Das Evangelium der Gnade Gottes ist nicht dasselbe wie das Evangelium des Reiches Gottes. Beides soll gepredigt werden – dass Gott jetzt durch Christus Menschen aus reiner Gnade errettet. Außerdem gibt es ein Reich, das Er durch seine Macht in Kürze errichten wird, das die ganze Erde umfassen wird. Bevor das Ende kommt, wird es also ein besonderes Zeugnis von diesem Kommen des Herrn geben, wie Er hier andeutet. So wird in Offenbarung 14 ein Engel von Johannes in einer prophetischen Vision gesehen, der das ewige Evangelium hat, um es den Bewohnern der Erde und allen Völkern zu verkündigen, und der „mit lauter Stimme sprach: Fürchtet Gott und gebt ihm Ehre, denn die Stunde seines Gerichts ist gekommen; und betet den an, der den Himmel und die Erde gemacht hat und das Meer und die Wasserquellen“ (Off 14,7). Nun kann nicht gesagt werden, dass die Stunde seines Gerichts gekommen ist; denn es ist, im Gegenteil und ausdrücklich, der Tag seiner Gnade und Errettung. Daraus ergibt sich eindeutig, dass es kurz vor dem Ende dieses Zeitalters eine bemerkenswerte Kraft des Geistes inmitten der Juden geben wird; und aus eben diesem Volk, das Jesus einst verwarf, werden Boten des Reiches ausgehen, bewegt von seiner Gnade, um das baldige Kommen des Gerichtes Gottes und die Errichtung des Königreichs der Himmel in Macht und Herrlichkeit zu verkünden. Wer wäre in Gottes Gnade so geeignet, den wiederkehrenden Messias zu verkünden, als einige aus demselben Volk, das Ihn einst ans Kreuz genagelt hat – um Ihn jetzt unter all den stolzen Heiden zu verkünden, deren damaliger Vertreter über seinem Kreuz schreiben ließ: „Dieser ist Jesus, der König der Juden“ (Mt 27,37)? Das Zeugnis soll also allgemein geschehen. Wie demütigend für die Christenheit und mit ihr für das Papsttum, für den Islam und auch für das Heidentum, das immer noch in Asien und Afrika vorherrscht – die große Masse der Menschheit. Trotzdem verschließen Christen ihre Augen vor den einfachsten und ernsten Tatsachen und rühmen sich der Fortschritte des Evangeliums! Nein, die Heiden waren weise in ihrer eigenen Einbildung, obwohl die souveräne Gnade trotz allem wirkte. Es ist jedoch anderen Zeugen vorbehalten – wenn der Abfall in der Christenheit vollendet und der Mensch der Sünde offenbart sein wird –, das kommende Reich auf der ganzen bewohnbaren Erde zu verkünden.
Wenn ihr nun den Gräuel der Verwüstung, von dem durch Daniel, den Propheten, geredet ist, stehen seht an heiligem Ort – wer es liest, beachte es – (24,15).
In Vers 15 zeigt uns der Herr nicht allgemeine Zeichen des nahenden Endes oder das, was das Ende im Allgemeinen von den früheren Kämpfen Israels unterscheiden würde, sondern Er weist auf Umstände besonderer Art hin, die vielleicht teilweise auf das angewendet werden können, was vor dem Fall Jerusalems unter Titus geschah, die sich aber nur dann in der Zukunft Israels erfüllen können, wenn wir die Besonderheit der Ereignisse, den Zusammenhang der Prophezeiung und vor allem die Vollendung, in der alles enden soll, gebührend beachten.
