Behandelter Abschnitt Lk 9,57-60
In diesem ganzen Zusammenhang, seit der Verklärung, wird das menschliche Fleisch in seinen verschiedenen Formen gerichtet. In der Tat wurde das Fleisch schon dort als völlig unfähig erwiesen, die Herrlichkeit Gottes oder die neuen Dinge seines Reiches zu erkennen. Von da an offenbaren Jünger und Menschen ihren Unglauben und ihre daraus resultierende Ohnmacht gegenüber Satan; ihre mangelnde Einsicht in Bezug auf die Leiden des Sohnes des Menschen; ihren weltlichen Ehrgeiz, der sich unter dem Namen des Herrn tarnt, obwohl er so völlig unvereinbar damit ist; den Parteigeist, der den Geist Gottes übersieht, der sich herablässt, souverän zu wirken; und den Geist der Gnade, den Gott jetzt in Christus zeigte, im Gegensatz zu alledem, was sogar ein Elia tat.
Aber jetzt haben wir nicht das Versagen der Apostel, sondern das Urteil derer, die entweder Jünger waren oder sein wollten. Das wird uns am Schluss des Kapitels in drei verschiedenen Formen nacheinander vor Augen geführt. „Und als sie auf dem Weg dahinzogen, sprach einer zu ihm: Ich will dir nachfolgen, wohin irgend du gehst“ (V. 57). Es war offenbar ein gutes Bekenntnis, wie es ein eifriger Vorsatz war; aber der Mensch kann niemals vor dem Herrn hergehen. Keiner hat sich jemals Gott hingegeben – er muss berufen werden. Wer sagt: „Ich will dir nachfolgen“, kennt seine Schwäche nicht. Wenn wir bedenken, was der Mensch ist und was Jesus ist, ist es für den Menschen offensichtlich die größte Anmaßung zu sagen: „Ich will dir folgen, wohin du auch gehst“, und doch sieht der Mensch darin keine Anmaßung. Der Mensch ist so unwissend, so vom Unglauben vereinnahmt, dass ihm der wahre Glaube anmaßend erscheint, während es nichts so Demütiges gibt; denn der Glaube vergisst sich selbst in der Güte und Macht dessen, auf den er sich stützt.
Es war der Ausdruck von Selbstvertrauen, zu Jesus zu sagen: „Ich will dir folgen, wohin du auch gehst.“ Wer das aber tut, verrechnet sich immer. Er übersieht die Herrlichkeit Christi und die Tiefe seiner Gnade. Er übersieht auch seine eigene völlige Kraftlosigkeit und vielleicht sogar die Notwendigkeit der Vergebung seine Sünden. Kein Mensch ist fähig, bis er durch die Gnade berufen wird, dem Herrn zu folgen. Und wenn wir berufen sind, schickt uns der Herr nicht auf unsere eigenen Kosten los. Er gibt denen, die Ihn bitten, großzügig die nötige Weisheit und Fähigkeit; aber Er geht uns voraus. Dem Herrn zu folgen, wohin Er auch ging, war vor seinem Tod (wie in diesem Fall) jenseits des Menschen. Wenn sogar Petrus zu einem späteren Zeitpunkt etwas Ähnliches sagte, dann war es kurz bevor er den Herrn verleugnete.
So ist das Fleisch. „Herr, mit dir bin ich bereit, auch ins Gefängnis und in den Tod zu gehen“ (Lk 22,33), sagte Petrus; aber in Wirklichkeit erschreckte ihn schon der Schatten dessen, was kommen würde. Eine Magd reichte aus, um den Ersten der Apostel zu erschrecken. Sie brachte ihn dazu, unter Eid zu lügen; wohingegen derselbe Petrus nach dem Tod und der Auferstehung Christi, als sein eigenes Gewissen durch den Glauben gemäß der Besprengung mit dem Blut Jesu gereinigt worden war, kühn wie ein Löwe wurde, als er schließlich dem Herrn nicht nur ins Gefängnis, sondern in den Tod am Kreuz folgte. Aber das war ganz und gar die kraftspendende Wirkung der Gnade Gottes, nicht seine eigenen Kraft, die völlig versagte. Als seine natürliche Kraft weg war, war er stärker als je zuvor: Er war nur dann wirklich stark, wenn er keine eigene Kraft hatte.
