Behandelter Abschnitt Joh 10,22-30
Es war aber das Fest der Tempelweihe in Jerusalem; und es war Winter. Und Jesus ging im Tempel, in der Säulenhalle Salomos, umher. Da umringten ihn die Juden und sprachen zu ihm: Bis wann hältst du unsere Seele hin? Wenn du der Christus bist, so sage es uns frei heraus. 25 Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt, und ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich in dem Namen meines Vaters tue, diese zeugen von mir; aber ihr glaubt nicht, denn ihr seid nicht von meinen Schafen, [wie ich euch gesagt habe.] Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren in Ewigkeit, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben. Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus der Hand meines Vaters rauben. Ich und der Vater sind eins (10,22–30).
Der Versuch, Tradition und menschliche Autorität in göttlichen Dingen durch eine solche Passage wie den Anfang von Vers 22 zu stützen, ist vielen von uns bekannt. Aber es ist wirklich vergeblich. Denn hier erfahren wir nichts von der Teilnahme unseres Herrn an irgendwelchen menschlichen Bräuchen, was auch immer sie gewesen sein mögen, sondern davon, dass Er damals in Jerusalem war, im Winter, und in der Säulenhalle Salomos wandelte, als die Juden kamen und immer wieder zu Ihm sagten: „Bis wann [oder: Wie lange] hältst du unsere Seele hin [oder: hältst sie in Atem]?“ So erbärmlich und schuldig ihr Unglaube auch war, die Juden zogen keinen solchen Schluss aus seiner Gegenwart damals und dort. Sie waren unruhig, trotz ihres Widerstands gegen Ihn. „Wenn Du der Christus bist, so sage es uns frei heraus.“ Aber die verhängnisvolle Stunde war nahe, und die Macht der Finsternis; und das Licht stand im Begriff, von ihnen wegzugehen, nachdem es sich in ihrer Mitte völlig offenbart hatte. „Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt, und ihr glaubt nicht“ (V. 25). Nimm nur seine Worte, die in Kapitel 5, 6 und 8 aufgezeichnet sind. Ein deutlicheres und reicheres Zeugnis könnte es nicht geben. Aber das Zeugnis ist nicht immer von Dauer. Es wird frei, vollständig und geduldig gegeben, und kann dann von denen, die es ablehnen, zu denen, die es hören, verdreht werden. So pflegt Gott zu handeln, und so antwortet der Herr bei dieser Gelegenheit. „Ich habe es euch gesagt, und ihr glaubt nicht.“
Aber es gab mehr als Worte, wie wahrhaft göttlich sie auch immer waren – Worte der Gnade und Wahrheit gemäß seiner Person. Es gab Werke ähnlichen Charakters; und die Juden waren es gewohnt, Zeichen zu suchen. Wenn sie aufrichtig suchten, konnten sie Zeichen sehen, die jenseits der Zählung oder Schätzung des Menschen lagen. „Die Werke, die ich in dem Namen meines Vaters tue, diese zeugen von mir“ (V. 25b). Was könnte eine solche Härte in einem Herzen erklären? „Aber ihr glaubt nicht, denn ihr seid nicht von meinen Schafen, wie ich euch gesagt habe“ (V. 26). Feierliche Lösung einer Schwierigkeit, eines Widerstands gegen die Wahrheit, einer Verwerfung Christi, so wahr wie eh und je!
Die Menschen vertrauen auf sich selbst, auf ihre eigenen Gefühle, auf ihre eigenen Urteile. Haben diese sie nie in die Irre geführt? Sind sie jemals vor Gott aufrichtig gewesen? Welche selbstmörderische Torheit, nicht sich selbst zu misstrauen und auf Gott zu schauen, zu Gott zu rufen, von Gott zu erbitten, was sein Weg, seine Wahrheit, sein Sohn ist! Aber nein, diese sollten glauben und gerettet werden; und sie wollen nicht. Sie sind zu stolz. Sie werden sich nicht vor dem Wort beugen, das sie als Sünder anklagt, obwohl es ihnen die Botschaft der Vergebung der Sünden auf ihren Glauben hin zuspricht. Sie spüren, dass eine solche Gnade Gottes ihre Schuld und ihr Verderben voraussetzt, und sind sie zu hart, zu stolz, um das zuzugeben. Sie glauben nicht; sie gehören nicht zu den Schafen des Erlösers. Verbrecher, Heiden vielleicht, mögen einen Erlöser brauchen; nicht anständige, moralische, religiöse Menschen wie sie selbst! Sie glauben nicht, wollen nicht glauben und sind verloren, nicht weil sie zu große Sünder für Christus sind, sondern weil sie Christus als den Retter ablehnen und ihr Verderben als Sünder leugnen. Sie ziehen es vor, so weiterzumachen, wie sie sind, wie die große Masse der Menschen: Gott, so denken sie, ist zu gnädig; und sie hoffen, sich eines Tages zu bessern, wenn ihnen heute nicht danach ist. So sind sie verloren. So sind jetzt der Weg und das Ende mancher Ungläubigen, wie der Juden damals.
