Behandelter Abschnitt Dan 6,14-15
Aber jetzt müssen wir das schöne Verhalten von Daniel beachten. Es gibt keine Andeutung, dass das Dekret für Daniel ein Geheimnis war. Im Gegenteil, er war sich völlig bewusst (V. 10), was zum Gesetz geworden war. Aber andererseits konnte er seinen Gott nicht bloßstellen. Deshalb ging er seinen Weg. Er war ein alter Mann, und der Glaube, der von frühester Zeit an in ihm gebrannt hatte, war mindestens so hell wie immer. Als er daher wusste, dass alles unterschrieben und besiegelt und geregelt war, soweit es der Mensch konnte, und dass das unveränderliche Gesetz der Meder und Perser verlangte, dass kein Knie des Menschen sich dreißig Tage lang vor Gott beugen sollte, – da er das alles wusste, ging er in seine Kammer. Er macht das nicht demonstrativ, aber er verbirgt es auch nicht. Mit offenen Fenstern, wie immer, in Richtung Jerusalem, beugt er sich dreimal am Tag vor seinem Gott nieder und betet und lobt, wie er es früher getan hatte. Er gibt seinen Feinden die Gelegenheit, die sie gesucht haben. Sie erinnern den König sogleich an das Urteil, das er gefällt hat, und wollen Daniel vor ihm anklagen. Sie sagten:
Daniel, einer der Weggeführten aus Juda, achtet weder auf dich, o König, noch auf das Verbot, das du hast aufzeichnen lassen; sondern er verrichtet dreimal am Tag sein Gebet. Da wurde der König, als er die Sache hörte, sehr betrübt, und er sann darauf, Daniel zu retten; und bis zum Untergang der Sonne bemühte er sich, ihn zu befreien (6,14.15).
So unglücklich er auch war, auf den Appell der Vorsteher an ihn wegen der Unveränderlichkeit der Gesetze der Meder und Perser sündigt er wieder. Er überlässt den Propheten dem Zorn seiner Feinde, um ihn in die Löwengrube zu werfen, indem er sich kaum zu hoffen erlaubte, dass sein Gott ihn erlösen würde. Und Gott erscheint für seinen Knecht. Gott errettet, und das schreckliche Schicksal, das dem Propheten zugedacht war, ereilte die, die ihn vor dem König angeklagt hatten. „Versunken sind die Nationen in die Grube, die sie gemacht haben; ihr Fuß wurde in dem Netz gefangen, das sie heimlich gelegt haben. Der Herr hat sich kundgetan: Er hat Gericht ausgeübt, indem er den Gottlosen verstrickt hat in dem Werk seiner Hände“ (Ps 9,16.17). Nichts kann deutlicher sein als die Bedeutung dieser Aussage für die Befreiung des gottesfürchtigen Überrestes am Ende durch die Ausgießung des Zorns und Verderbens über die Verräter im Innern und die Unterdrücker im Äußeren der letzten Tage. Das Ende wird so sein wie hier: Die Anerkennung von Seiten der Nationen, dass der lebendige Gott der Gott des erlösten Israels ist und dass sein Reich nicht zerstört werden wird.
Hier haben wir also in Kapitel 5 und 6 die kombinierten Vorbilder dessen, was die gegenwärtige Haushaltung beenden wird. Denn wenn wir später in diesem Buch Daniel nachschauen, wird eine Person vorgestellt, die „der König“ genannt wird (Dan 11,36 usw.). Das ist dort eine direkte Prophezeiung von ähnlichen Taten: „Und der König wird nach seinem Gutdünken handeln, und er wird sich erheben und sich groß machen über jeden Gott, und gegen den Gott der Götter wird er Erstaunliches reden“ und so weiter. Nicht, dass Darius persönlich diese Dinge tat. Ich spreche davon, was seine Tat oder sein Erlass in den Augen Gottes bedeutete. Die Frage ist, was Gott von der Sünde dachte, in die Darius hineingezogen worden war, und zwar als ein Vorbild für die Zukunft.
Weiter heißt es von „dem König“: „Und auf den Gott seiner Väter wird er nicht achten, und weder auf die Sehnsucht der Frauen noch auf irgendeinen Gott wird er achten, sondern er wird sich über alles erheben“ (11,37).
