Herr ihn entrücken würde, nein sie müssen den Tod erleiden.
Wir haben festgestellt, dass die himmlischen Gläubigen (das sind die Toten in Christus und wir, die wir bis zur Ankunft des Herrn hierbleiben) bereits von der Erde entrückt worden sind, wie Kapitel 4 gezeigt hat. Kapitel 5 fügt noch hinzu, dass es, während sie droben sind, auf der Erde gerechte Menschen gibt, für deren Gebete sich die auferstandenen Gläubigen interessieren. Das heißt, dass die, die sich droben befinden, am Ort der Fürbitte sind. Es gibt nichts Schöneres als diesen Ort, nichts, wo wir Christus praktisch nähergebracht werden könnten, außer in unserer unmittelbaren Beziehung zu Ihm selbst. Die Versammlung ist dazu bestimmt, dieses Vorrecht in der Herrlichkeit zu besitzen, wie wir es jetzt durch die Gnade für alle Menschen haben (1Tim 2), das Vorrecht der Fürbitte für andere, die noch in schwierigen Umständen auf der Erde sind. Die Versammlung wird die innigste Anteilnahme an ihren Sorgen, Segnungen und Hoffnungen haben.
Doch wer sind diese Leidenden auf der Erde? In Kapitel 6,9 gab es, wie wir gesehen haben, ein furchtbares Gemetzel an den Gläubigen. Sie riefen mit lauter Stimme, und es wird uns mit und durch Johannes erlaubt, ihr Rufen zu hören. Sie rufen zu Gott als dem Herrscher und Richter aller Seelen: „Bis wann, o Herrscher, der du heilig und wahrhaftig bist, richtest und rächst du nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?“ Offensichtlich ist das nicht das Rufen von Christen: Ich sage nicht, dass es nicht das Rufen von Gläubigen ist, doch es passt zu ihren Umständen und zu dem Handeln Gottes in jener Zeit.
Die Menschen sind so eingeschränkt in ihrem Denken, dass sie meinen, ein Mensch könne niemals ein Gläubiger sein, ohne ein Christ zu sein. Es ist völlig richtig, dass ein Gläubiger in der heutigen Zeit natürlich ein Christ ist. Sogar kleine Kinder kennen den Vater: „Jeder, der den Sohn leugnet, hat auch den Vater nicht; wer den Sohn bekennt, hat auch den Vater“ (1Joh 2,23). Aber in göttlichen Dingen sollten wir unsere Gedanken und unsere Sprache immer der Schrift entnehmen, nicht unserer eigenen Vorstellung. Obwohl Abraham und alle alttestamentlichen Gläubigen aus dem Geist geboren waren, waren sie doch keine Christen im neutestamentlichen Sinn. Denn ein Christ ist nicht nur jemand, der an Christus glaubt, sondern jemand, dem der gestorbene und auferstandene Christus von Gott geschenkt wurde, und der folglich den Heiligen Geist hat, der Ihn mit Christus im Himmel vereint. Aber das war nicht der Fall und konnte nicht geschehen, bis Christus gekommen war und das Werk der Erlösung vollbracht hatte. Sie hatten zweifellos die neue Geburt, denn wiedergeboren zu werden, bedeutet nicht notwendigerweise, dass das Werk der Versöhnung vorher vollbracht worden war. Dennoch gibt es einen Unterschied in der Stellung, in die uns das vollbrachte Werk und die daraus folgende Gegenwart des Geistes während der Abwesenheit Christi im Himmel gebracht haben.
Von denen unter dem Altar hören wir also keine christlichen Akzente, sondern solche, die uns an den Zustand und die Empfindungen erinnern, die von früher her offenbart wurden. Von der Zeit an, als der Herr Jesus in die Welt kam und in die Höhe auffuhr, und zwar als der Verworfene, der jetzt verherrlicht ist – von dieser Zeit an werden die Leiden Christi als der gerechte Zeuge für Gott und in vollkommener Gnade für den Menschen sozusagen in seinem Volk erneut erlebt. Der Heilige Geist bewirkt, dass sie mit Christus empfinden. Was vorher in gewissem Maß wahr war, war nun der bestimmte Anteil für die Gläubigen. Keiner außer Christus konnte Leiden von Gott kennen, weil Er Sünde trug. Aber ein Teil der Leiden am Kreuz bestand darin, dass Christus durch die Bosheit der Menschen dorthin gebracht wurde. Ein anderer und viel tieferer Teil war, dass Er durch die Gnade Gottes zur Rechtfertigung seiner Heiligkeit und zur Befreiung des Sünders dorthin gebracht wurde. Dabei litt Er für uns; im Leiden durch die Bosheit der Menschen dürfen und sollen wir mit Ihm teilhaben. Deshalb zögert der Apostel Paulus nicht zu sagen: „um ihn zu erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden, indem ich seinem Tod gleichgestaltet werde“ (Phil 3,10). Ein Christ kann an den Leiden Christi teilhaben, in dem Sinn, dass er bis in den Tod verfolgt wird. Der Apostel selbst hatte es oft buchstäblich in dieser Weise vor Augen (vgl. 2Kor 1 und 4). Er kannte die Gemeinschaft der Leiden Christi, Stephanus kannte sie ebenfalls.