Zunächst weist unser Herr also auf einen jüdischen Propheten hin. Die Gedankenstriche warnen davor, dass die Vorhersage missverstanden werden könnte – jedenfalls forderte sie Aufmerksamkeit. Zwei Stellen der Prophezeiung sprechen von diesem Gräuel (Dan 11,31; 12,11). Ich zögere nicht zu sagen, dass die erste eine Vorschattung der Taten des Antiochus Epiphanes Jahrhunderte vor Christus war, und dass die zweite die ist, von der hier die Rede ist, und die noch nicht vollendet ist. Völlig losgelöst von der Epoche des Antiochus spricht Daniel 12 von einem anderen Götzen, der Verwüstung nach sich zieht, und dies ausdrücklich „zur Zeit des Endes“. „Viele werden sich reinigen und weiß machen und läutern, aber die Gottlosen werden gottlos handeln; und alle Gottlosen werden es nicht verstehen, die Verständigen aber werden es verstehen“ (Dan 12,10). Damit haben wir ein weiteres Bindeglied zu den Worten unseres Herrn –„wer liest, beachte es.“– „Und von der Zeit an, da das beständige Opfer abgeschafft wird, und zwar um den verwüstenden Gräuel aufzustellen, sind 1290 Tage“ (Dan 12,11). Neben dem götzendienerischen Übel, das der berüchtigte König des Nordens, Antiochus, auferlegt hatte, lange bevor der Herr erschien, blickt Daniel also auf ein ähnliches Übel am Ende der Leiden Israels, dessen Zerstörung ihrer endgültigen Befreiung unmittelbar vorausgeht. „Glückselig der, der ausharrt und 1335 Tage erreicht!“ (Dan 12,12). In Bezug auf Letzteres zitiert unser Herr den jüdischen Propheten und wirft weiteres Licht auf dieselbe Zeit und dieselben Umstände.
Die Schlussfolgerung ist klar und gewiss: In Vers 15 von Matthäus 24 spielt unser Herr auf den Teil von Daniel an, der noch in der Zukunft liegt, nicht auf das, was Geschichte war, als Er dies auf dem Ölberg sagte. Ich bin mir bewusst, dass einige die Sache mit dem verwechselt haben, was wir in Daniel 8 und 9 lesen. Aber der „verwüstende Frevel“ ist nicht dasselbe wie „der Gräuel der Verwüstung“; noch können wir die „letzte Zeit des Zorns“ mit „der Zeit des Endes“ absolut identifizieren (vgl. Jes 10). Die Unterscheidungen der Schrift sind ebenso zu beachten wie die Punkte der Ähnlichkeit und der Verbindung. Der letzte Vers von Daniel 9 scheint vielleicht stärkere Ansprüche zu haben. Dort haben wir einen Bund, der für eine Woche geschlossen wird; und dann, in der Mitte der Woche, werden Schlachtopfer und Speisopfer aufhören; danach gibt es wegen der Beschirmung der Gräuel, der den Abscheulichkeiten oder Götzen gegeben wird, einen Verwüster, „und zwar bis Vernichtung und Festbeschlossenes über das Verwüstete ausgegossen werden“ (d. h. Jerusalem). Damit habe ich das wiedergegeben, was ich für den wahren Sinn dieser wichtigen Stelle halte, denn wenn man sie genau ausführt, verschwindet die vermeintliche Ähnlichkeit mit dem „Gräuel der Verwüstung“. Ein Verwüster, der wegen des Flügels (d. h. des Schutzes) von Gräueln kommt, ist ganz anders als der Gräuel, der verwüstet, oder das Götzenbild, das noch im Heiligtum stehen soll. Mit der Aufrichtung dieses Gräuels ist die Zeit von 1290 Tagen verbunden. Selbst für diejenigen, die dies als so viele Jahre interpretieren, ist es unmöglich, die Prophezeiung auf die Zerstörung Jerusalems oder seines Tempels durch die Römer anzuwenden. Wäre es so gewesen, müsste die Zeit des Segens für Israel schon lange angebrochen sein. Hat die Prophezeiung also versagt? Nein; aber die Leser haben versagt, sie richtig zu verstehen. Wir müssen nicht die Sprache der Schrift korrigieren, sondern unsere Auslegungen: Wir müssen immer wieder zum Wort Gottes zurückkehren und sehen, ob wir uns nicht geirrt haben.