Im Neuen Testament wird an mehr als einer Stelle darauf angespielt. Jemand könnte zu mir sagen: Das betrifft die Juden und nicht die gegenwärtige Haushaltung. Nun, wenn ich das aufgreife, was sich darauf bezieht, dann würde ich als Beweis 2. Thessalonicher 2,3.4 anführen: „Lasst euch von niemand auf irgendeine Weise verführen, denn dieser Tag [d. h. der Tag des Gerichts des Herrn über die Welt] kommt nicht, es sei denn, dass zuerst der Abfall komme [genau genommen heißt es: der Abfall zuerst] und offenbart werde der Mensch der Sünde, der Sohn des Verderbens, der widersteht und sich erhöht über alles, was Gott heißt oder verehrungswürdig ist, so dass er sich in den Tempel Gottes setzt und sich selbst darstellt, dass er Gott sei.“ Nun, es ist klar, dass das, was Darius tat, darin bestand, sich selbst über alles zu erheben, was Gott genannt oder angebetet wird. Denn das Gebet zu Gott zu verbieten und zu verlangen, dass das Gebet, das normalerweise Gott dargebracht wurde, nur für eine bestimmte Zeitspanne ihm selbst dargebracht werden sollte, war nicht mehr und nicht weniger als das Vorbild dessen, der diesen Platz in einer viel schrecklicheren und groben und buchstäblichen Weise einnehmen würde. Wir haben einen eindeutigen neutestamentlichen Beweis dafür, dass diese Tage, von denen in Daniel gesprochen wird und die damals vorgebildet wurden, noch nicht gekommen sind; dass diese Person, die durch die Prophezeiung erwartet wird, eine ist, die sich als Gott darstellen wird, nicht nur als der Stellvertreter Christi, mit Menschen, die bereit sind, sich vor ihm niederzubeugen und seine Füße zu küssen. Das ist alles böse und abergläubisch; aber es ist nicht ein Mensch, der sagt, er sei Gott, der sich in den Tempel Gottes setzt und sagt: Es soll kein Gebet dargebracht werden außer zu mir. Was auch immer das Übel des Papsttums und die Anmaßung des Papstes sein mag, es wird noch viel Schlimmeres kommen. Und das Ernste, an das man sich erinnern muss, ist dies, dass es nicht nur die Sache des Papsttums sein wird, sondern des Papsttums und des Protestantismus und so weiter, und das ohne Gott. Nicht einmal die Verbreitung der Wahrheit wird ein unfehlbares Schutzmittel gegen sie sein. Sehr schuldig und töricht waren die, die sich einst einbildeten, dass Israel, weil es die Bundeslade des Herrn hatte, im Kampf mit den Philistern unbedingt sicher war! Die Lade kehrte im Triumph zurück, aber wo waren sie?
Hüten wir uns vor der Einbildung, dass diesem Land wegen des religiösen Eifers kein Unglück geschehen kann. Du kannst dir vielmehr sicher sein: Je mehr Licht, je mehr Bibeln, je mehr Predigten, je mehr von allem, was gut ist, es gibt, wenn die Menschen sich nicht davon verändern lassen und nicht darin wandeln, desto größer ist die Gefahr. Wenn sie es als eine leichte Sache behandeln und es verachten; wenn sie kein Gewissen haben, sich dem Licht der Schrift praktisch zu beugen, werden sie ganz sicher in die eine oder andere Täuschung fallen. Denn wer soll sagen, was in der Schrift nicht von Bedeutung ist, oder wodurch der Teufel Macht über die Seele gewinnt? Wo immer jemand sich bewusst weigert, auf Gott zu hören, sich in allem dem Ungehorsam gegen Gott hingibt, wer kann sagen, wo das enden soll? Es gibt keine Sicherheit außer auf dem Weg der heiligen Abhängigkeit von Gott und dem Gehorsam gegenüber seinem Wort. Wir sollen nicht einen Teil der Heiligen Schrift über einen anderen stellen, weil wir daraus mehr Trost schöpfen. Es gibt keine Sicherheit, außer wenn wir die ganze Schrift anerkennen. Es ist sehr herrlich, die Gegenwart des Herrn zu genießen, aber mehr noch, es ist eine furchtbare Sache, im Ungehorsam gegenüber dem Herrn gefunden zu werden. Ungehorsam ist wie die Sünde der Wahrsagerei (1Sam 15,23). Es gibt nichts Schrecklicheres. Gott ungehorsam zu sein, bedeutet praktisch, seine Ehre zu zerstören. So war es in Israel, und doch wird es noch viel schlimmer kommen, hervorgehend aus dem lauen und bösen Zustand der Christenheit.