Wie werden nun die Schafe Christi charakterisiert? Wir brauchen nicht zu warten, um die Antwort zu bekommen, denn hier ist sein eigener Bericht über sie. „Meine Schafe hören meine Stimme.“ Das ist eine Eigenschaft, die unvergleichlich besser ist als dies oder jenes zu tun oder alles andere. Es ist der Gehorsam des Glaubens, der heilige Ursprung aller heiligen Dinge. Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott wohlzugefallen; und dies ist das gegenwärtige Merkmal derer, die aus dem Glauben sind: Sie hören die Stimme Christi und sind wahrhaftig demütig, dabei auch fest. Es ist nicht Selbstbehauptung, noch das Vergessen ihrer eigenen Sündhaftigkeit, es geht um seine Herrlichkeit. Es ist das einfache Anerkennen seiner Gnade und ihrer eigenen Bedürftigkeit; und nur so werden Menschen durch Christus zur Ehre Gottes gesegnet.
Dies ist jedoch nicht ihr einziges Vorrecht. „Und ich kenne sie“, sagt der Heiland. Es wird hier nicht gesagt, dass sie Christus kennen, wie wahr auch immer das durch die Gnade ist. Aber Er kennt sie, alle ihre Gedanken und Gefühle, ihre Worte und Wege, ihre Gefahren und Schwierigkeiten, ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er kennt sie, kurz gesagt, vollkommen, und in vollkommener Liebe. Wie unendlich ist die Gunst und der Segen! Welch ein Reichtum und welch eine Freude!
Aber es gibt noch mehr. Die Schafe hören nicht nur die Stimme Christi, sondern Er sagt auch: „und sie folgen mir“ (V. 27). Denn der Glaube ist göttlich und praktisch, andernfalls ist schlimmer als nutzlos. Und wie es Christus gebührt, dass die Seinen Ihm folgen, so brauchen sie es, da sie zahllosen Feinden ausgesetzt sind, sichtbaren und unsichtbaren. Es ist ihre Sicherheit, was auch immer die Umstände sein mögen, durch die sie gehen: Christus, der die Schafe führt, kann nicht versagen, und wie Er sie kennt, so folgen sie Ihm. So bewahrt Er sie auf dem Weg, der er selbst ist. „Und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren in Ewigkeit, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben“ (V. 28). So garantiert der Herr ihnen sein eigenes Leben, nicht das Leben Adams, der den Tod brachte und starb und allen seinen Nachkommen das traurige Erbe hinterließ. Der zweite Mensch und letzte Adam als Sohn Gottes gibt hingegen das Leben, wem Er will, und macht lebendig mit und zum ewigen Leben. Wird aber gesagt, dass die Schafe schwach sind? Zweifellos; aber hier schließt Er Furcht und Angst für alle aus, die an Ihn glauben, denn Er fügt sofort hinzu, dass sie nicht verlorengehen in Ewigkeit. Keine innewohnende Schwäche wird also ihre Sicherheit für einen Augenblick gefährden; noch werden feindliche Gewalt oder List sie in Gefahr bringen; denn „niemand wird sie aus meiner Hand rauben.“
Könnte die Liebe denen, die sie liebt, mehr zusichern? Seine Liebe würde ihnen die Gewissheit seiner eigenen tiefsten Freude vermitteln, die Liebe seines Vaters, die so sicher ist wie seine eigene; und so schließt Er seine Mitteilung ab: „Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus der Hand meines Vaters rauben. Ich und der Vater sind eins“ (V. 29.30). Hier erheben wir uns zu jener Höhe der heiligen Liebe und unendlichen Macht, von der niemand außer dem Sohn sprechen konnte; und Er spricht von den Geheimnissen der Gottheit mit der innigen Vertrautheit, die dem Eingeborenen eigen ist, der im Schoß des Vaters ist. Er brauchte niemanden, der vom Menschen Zeugnis ablegte, denn Er wusste, was im Menschen war, da Er selbst Gott war; und Er wusste deshalb auch, was in Gott war. Himmel oder Erde machten keinen Unterschied, auch nicht Zeit oder Ewigkeit. Kein Geschöpf ist vor Ihm verborgen, sondern alles ist bloß und ausgedeckt vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben. Und Er erklärt, dass der Vater, der die Gabe gegeben hat, allem widersteht, was Schaden zufügen kann, und wie Er Christus gegeben hat, so ist Er größer als alles, und niemand kann sie aus seiner Hand rauben.
In der Tat sind der Sohn und der Vater eins. Sie sind nicht eine Person (was das ἐσμεν mit jeder anderen Schrift, die darauf Bezug nimmt, widerlegt), sondern eine Einheit, ἓν, eine göttliche Natur oder Wesen (wie andere Schriften gleichermaßen beweisen). Der Niedrigste der Menschen, der Hirte der Schafe, ist der Sohn des Vaters, wahrer Gott und das ewige Leben. Und Er und der Vater sind im göttlichen Wesen nicht wahrhaftiger eins als in der Gemeinschaft der göttlichen Liebe zu den Schafen.