Es sollte jedem aufmerksamen Leser der Schrift als bemerkenswert auffallen, dass wir einen apostolischen Brief haben, der erklärtermaßen an eine Frau und ihre Kinder gerichtet ist. In Anbetracht der Zurückhaltung der Apostel und des ungewöhnlichen Charakters einer solchen Aufforderung sollten wir uns fragen, warum der Heilige Geist hier von seinem üblichen Weg abweicht, und das umso mehr, als der erste Johannesbrief so ausdrücklich allgemein und umfangreich ist; denn er ist, wenn überhaupt, an die ganze Familie Gottes gerichtet. Er hat keinen Bezug auf einen Ort, nichts Persönliches im üblichen Sinne des Individuellen, das heißt, das zu bestimmten Personen gehört. 1. Johannes ist so offen, dass er jedes Glied der Familie Gottes aufnimmt, wo immer es sich auch befinden mag, mehr als jeder andere, außer vielleicht der Judasbrief.
Dennoch wurde derselbe Johannes, und wie es scheint, zu einem späteren Zeitpunkt, vom Heiligen Geist geführt, eine Einzelperson anzusprechen, und zwar nicht einen Mann, sondern eine Frau und auch ihre Kinder. Später noch schreibt er in seinem dritten Brief an einen Mann, und wir können leicht die Angemessenheit sowohl dieses als auch des dort behandelten Themas zu seinem und unserem Wohl erkennen. Sein Name wird genannt, aber im vorliegenden zweiten Brief wird die Frau als Frau angesprochen, ohne ihren Namen zu nennen, worin wir eine geziemende Angemessenheit erkennen können. Obwohl das Bedürfnis der Frau zweifellos befriedigt wurde, wurde ihr doch unnötiger Schmerz und Öffentlichkeit erspart, während ein inspirierter und höchst wertvoller Brief für die Gläubigen damals und zu allen Zeiten bestimmt war.
Jedenfalls sind dies Tatsachen, und wir haben das Recht, uns ein Urteil zu bilden, das niemand zu akzeptieren braucht, der nicht davon überzeugt ist, dass die Erklärung seiner Einsicht gerecht wird. Wir haben einen kurzen Brief, aber einen der ernstesten Briefe im Neuen Testament, der grundlegender ist als der sehr interessante und lehrreiche Brief, der danach an Gajus gerichtet wurde. Doch dieser wurde an eine Frau geschrieben und schloss ihre Kinder mit ein. Es müssen also Gründe von bleibender und dringender Wichtigkeit für den Heiligen Geist durch den Apostel überwogen haben, einen so besonders ernsten Brief an die auserwählte Frau und ihre Kinder zu schreiben; und so können wir nicht anders, als uns von seinem Inhalt zu überzeugen. Denn sie bestätigen voll und ganz die Tatsache, dass der Heilige Geist von seinem gewöhnlichen Weg abwich und sich hier aus Gründen von gebietender Bedeutung an eine Frau und ihre Kinder wandte und sie unmittelbar und in höchstem Maß verantwortlich machte, nach der in diesem Brief vermittelten Wahrheit zu handeln.
Es ging um den wahren oder einen falschen Christus. Was ist in der ganzen Bibel wichtiger als das, besonders seit der Offenbarung Christi? Bevor Er erschien, war es das Ziel des Feindes, die Gedanken der Gläubigen auf gegenwärtige und untergeordnete Dingen zu lenken. Aber jetzt wurde der wahre Christus gemäß der Verheißung vorgestellt, jetzt wurde der Sohn Gottes mit unwiderlegbarem Zeugnis und in persönlicher Gnade und Wahrheit bezeugt und hat Einsicht gegeben, dass wir den erkennen würden, der wahrhaftig ist, der auch selbst bezeichnet wurde als „der wahrhaftige Gott und das ewige Leben“ (1Joh 5,20). Es war ein kühner Schritt des Satans, der dies gut wusste, bekennende Christen dazu zu bringen, die Wahrheit über Christus zu verfälschen, einen Götzen gegen Christus zu machen, wie er von alters her Götzen gegen den Herrn machte, als er mit Israel nach dem Fleisch unter dem Gesetz handelte. Für einen so feinsinnigen Menschen wurde es nun, da der Sohn Gottes in Gnade und Wahrheit gekommen war, ein geniales Unterfangen, die Wahrheit als etwas Elementares abzutun und einen völlig falschen Christus zu präsentieren, um so die Quelle allen Segens zu verunreinigen und Seelen zu schaden, die zum falschen Christus verleitet wurden, statt zu dem, der nicht nur wahr, sondern die Wahrheit ist.