Wir haben also zuerst den Abfall des Glaubens. Das Christentum wird aufgegeben werden, und je mehr Licht, desto sicherer wird es für die Masse kommen, die dieses Licht ablehnt. Niemals gab es in Israel eine Zeit, die so vielversprechend erschien wie der Tag, an dem unser Herr auf der Erde war, niemals eine solche Zeit religiöser Aktivität, in der die Schriftgelehrten und Pharisäer Meer und Land durchzogen, um einen Proselyten zu machen (Mt 23,15). Sie zeigten offenbar Eifer bei der Lektüre der Heiligen Schrift. Sie hatten die Priester und Leviten; es gab keinen Götzendienst, nichts Grobes. Sie waren ein bibellesendes Volk und ein Volk, das den Sabbat hielt; sie nannten unseren Herrn sogar einen Sabbatbrecher, so starr schienen sie nach außen hin den Tag zu beachten. All das geschah, aber worauf lief es hinaus? Was taten sie? Sie kreuzigten den Herrn der Herrlichkeit, und sie verwarfen das Zeugnis und das gnädige Wirken des Heiligen Geistes, so dass das Ende war, dass der König seine Heere aussandte, diese Mörder vernichtete und ihre Stadt verbrannte. Es war auch nicht so, dass keine Bekehrung stattgefunden hätte. Gott ließ seine Macht walten und sie bekehrten sich zu Tausenden. Jakobus sagt: „Du siehst, Bruder, wie viele Tausende [eher Myriaden] es unter den Juden gibt, die gläubig geworden sind“ (Apg 21,20). Es gab also Tausende und Zehntausende, die sich nach dem Kreuz Jesu bekehrten, und man könnte meinen, dass ganz Israel und die Welt bekehrt werden würden. Aber was war die Tatsache? Gott war lediglich dabei, diese Tausende in seiner Gnade zu sammeln, um den Rest zu verlassen, um in dem Gericht, das über Jerusalem herabkam, zerstört zu werden. Das ist ein kleiner Vorgeschmack auf das Gericht, das in Kürze über die Welt hereinbrechen wird. Und wenn Gott jetzt seine Macht ausübt und überall Menschen aus der Welt sammelt, ist es für jeden eine ernste Frage, ob sie bekehrt sind oder nicht. Und wenn sie bekehrt sind, ist es ein Aufruf an sie, auf dem Pfad des Gehorsams zu wandeln, sich in allen Dingen dem Wort Gottes zu unterwerfen und Christus zu suchen. Die Vorstellung, die manche von einer allgemeinen Bekehrung haben, ist eine Täuschung. Babylon oder das Tier werden die beiden großen Schlingen des letzten Tages sein. Die eine wird die Quelle der Verderbnis sein, gepaart mit Religion und einer Entweihung aller heiligen Dinge. Das andere wird durch den letzten Grad von Stolz und Gewalt gekennzeichnet sein. Es wird der Anschein erweckt werden, dass das Christentum ein völliger Fehlschlag war, und die Menschen werden meinen, sie hätten ein neues Allheilmittel für alle Übel und Nöte des Menschen, das besser ist als das Evangelium. Und sie werden ihre Götzen aus Gold, Silber und Kupfer preisen und sich der Tatsache rühmen, dass das Christentum, außer der äußeren Form, vom Angesicht der Erde verschwunden ist. Dann wird das Gericht kommen.