Dieses Rufen ist etwas anderes. Hier standen die Leidenden unter dem tiefen Empfinden des Unrechts, das ihnen angetan wurde, und sie riefen nur nach dem Gericht Gottes. Wie anders ist der Zustand, wenn Menschen, statt vor dem Gefängnis und vor dem Gericht zurückzuschrecken, Gott dankten und voller Freude hingingen, weil sie für würdig befunden wurden, um des Namens Jesu willen Schande zu erleiden!
Geht es hier um dasselbe? Kein Zweifel, die Welt ist so ungerecht wie immer; aber gibt es nichts Erhabeneres, als sich an Gott zu wenden, mit der Welt so umzugehen, wie die Welt mit uns umgegangen ist? Dies war der Zustand der Dinge, als die Menschen mit dem Gesetz zu tun hatten. So wird das Prinzip der gerechten Vergeltung im Tausendjährigen Reich wieder erscheinen, wenn sie das Gesetz auf ihr Herz geschrieben haben werden. Was die moralische Bedeutung (dikaivwma) des Gesetzes betrifft, so verwirklicht Gott das jetzt in seinem Volk. Aber es gibt ein anderes Prinzip, das sich jetzt in jeder Form zeigt, denn die Gnade Gottes erstreckt sich zu den Verlorenen. Der Tod Christi ist die größte Offenbarung dieser Gnade, und der Heilige Geist wirkt nach diesem Muster in den Herzen seines Volkes.
Aber das Rufen unter dem fünften Siegel ist, dass die Sünde ihren Verfolgern zur Last gelegt und entsprechend gerächt werden wird. Das ist Gerechtigkeit, aber nicht Gnade. Wir sollten jedoch bedenken, dass Gott uns nicht erlaubt, einen gerechten oder gnädigen Ruf zu erheben, wann immer wir wollen. Wir sind immer im Unrecht, wenn unter dem Leid der Welt nicht ein gnädiger Ruf durch den Druck hervorgebracht wird. Wenn wir miteinander zu tun haben, sind wir berechtigt, nach einem gottgefälligen und gerechten Verhalten der Christen Ausschau zu halten: Ja, es gehört zum Charakter eines Christen, das Falsche zu empfinden, wie auch das Rechte zu schätzen (Röm 12). Aber es sollte immer die Kraft vorhanden sein, sich über das Böse zu erheben und Christus darzustellen, um dem Bösen zu begegnen, sei es in Form von Züchtigung für die, die drinnen sind, oder in Form von Fürbitte für die, die draußen sind. Gott handelt in vollkommener Gnade, und das sollten auch wir mit der Welt tun.
Hier, in den Siegeln und weiterhin im Buch der Offenbarung, ist es ein anderer Zustand der Dinge, den Gott in einer vorbereitenden Weise für sein Volk richtet. Es ist eine andere Ordnung der Beziehung, nicht die, in die Er uns gesetzt hat, bis der Herr uns zu sich selbst entrückt. Deshalb ist es die jüdische Erwartung der Befreiung, wie Gott den Widersacher vernichtet, nicht die Hoffnung des Christen, dass er vom Schauplatz weggenommen wird in den Himmel. Gerechte Rache werden die empfangen, die auf der Erde wohnen. Nicht, dass Rachsucht angedeutet wird, doch es ist keinesfalls praktische Gnade. Sie erwarten also, dass Gott richtet, anstatt sich, wie wir es tun sollten, danach zu sehnen, dass Christus kommt und uns zu sich nimmt: „Und der Geist und die Braut sagen: Komm! Und wer es hört, spreche: Komm!“ (Kap. 22,17).
Beachten wir, dass das Wort Gebieter, das hier verwendet wird, dasselbe ist, also nicht Herrscher. Gebieter kommt ebenfalls vor in Lukas 2,29, Apostelgeschichte 4,24 und Judas 4. Ein Gebieter ist ein „souveräner Herr“. Das Wort steht auch in 2. Petrus 2,1: „und den Gebieter verleugnen, der sie erkauft hat“. Wir haben hier nicht die Nähe, in der wir Ihn als „unseren Herrn“ kennen, sondern die allgemeine Beziehung der Autorität, in der der Herr der Gebieter der ganzen Welt ist – aller Menschen, ob böse oder gut. Es wird nie gesagt, dass solche, die Christus durch den Heiligen Geist kennen, den Herrn verleugnen können, der sie erkauft hat.