Der Herr antwortet dem Schriftgelehrten (denn als solchen kennen wir ihn aus einem anderen Evangelium): „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, aber der Sohn des Menschen hat nicht, wo er das Haupt hinlege“ (V. 58). Der Mann wurde verurteilt. Er kam, um zu bekommen, was er bekommen konnte, und der Herr hatte ihm nichts zu geben – nichts als Schande, Leid und Elend. Die Füchse mögen Höhlen haben und die Vögel des Himmels Nester, aber der verworfene Messias hatte keine irdische Ruhestätte. Es gab in Israel keinen Menschen, der so arm war wie der Herr Jesus. Als Er ihnen eine Lektion über die Unterwerfung unter den Kaiser erteilte, den ihre Sünden über sie gesetzt hatten, musste Er um einen Denar bitten, der Ihm gezeigt werden sollte. Wir wissen nicht, dass der Herr jemals einen Bruchteil besaß. „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, aber der Sohn des Menschen hat nicht, wo er das Haupt hinlege.“ Es war also sinnlos für diesen Mann, Ihm in der Hoffnung zu folgen, dadurch etwas zu gewinnen. Was konnte man auf der Erde dadurch gewinnen, als einen Anteil an seiner Verwerfung? „Wenn wir allein in diesem Leben auf Christus Hoffnung haben, so sind wir die elendesten von allen Menschen“ (1Kor 15,19). „Er sprach aber zu einem anderen: Folge mir nach“ (V. 59a). Das Fleisch, das sich so kühn anbietet, Jesus nachzufolgen, ist wirklich langsam, Ihm zu folgen, wenn Er ruft; wie dieser Mann, obwohl er gerufen wurde, sofort die Schwierigkeiten empfindet und sagt: „Herr, erlaube mir, zuvor hinzugehen und meinen Vater zu begraben“ (V. 59b). Das findet man bei wahren Gläubigen. Wenn ein Mensch das Christentum als Theorie vor seinem geistigen Auge hat, scheint alles leicht. Er denkt, dass er alles tun kann. Wo der Glaube jedoch echt ist, werden Schwierigkeiten empfunden; und dieser Mann tritt für die allererste aller menschlichen Pflichten ein. Was würde nicht nur vernünftig erscheinen, sondern ihm so sehr auferlegt, als zuerst hinzugehen und seinen Vater zu begraben? Hat nicht das Gesetz dem Kind geboten, Vater und Mutter zu ehren? Gewiss; aber jetzt einer war da, der größer war als das Gesetz. Der Gott, der das Gesetz gab, rief, und wenn Er sagt: „Folge mir nach“, gibt der Glaube alles auf, sei es Vater oder Mutter oder Frau oder Kinder, um Christi willen. Dazu müssen die Gläubigen früher oder später kommen; im Allgemeinen auf lange Sicht jeder, der Christus gründlich nachfolgt. Man spürt es nicht in jedem Augenblick; aber das Prinzip des Christentums ist der souveräne Ruf Gottes in Christus, der einen einfach aus der Welt herausnimmt. Solange man noch in der Welt ist, gehört man zu einem anderen – unbedingt und allein zu Christus, um den Willen Gottes zu tun.
Daher müssen alle natürlichen Bindungen im Vergleich wie die grünen Stricke sein, mit denen Simson gebunden war, und die nicht mehr als ein Werg vor seiner alles überwindenden Kraft waren. Die innigsten natürlichen Bindungen sind schließlich nur fleischlich; Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht erben (1Kor 15,50). Die Verbindung mit Christus ist vom Geist; und der Geist ist mächtiger als das Fleisch. Deshalb, was auch immer der Anspruch eines toten Vaters sein mag, oder was den Gefühlen eines Juden gebührte – denn der Jude betrachtete denjenigen, der seinen Vater nicht mit angemessener Sorgfalt und Zuneigung beerdigte, als verloren für alles, was angemessen war, und als unwürdig, mit ihnen in Verbindung zu treten –, doch wenn die eindeutige Person und der Ruf Christi in diesem Moment eintreten, muss man Ihm auf jeden Fall folgen.