Offenbarung 17 zeigt uns, dass es mit dem neutestamentlichen Babylon, der verdorbenen Form des religiösen Abfalls, genauso sein wird wie mit Babylon bei Daniel. Der Mensch wird als Werkzeug für den Untergang Babylons benutzt werden, der Frau, die von dem Blut der Heiligen und mit dem Blut der Märtyrer Jesu betrunken ist. Die Menschen werden ihre Rache an ihr ausüben. Man sieht sie nicht mehr auf dem scharlachroten Tier reiten, sondern zertrampelt, gehasst und verwüstet. Und was haben wir dann? Nicht das Christentum, das überall in der Welt verbreitet ist. Im Gegenteil, das Tier füllt die Szene und nimmt den Platz Gottes ein. Anstatt nur ein berauschtes, entwürdigtes Christentum zu haben, wird es dann der Mensch sein, der sich in stolzer Missachtung Gottes aufrichtet. Er nimmt Gottes Platz auf der Erde ein. Ich gebe nicht vor zu sagen, welche Zeitspanne zwischen der Zerstörung Babylons und dem Fall des Tieres vergehen wird. Offenbarung 17 beweist, dass die Welt durch die Zerstörung Babylons noch lange nicht zu einem besseren Schauplatz geworden ist, sondern dass an die Stelle des heuchlerischen Bösen nur das dreiste Böse getreten ist; und an die Stelle der religiösen Verderbnis treten irreligiöser Stolz und Trotz gegen Gott. „Und die zehn Hörner, die du sahst, sind zehn Könige, die noch kein Königreich empfangen haben, aber sie empfangen Gewalt wie Könige für eine Stunde mit dem Tier. Diese haben einen Sinn und geben ihre Macht und Gewalt dem Tier“ (Off 17,12.13) – nicht Gott. Alles wird dem Tier gegeben, um den Menschen zu erhöhen. Die Stunde wird gekommen sein, in der der Mensch den höchsten Platz in der Welt einnimmt. Aber im Gegensatz zum Ehrgeiz des Menschen im Allgemeinen werden sie ihren eigenen Willen für den Willen eines anderen geben, der Wunsch, einen sehr hohen und erhabenen Menschen zu haben, vor dem sich alle beugen müssen. Wenn dies erreicht ist, heißt es: „Diese werden mit dem Lamm Krieg führen, und das Lamm wird sie überwinden“ (Off 17,14). Dass dies auf die Zerstörung Babylons folgt, ist klar. Denn danach heißt es: „Und die zehn Hörner, die du sahst, und das Tier, diese werden die Hure hassen und werden sie öde und nackt machen und werden ihr Fleisch fressen und sie mit Feuer verbrennen“ (Off 17,16). Das ist genau das, was dem Vorbild des Darius entspricht. Darius kommt und zerstört Babylon und nimmt das Königreich sofort ein; und das nächste ist, dass er von seinen Höflingen dazu gebracht wird, den Platz von Gott selbst einzunehmen. Er erlässt ein Gesetz oder bestätigt eines, dass dreißig Tage lang niemandem außer ihm selbst ein Gebet dargebracht werden darf. Das heißt, er maßt sich faktisch an, das Objekt aller Anbetung zu sein; er erhebt Anspruch auf das, was ausschließlich dem wahren Gott zusteht.
Diese beiden Vorbilder sind sehr lehrreich, da sie die allgemeine Geschichte der Nationen abschließen. Sie zeigen nicht, was sie von Anfang an und während ihres Fortschritts charakterisiert hatte, sondern die Hauptmerkmale des Bösen am Ende. Über Babylon wird Verderben hereinbrechen, weil es sich in den religiösen Dingen Gottes entweiht hat; und dann wird sich das Haupt des Reiches zu gotteslästerlichem Stolz erheben, indem es sich die Ehre und den Ruhm anmaßt, die nur Gott selbst zustehen. Ich war bestrebt, die beiden Dinge miteinander zu verbinden, weil wir sonst die wahre Kraft der beiden nicht so gut erfassen können.
Wir haben nun das abgeschlossen, was ich den ersten Teil von Daniel nennen darf, weil er sich am Ende dieses Kapitels genau in zwei Teile teilt; und das ist ein Grund, warum erwähnt wird, dass Daniel in der Regierungszeit von Darius und in der Regierungszeit von Kores dem Perser gedieh. Im nächsten Kapitel werden wir feststellen, dass wir wieder in die Regierungszeit von Belsazar zurückkehren, wenn Daniel wieder vor uns gebracht wird. Aber ich muss es dabei belassen und bete nur, dass dieses Beispiel für die große Bedeutung des Lesens der Vorbilder der Schrift, wo es so vorgesehen ist, die Kinder Gottes aufrütteln möge zu sehen, dass es viel mehr aus der Schrift zu lernen gibt, als das, was auf den ersten Blick an der Oberfläche erscheint. Was Gott sagt, hat einen Charakter, der unendlich ist. Anstatt sich durch einen hier und da entnommenen Schluck zu erschöpfen, ist es der Brunnen selbst, die ständig fließende Quelle der Wahrheit. Je mehr wir in der Wahrheit wachsen, desto weniger sind wir mit dem zufrieden, was wir haben, und desto mehr spüren wir, was wir noch zu lernen haben. Es geht nicht um Worte der Demut, sondern um das wirkliche, tiefe Empfinden unserer eigenen völligen Unzulänglichkeit angesichts der Größe und Güte unseres Gottes, der so arme Würmer, wie wir es sind, genommen hat, um uns in seine eigene Herrlichkeit zu setzen – denn das sind wahrlich die mächtigen Wege seiner Gnade.