Der Älteste der auserwählten Frau1 und ihren Kindern, die ich liebe in der Wahrheit; und nicht ich allein, sondern auch alle, die die Wahrheit erkannt haben (V. 1).
Das ist genau das, was Satan damals und heute durch die vielen Antichristen versucht hat, und das ist es, was die außergewöhnliche Offenbarung des Heiligen Geistes in diesem Brief erklärt. „Der Älteste“, sagt der Apostel. So steigt er von der ersten Stelle in der Versammlung Gottes herab, die er voll auszufüllen berechtigt war, aber die Liebe nimmt unwillkürlich den vorzüglicheren Weg, und hier inspirierte ihn der Heilige Geist für die besondere Notwendigkeit. So tat es der Apostel Paulus hin und wieder; und so tat es unser Apostel in allen seinen Briefen. So lehrt uns Gott auch durch die kleinste Veränderung in der Schrift, durch alles Gesagte und durch alles nicht Gesagte, etwas vollkommener als auf irgendeine andere Weise. Daher dürfen wir nicht daran zweifeln, dass es einen besonders weisen und würdigen Grund gab, warum der Apostel Johannes sich sowohl der auserwählten Frau als auch dem geliebten Gajus gegenüber mit der Bezeichnung „Ältester“ und nicht mit „Apostel“ vorstellte.
Beachte aber noch einen anderen Punkt. Er sagt nicht „der geliebten Frau“. Manche Christen haben eine Vorliebe für warme Ausdrücke gegenüber einzelnen Personen, ohne dass es dafür einen ausreichenden Anlass gibt. Das ist keine gute Angewohnheit, vor allem, wenn es sich um eine Frau handelt. Es ist nicht taktlos, einem Bruder so zu schreiben. Wenn man bedenkt, was Männer und Frauen sind, begreift man die Weisheit Gottes, dass „der Älteste“, alt wie er war, diese Ausdrücke gegenüber der Frau vermied und anderen in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel gab. Hätte er jemals so heilig anders gehandelt, hätten ihm viele nachgeeifert. Aber so, wie es steht, war alles weise geordnet; und es ist gut für uns, aus dem Nutzen zu ziehen, was wir hier lesen.
Er ist darauf bedacht, mit Respekt zu schreiben, aber ohne Schmeichelei. Er lobt sich nicht selbst und ist nicht selbstsüchtig. Man könnte ihn eher für kalt halten, als dass er sich in starken Ausdrücken irrt. „Der Älteste der auserwählten Frau“. Ihre Stellung wurde nicht geringgeschätzt, aber was beide schätzten, war das Anrecht auf die göttlichen Gnade, nicht das, was sie der Vorsehung verdankte. Sie war eine Auserwählte Gottes, eine in Christus Erwählte von und für Gott selbst. Welche Überlegung liegt dem durch den Glauben gereinigten Herzen näher? Der Apostel wurde veranlasst, den Begriff zu verwenden, der auf das souveräne Handeln Gottes hinwies. Gott hatte sie aus all ihren natürlichen Verbindungen auserwählt, und der Apostel freut sich anzuerkennen, dass sie sogar auf der Erde in neue und göttliche Verbindungen gebracht wurde.
