Behandelter Abschnitt Nah 1,1-3
Einleitung
Einzigartig war der Vorwurf der Juden zur Zeit unseres Herrn (Joh 7,52); denn es gab Propheten, die aus Galiläa hervorgegangen waren. Jona und Nahum waren beide Galiläer. Es gibt nichts, worin die Menschen im Allgemeinen so blind sind, wie beim Lesen der Bibel; und sogar die Tatsachen der Heiligen Schrift werden allzu oft mit größerer Nachlässigkeit übergangen als die irgendeines anderen Buches. Die Menschen vergessen leicht, was ihnen nicht in den Sinn kommt.
Segnius irritant animos demissa per aurem,
Quam quae sunt oculis subjecta fidelibus, et quae
Ipse sibi tradit spectator.1
Auch Gemütserregungen steuern das Urteil. Daher die Neigung, die einfachsten Tatsachen zu vergessen und ein künstliches Mittel zu finden, um das zu erhöhen, was für unseren Verstand den höchsten Platz in religiösen Dingen einnimmt. Da Jerusalem einst durch Gottes Berufung einen solchen Platz hatte, bemühten sich die Juden trotz ihres verkehrten Urteils, alles zu übertreiben, was es mit einem Heiligenschein versah, und zu leugnen, was Gott anderswo gewirkt hatte. Aber Gott liebt es, in unerwarteter Gnade zu wirken; und deshalb bezweifle ich nicht, dass die Berufung dieser beiden Propheten, die beide mit Ninive zu tun hatten, angebracht war. Galiläa war ein Gebiet, das sowohl an die Heiden grenzte, als auch nicht wenige von ihnen in seiner Mitte beherbergte. Daher konnten die Menschen dort, obwohl sie wie überall Vorurteile hatten, nicht anders, als für Gedanken und Herzensübungen bezüglich der Heiden offen zu sein. Dennoch konnte es, wie wir bei Jona gesehen haben, ein Empfinden geben, das so entschieden jüdisch war wie bei irgendeinem Propheten, den Gott jemals erweckt hat, sogar in Jerusalem selbst.
Kapitel 1
Zuallererst stellt Nahum uns den Charakter Gottes in bemerkenswert lebendigen Begriffen vor Augen, und zwar mit einer Majestät der Äußerung, die dem Thema, das Gott ihm anvertraut hat, höchst angemessen ist. Der „Ausspruch über Ninive“ bedeutet das schwere Gericht Gottes über diese berühmte Stadt, eine Formulierung, die bei den Propheten üblich ist. Bei Jesaja können wir uns an die Last von Babylon erinnern, und an einen Ort nach dem anderen; das heißt, eine Belastung des Gerichts, die deshalb „Last“ genannt wurde. „Ausspruch über Ninive. Das Buch des Gesichtes Nahums, des Elkoschiters. Ein eifernder und rächender Gott ist der Herr, ein Rächer ist der Herr und voll von Grimm; der Herr übt Rache an seinen Widersachern und trägt seinen Feinden nach. Der Herr ist langsam zum Zorn und groß an Kraft, und er hält keineswegs für schuldlos den Schuldigen. Der Herr – im Sturmwind und im Gewitter ist sein Weg, und Gewölk ist der Staub seiner Füße“ (V. 1–3). Neigen wir nicht alle dazu, diese Dinge gegeneinander aufzurechnen? Aber in Wahrheit ist es nicht so; denn je stärker das Empfinden Gottes gegen das ist, was seine eigene Herrlichkeit zerstört, desto würdiger ist es, dass Er langsam zum Zorn ist, wie wir es aus ganz anderen Gründen sein sollten. In der Tat ist langsam zum Zorn normalerweise der Beweis für moralische Größe, obwohl es extreme Fälle gibt, in denen Abwarten Mangel an rechtem Empfinden zeigen würde. Die Heilige Schrift zeigt uns sowohl die Regel als auch die Ausnahmen. Nicht, dass es von Gott oder gar vom Menschen ist, dass es langsam im Empfinden gibt; aber nach dem Empfinden zu handeln, ist eine andere Sache. Ich bin überzeugt, dass je sich jemand der Gegenwart Gottes bewusst ist und weißt, was dazu passt, und damit auch, was zu uns passt, die wir seine Kinder sind – nämlich im Herzen ein Interesse an seinem Reich zu haben, und auch das Empfinden, dass uns seine Ehre wichtig ist, ja wichtiger als jede andere Überlegung, desto mehr sollten wir in Gegenwart des Bösen eine langmütige Gesinnung pflegen.
Und doch ist es sicher, dass der Zorn im wahren und gottgefälligen Sinn der Abscheu vor dem Bösen ein Teil der moralischen Natur unseres Herrn Jesus war. Es gibt keinen größeren Irrtum der modernen Zeit unter nicht wenigen Christen, als den Ausschluss des heiligen Zorns von dem, was moralisch vollkommen ist. Unser Herr Jesus blickte bei einer Gelegenheit mit Zorn um sich (Mk 3,5); bei einer anderen gebrauchte Er mit Empörung eine Geißel aus kleinen Schnüren (Joh 2,14-16); so donnerte Er auch von Zeit zu Zeit über religiöse Heuchler, denen vom Volk eine hohe Wertschätzung entgegengebracht wurde (Mt 22,18; 23). Ein Christ, der solche Empfindungen nicht teilt, dem fehlt etwas in Bezug auf Gott, auch kann man nicht von ihm sagen, dass er ein Mann Gottes ist. Ich gebe zu, dass Zorn zu sehr dazu neigt, eine persönliche Form anzunehmen und folglich in rachsüchtige sowie verletzte Gefühle abgleitet.
Es ist nicht nötig, dass ich sage, dass dies bei unserem Herrn Jesus völlig fehlte. Er kam, um den Willen Gottes zu tun; Er tat nie etwas anderes als diesen Willen – nicht nur das, was damit vereinbar war, sondern nur das. Aber gerade deshalb war Er auch langsam im Blick auf ein schnelles Urteil, geschweige denn, dass Er es an den Menschen ausführte. Ja, wie wir wissen, lehnte Er es absolut ab, als Er hier auf der Erde war. Er konnte die rechte Zeit abwarten. Gott zeigte damals seine Gnade, und als Teil seiner Gnade seine Langmut inmitten des Bösen. Und es gibt nichts Schöneres, nichts Wahrhaftigeres von Gott, als diese Darstellung der Gnade in Geduld.
1 Langsamer erregt die Seelen, was durch das Ohr eindringt, als was den leichtgläubigen Augen vorgeworfen wird und was der Zuschauer sich selbst erzählt.↩︎