Behandelter Abschnitt Joh 11,33-37
Als nun Jesus sie weinen sah und die Juden weinen, die mit ihr gekommen waren, seufzte er tief im Geist und erschütterte sich und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sagen zu ihm: Herr, komm und sieh! Jesus vergoss Tränen. Da sprachen die Juden: Siehe, wie lieb hat er ihn gehabt! Einige aber von ihnen sagten: Konnte dieser, der die Augen des Blinden auftat, nicht bewirken, dass auch dieser nicht gestorben wäre? (11,33–37).
Das Wort, das mit „seufzte tief“ übersetzt ist, kommt an anderer Stelle für „gebot ernstlich“ vor (Mt 9,30, Mk 1,43); oder jemand „anfahren“ (Mk 14,5). Hier ist es eher ein inneres Empfinden als ein Ausdruck, dem eine Verwendung wie die bei Lukian (Nek. 20) für (wie es scheint) „seufzen“ sehr nahekommt. Es bedeutet die starke, vielleicht auch entrüstete Zuneigung, die der Herr angesichts der Macht des Todes nicht nur über die Juden, sondern auch über Maria empfand, die noch immer vom Feind ausgeübt wurde. Dies wird noch weiter ausgedrückt durch den folgenden Satz und auch durch Vers 38. Sein zärtliches Mitgefühl zeigt sich vielmehr in seinem Weinen (V. 35), nachdem Er gefragt hatte, wo sie Lazarus hingelegt hatten, und sie Ihn aufgefordert hatten, zu kommen und zu sehen. Sein empörtes Empfinden der Macht Satans durch die Sünde beeinträchtigte sein tiefes Mitgefühl nicht im Geringsten; und was wir hier sehen, ist nur das Gegenstück zu seinem üblichen Tragen der Krankheiten und Aufnehmen der Gebrechen, das das erste Evangelium mit dem Zitat aus Jesaja 53,4 berichtet (Mt 8,17). Niemals war es nur Kraft, noch war es nur Mitleid, sondern das tiefe Mitempfinden seines Geistes in jedem Fall, den Er heilte, das Tragen der Last auf seinem Herzen vor Gott all dessen, was den sündengeplagten Menschen bedrückte. Hier war es die noch größere Verwüstung des Todes in der Familie, die Er liebte.
Aber wir dürfen bemerken, dass in dem Fall unseres Herrn, so tief sein Kummer auch war, es sein Diener war. Er „erschütterte sich“ (V. 33). Der Kummer gewann nicht die Oberhand, wie es unsere Gefühle bei uns zu tun pflegen. Jedes Empfinden in Christus war vollkommen in Art und Maß wie auch in der Zeit. Sein Seufzen, seine Erschütterung, sein Weinen – was waren sie doch in Gottes Augen! Wie wertvoll sollten sie auch für uns sein! Sogar die Juden konnten nicht anders, als zu sagen: „Siehe, wie lieb hat er ihn gehabt!“ (V. 36). Was hätten sie gedacht, wenn sie gewusst hätten, dass Er in Kürze den Toten auferwecken würde? Wenn sie sich nicht an seine Macht erinnerten, so war es nur das vergebliche Bedauern darüber, dass Er, der den Blinden heilte, den Tod im Fall des Lazarus nicht vorhergesehen hatte. Sie waren völlig im Unrecht über diese Krankheit, so blind für die Herrlichkeit Gottes wie für den Weg, dass der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werden würde. Der Glaube an die Herrlichkeit seiner Person allein deutet die Tiefe seiner Liebe richtig und würdigt sie in ihrem Maß. „Jesus vergoss Tränen“ (V. 35). Welch einen Unterschied vermitteln diese Worte dem, der nur einen Menschen sieht, und dem, der Ihn als den mächtigen Gott, den eingeborenen Sohn, kennt! Sogar der Gläubige konnte in diesem Fall nicht umhin, seine Liebe zu bekennen; aber wie unermesslich wird diese Liebe durch seine göttliche Würde und das Bewusstsein, dass Er im Begriff stand, in der Macht des göttlichen Lebens über den Tod hinaus zu handeln!