Wie gesegnet ist es, zu wissen, dass es für jeden wahren Christen immer noch so ist! Aber schon in diesen einleitenden Worten können wir bemerken, wie treu jeder Brief mit dem Ziel Gottes übereinstimmt. Das Ziel hier ist, die auserwählte Frau und ihre Kinder vor den verführerischen Schlingen des Antichrists zu bewahren. Das Ziel im Brief an Gajus ist es, ihn angesichts von Hindernissen zu ermutigen, auf dem begonnenen Weg der Gnade zu verharren. „Auserwählt“ stellte dieser Frau Gott vor, so wie „der Geliebte“ Gajus aufmunterte, sich nicht um das falsche Verhalten des Diotrephes zu kümmern. Die Menschen werden oft müde in ihrem Gutestun, wenn sie von denen enttäuscht sind, denen sie vielleicht liebevoll gedient haben, und durch die Kritik solcher, die sich gewohnheitsmäßig widersetzen, ohne sich ernsthaft zu bemühen, in Schwierigkeiten zu helfen, ein wenig zerknirscht werden. Christus ermöglicht uns, diese Rätsel zu lösen. „Der Älteste der auserwählten Frau und ihren Kindern“. Wer kann unter gewöhnlichen Umständen daran zweifeln, dass der Apostel Johannes, als er diese Kinder sah, sie liebevoll ansprach und sie wussten um seine Zärtlichkeit, die er für sie hatte. Aber er schrieb über ein sehr ernstes Thema, vor dem eine Frau und ihre Kinder sich bedeutungslos vorkamen, wäre da nicht der Name des Herrn und das Vorrecht, das die Gnade gegeben hatte. Hier stellt der Apostel ihnen in der eindringlichsten Weise ihre Verpflichtung zur Sorge und zum Eifer für die Herrlichkeit Christi vor Augen. Das ließ keinen Kompromiss zu. Die Untergrabung der Wahrheit Christi durch Satan war damals eine Tatsache. Sie waren in Gefahr; der Apostel wusste das, und er schreibt, damit sie aufmerksam wären. Alles sonst Übliche wurde der Ehre Gottes in diesem Fall untergeordnet. Jetzt geht es um einen wirklichen Christus, und Johannes hat die Gefahr vor Augen, dass sie unwissentlich die Herrlichkeit Christi nicht beachteten. Deshalb sind seine Worte vergleichsweise wenige, klar und entschieden. Er kommt bald auf den Punkt und spricht in einer Weise, die von keinem Christen missverstanden werden sollte. Er versichert ihnen jedoch seine Liebe in der Wahrheit; denn diese versagte überall dort, wo Christus aus dem Auge verloren wurde. „Die ich liebe in der Wahrheit“. Oh, wie wichtig und prüfend! Er liebte sie nicht wegen persönlicher Eigenschaften. Er mag noch so viel Anmut in ihnen gesehen haben; aber davon sagt er nichts, nur von „Liebe in Wahrheit“. Das geht über die Liebe „in der Wahrheit“ hinaus; er liebte „in Wahrheit“. Zweifellos hatten sie die Wahrheit. Während es natürlich niemals Wahrheit ohne die Wahrheit geben kann, „in Wahrheit“ bedeutet in Wahrhaftigkeit.
1 Es gab von der nachapostolischen Zeit bis in unsere Tage alle möglichen unterschiedlichen Auffassungen über diese Anrede: Einige sind für Eklekte als Eigenname; andere für Kyria; eine dritte Klasse für „die Kirche“ in mehr als einem damit angedeuteten Sinne, ganz zu schweigen von der Jungfrau Maria. Mir scheint, dass es eine lebende Schwester in Christus war, an die der Heilige Geist den Apostel schreiben ließ, ohne ihren Namen zu nennen; und die Bezeichnung „auserwählte Schwester“ im letzten Vers (13) bestätigt dies nachdrücklich, da es die Vorstellung von „der Kirche“, die Hieronymus (Ep. 123 ad Ageruchiam), dem Schol. i., in Matthaei und Cassiodorus gefiel; und unter den Modernen, Calovius, Hammond, Michaelis und so weiter. Ich bin sogar geneigt zu glauben, dass die wörtlichere Wiedergabe wirklich „einer auserwählten Dame“ und so weiter galt, obwohl ich mich davor scheute, mich auf etwas einzulassen, was anscheinend niemandem sonst in den Sinn gekommen ist.↩︎