Dies war eine Prüfung; Christus wusste alles, und Er hat ihn nicht ohne moralisches Motiv gerade an diesem Punkt eher als an jedem anderen gerufen; und die Frage für ihn war, ob Christus mehr für ihn war als irgendjemand oder irgendetwas in der Welt sonst. War es wirklich so, dass es ihm wichtiger war, bei den Juden und seiner Familie gut angesehen zu sein als Christus, als Himmel oder Hölle oder als die Ewigkeit selbst? Dieser Mann mag aufrichtig den Wunsch gehabt haben, Christus nachzufolgen, und doch bittet er um einen Aufschub auf dem Weg. Aber die Antwort des Herrn an ihn lautet: „Lass die Toten ihre Toten begraben, du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes“ (V. 60) – eine verwirrende Antwort für einen Menschen, dessen Auge nicht einfältig war.
So prüft der Herr den Glauben. Er legt die Dinge nicht in der einfachsten Form dem Glauben oder dem Unglauben vor – vor allem, wo etwas erlaubt ist, das hindert. Man wird den Herrn fragen müssen. So sagt Er hier: „Lass die Toten ihre Toten begraben“ – das heißt, lass die geistlich Toten ihre natürlichen Toten begraben – „du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes.“ Dieser Mann war nicht nur berufen, Jesus nachzufolgen, sondern ein Zeuge für ihn zu sein, ein Verkündiger des Reiches Gottes. Wie sollte es anderen ergehen, wenn nicht der Glaube in ihm war, alles für Christus aufzugeben?
Einer der Gründe, warum das Zeugnis über Christus so wenig Kraft hat, ist, dass es so wenig Glauben bei denen gibt, die es bezeugen. Moslems und so weiter werfen christlichen Missionare ständig vor: „Ihr behauptet, in der Bibel eine Offenbarung Gottes zu haben; aber ihr selbst handelt offensichtlich nicht nach diesem Buch. Wie könnt ihr ernsthaft von uns verlangen, dass wir glauben? Wie können wir glauben, dass ihr es glaubt? Wir glauben unseren Büchern, und wenn wir den Koran mit seinem System von Gebeten und Waschungen akzeptieren, dann folgen wir ihm. Wir halten uns peinlich genau an die Vorschriften des Propheten. Ihr behauptet, dass Christus zum Beispiel die Bergpredigt gehalten hat. Doch ihr entzieht euch der Schwierigkeit, sie nicht zu befolgen, ständig mit dem Argument, dass sich die Zeiten geändert haben. Wir halten uns jeden Tag und um jeden Preis an den Koran. Gott ist der unveränderliche Gott, und er hat einen ständigen Anspruch an die Gläubigen.“
Eines der Haupthindernisse für die Bekehrung anderer religiöser Menschen ist also die Art und Weise, in der sich die Diener Christi durch ihren Mangel an Glauben dem Spott ihrer Gegner aussetzen. Das vergrößert den Unglauben des Herzens, weil die bekennende Christenheit zum größten Teil nicht einmal vorgibt, unflexibel an der Schrift festzuhalten. Sie sagen, dass sich die Zeiten so verändert haben, dass sie nur solche Teile für wahr halten können, die in die heutige Zeit passen. Sie denken sich nichts dabei, die Welt und ihren Ruhm zu suchen und alles, was das Fleisch anzieht. Sie meinen, die einen auf diese Weise und die anderen auf jene Weise anzulocken, während sie in Wahrheit selbst von der Welt, der Wahrheit und dem Willen Gottes weggezogen werden. Um für das Ansehen des Menschen zu werben und das zu suchen, was die Welt schätzt, bedeutet praktisch, das Christentum für den Willen des Menschen aufzugeben. Es sind die Lebenden, die sich unter die Toten mischen, anstatt die Toten ihre Toten begraben zu lassen. Der Ruf des Herrn muss alles andere beiseitesetzen.