Bei dem letzten Teil, der uns beschäftigt hat, haben wir die Gefahr gesehen, dem Zorn nachzugeben; er artet leicht in Hass aus, und das gibt dem Teufel Gelegenheit, einzuwirken. Wir haben nun eine weitere Ermahnung, die manchem Christen kaum nötig erscheinen mag.
Wer gestohlen hat, stehle nicht mehr (4,28a).
Der Apostel sah sich veranlasst, eine Formulierung zu wählen, die so umfassend ist, dass sie jede Schattierung solcher Unredlichkeit einschließt. Hältst du die Warnung für unnötig? Hüte dich davor, dass dein Selbstvertrauen und die Geringschätzung eines Wortes, das Gott geschrieben hat, dich umgarnt. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Geist, der den Brief inspiriert hat, die Ermahnung für alle Gläubigen, so auch für die Epheser, für notwendig erachtete; dennoch finden wir nirgendwo eine glücklichere, blühendere und von Gott gesegnetere Versammlung als die in Ephesus. Doch selbst für sie, die mit Christus lebendig gemacht und auferweckt wurden und in Ihm in himmlischen Örtern sitzen, hielt der Heilige Geist die Ermahnung für angebracht. Gott kennt uns besser, als wir uns selbst kennen; und mögen die Gläubigen noch so sehr belehrt, hingegeben oder ernsthaft sein, in keinem dieser Dinge, außer dem Genuss der gegenwärtigen Gemeinschaft, außer der tatsächlichen Abhängigkeit von Gott, gibt es irgendeine angemessene Sicherheit. Wenn jemand außerdem durch Unachtsamkeit in etwas abgeglitten ist, was sogar in menschlichen Augen so entwürdigend ist, können wir uns leicht die Kraft eines solchen Wortes an das gebrochene und beschämte Herz vorstellen, das in Gefahr ist, von zu viel Kummer verschlungen zu werden. Wie wenig empfand das Herz seine Gefahren, wie wenig kannte es seine eigene Schwachheit oder die Macht Satans! Jetzt, da es wieder in die Lage versetzt wurde, sich selbst auf Gott auszurichten, erkennt es den Wert von Worten wie diesen, die es früher als fast nutzlos für den Gläubigen angesehen hatte. Jetzt empfindet es auch, wie weit der Appell des Geistes reicht und jede Art von weltlichen, beruflichen oder geschäftlichen Gewohnheiten (egal wie angesehen), die betrügerisch sind, sowie die gröberen Formen der Unehrlichkeit einschließt. Gott erzieht den neuen Menschen nach seiner eigenen Weisheit und Gnade.
Wie auffallend zeigt auch ein solches Gebot, dass der Christ auf größerem, höherem, festerem Boden steht als der, auf dem Israel nach dem Fleisch stand oder besser gesagt, fiel. Niemals hört man das Gesetz sagen: „Wer gestohlen hat, stehle nicht mehr“. Seine Stimme lautet vielmehr: „Er soll sterben.“ Das Gesetz ist gut, wenn ein Mensch es gesetzmäßig anwendet; und seine gesetzmäßige Anwendung ist ausdrücklich nicht dazu da, den Wandel der Gerechten zu formen, zu leiten und zu bestimmen, sondern um mit den Gesetzlosen und Ungehorsamen, Gottlosen und Sündern, Unheiligen und Ruchlosen zu handeln, und, kurz gesagt, mit allem, was im Gegensatz zur gesunden Lehre steht (1Tim 1,6-8). Die Sünde, so wird uns in Römer 6 gesagt, soll keine Herrschaft über die Christen haben, „denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade“ (V. 14); und das in einem Kapitel, wo es um den heiligen Wandel des Gläubigen geht, nicht um seine Rechtfertigung. Und doch neigen die meisten in der Christenheit gewöhnlich dazu, angesichts der klaren und einheitlichen Lehre des Neuen Testaments zum Gesetz zurückzukehren, besonders dort, wo es eine schwache Trennung von der Welt gibt. Aber das ist leicht zu verstehen. Denn die Welt nimmt die Gnade Gottes nicht auf und versteht sie nicht, während sie das gerechte Gesetz Gottes dem Buchstaben nach schätzen mag. Wenn also die Welt und die Gläubigen vermischt werden, gewinnt der Wille des Menschen bald die Oberhand; und da der Gläubige die Welt nicht auf seinen Stand erheben kann, muss er auf das hinabsinken, was er mit der Welt gemeinsam hat. Und so treffen sich beide wieder auf jüdischem Boden, als ob das Kreuz Christi nie gewesen wäre und der Heilige Geist nicht vom Himmel herabgesandt worden wäre, um die Gläubigen aus einem gemischten Zustand – als Juden und Heiden – in die Versammlung Gottes abseits der Welt zu sammeln. Sogar für den einzelnen Christen, wie auch für die Versammlung, und vor allem für Gottes Wahrheit, Gnade und Herrlichkeit, ist der Verlust unermesslich. Denn der gewöhnliche Lebenswandel hat sich auf eine Aneinanderreihung von Negativem reduziert, außer in öffentlichen Handlungen der Philanthropie, religiöser Betätigung oder rituellen Beobachtungen, die der Christ mit jedem teilt, der sich ihm anschließen will. Es ist nicht die Beschäftigung mit dem Guten nach dem Willen Gottes; noch weniger ist es das Leiden um Christi willen und um der Gerechtigkeit willen vor einer Welt, die sie nicht kennt. Das ist nicht Christentum, obwohl es der Zustand und das System der meisten Christen ist. War Christus jemals aus Furcht vor dem Gericht gehorsam? War sein Leben nicht eine Übergabe seiner selbst an den heiligen Willen und das Wohlgefallen seines Vaters? So müssen wir mit der Gnade Gottes in Christus beschäftigt sein, wenn wir Kraft finden wollen, Ihm zu gefallen. Das bloße Vermeiden des Bösen und das Lassen von diesem oder jenem, sind unter unserer Berufung. Wollen wir wirklich seinen Willen als seine Kinder kennen und tun? Sind wir eifrig dabei zu lernen, das Gute zu tun, nicht weniger als darauf zu achten, von jedem bösen Weg abzulassen? Wenn nicht, wird der Tag kommen, an dem wir vielleicht wieder anfangen, Böses zu tun, und zwar mit einem umso weniger empfindsamen Gewissen, weil wir eine Wahrheit gelernt haben, in der wir nicht leben.
Sehr schön ist daher die Ermahnung des Apostels auf der positiven Seite. sondern arbeite vielmehr und wirke mit seinen Händen das Gute, damit er dem Bedürftigen etwas zu geben habe (4,28b).
So ermutigt und leitet der Geist den Menschen, dessen Hände einst auf unwürdige Weise ausgestreckt waren; so öffnet er einen glücklichen Weg, auf dem die Gnade ihre Kraft entfalten kann, trotz einer unehrlichen Natur und Gewohnheit; und wer ein Dieb war, bevor er den Namen des Erlösers kannte, kann nun Gemeinschaft mit dem Geist und der Praxis des großen Apostels haben (Apg 20,33-35), ja, und des Meisters selbst, indem er sich an seine Worte erinnert, wie Er sagte: „Geben ist seliger als Nehmen.“ Zu nehmen ist der Sinn der Arbeit des weltlichen Menschen; zu geben ist der christliche Beweggrund. Es ist nicht eine Frage des zufälligen Überflusses, sondern ein ausdrücklicher Zweck, besonders für den, der das Bewusstsein der Barmherzigkeit hat, die ihn von der begehrlichen Sünde und ihrer Schande und ihrem Gericht befreit hat. Nun gilt es, sich um das Gute und Ehrliche zu bemühen. Vergeblich wirst du dich auf einen wohltätigen oder religiösen Gebrauch des unrechtmäßig erworbenen Gewinns berufen! Keine Beschäftigung, die dem Willen Gottes widerspricht, ist für den Christen gut, sondern soll sofort aufgegeben werden. Der Bund vom Sinai hat nie ein solches Motiv für die Arbeit verkündet. Jetzt von den zehn Geboten als der Regel für den Wandel des Christen zu sprechen, bedeutet, von der Sonne, die den Tag regiert, zum Mond zurückzugehen, der die Nacht regiert; es bedeutet, Christus durch Mose unter dem trügerischen Bekenntnis, Gott zu dienen, zu verdrängen. Im Allgemeinen gilt: Was das Gesetz von denen, die unter ihm standen, nach dem Prinzip des Rechts verlangte, muss der Christ nach dem Prinzip der Gnade auf jede mögliche Weise übertreffen. Der Umfang des Gehorsams wird ins Unermessliche gesteigert; die inneren Beweggründe werden erforscht und offengelegt; die eigentliche Neigung zu Gewalttätigkeit, Verderbnis und Falschheit wird in ihren Wurzeln gerichtet, und das Leiden im Unrecht und in der Liebe nimmt für die Jünger den Platz der irdischen Gerechtigkeit ein. Das ist die unzweifelhafte Lehre unseres Herrn und seiner Apostel; sie wird verdunkelt, untergraben und geleugnet von denen, die darauf bestehen, die Kirche zu judaisieren, indem sie den Christen unter das Gesetz als seine Lebensregel stellen. Das sind wahrlich solche, „die Gesetzeslehrer sein wollen und nicht verstehen, weder was sie sagen noch was sie fest behaupten“ (1Tim 1,7).