Behandelter Abschnitt Dan 5,22-23
Aber zuerst spricht er ein höchst schmerzliches Wort der Ermahnung aus. Er bringt ihm in wenigen Worten die Geschichte Nebukadnezars und Gottes Umgang mit ihm vor Augen. Er erinnert ihn dabei an seine eigene völlige Gleichgültigkeit, ja an seine rücksichtslosen Beleidigungen gegen Gott.
Und du, Belsazar, sein Sohn, hast dein Herz nicht gedemütigt, obwohl du dies alles gewusst hast. Und du hast dich über den Herrn des Himmels erhoben; und man hat die Gefäße seines Hauses vor dich gebracht, und du und deine Gewaltigen, deine Frauen und deine Nebenfrauen, ihr habt Wein daraus getrunken. Und du hast die Götter aus Silber und Gold, aus Kupfer, Eisen, Holz und Stein gerühmt, die nicht sehen und nicht hören und nicht wahrnehmen; aber den Gott, in dessen Hand dein Odem ist und bei dem alle deine Wege sind, hast du nicht geehrt (5,22.23).
Er führt ihm vor Augen, was diese Begebenheit in den Augen Gottes war. Denn das ist es, was die Sünde, was der Satan, immer zu verbergen sucht. Vor dem babylonischen Hof war es ein prächtiges Fest, verstärkt durch die Erinnerung an den Erfolg ihrer Waffen und die Überlegenheit ihrer Götter. Aber was war ihr prächtiges Gelage vor Gott? Was bedeutete es Ihm, dass die Gefäße seines Dienstes so stolz zur Schau gestellt wurden, um den Triumph Babylons und seiner Götzen zu rühmen? Für jemanden, der Ihn kannte, muss es ein höchst schmerzlicher Moment gewesen sein, wie sicher und schnell der Ausgang auch sein mag. Und doch gibt es Szenen, die sich jetzt in der Welt abspielen, die eine mindestens ebenso ernste Vorahnung geben. Die Frage ist: Sind wir im Geheimnis Gottes so weit, dass wir sein Urteil über all diese Dinge für uns lesen können? Wir können bereitwillig und ohne Kosten in gewissem Maß über die Anmaßung Nebukadnezars und über die offene Gottlosigkeit Belsazars urteilen; aber das große moralische Kriterium für uns ist dies: Erkennen wir das Gesicht des Himmels und der Erde in dieser unserer Zeit richtig? Sind uns die erniedrigenden Aspekte dieser Zeit entgangen? Sind wir einfach und ausschließlich mit den Interessen des Herrn in der gegenwärtigen Zeit beschäftigt?
Verstehen wir, was jetzt in der Welt vor sich geht? Glauben wir, was auf sie zukommt? Offensichtlich waren der König und sein Hofstaat nur die Werkzeuge Satans; und die Verachtung, die sie dem Gott des Himmels entgegenbrachten, war nicht nur das Werk ihres eigenen Verstandes, sondern Satan war ihr Meister. Und es ist ein wahres Sprichwort, dass man überall, wo man den Willen des Menschen findet, unweigerlich den Dienst des Satans vorfindet. Leider weiß der Mensch nicht, dass der Genuss einer Freiheit ohne Gott darin besteht und bestehen muss, das Werk des Teufels zu tun. König Belsazar und seine Herren mögen denken, dass sie nur ihre Siege über eine Nation feierten, die immer noch niedergeworfen und in Babylon gefangen war; aber es war eine direkte, persönliche Beleidigung, die dem wahren Gott dargebracht wurde, und Er antwortet auf die Herausforderung. Es war nicht länger eine Kontroverse zwischen Daniel und den Sterndeutern, sondern zwischen Belsazar selbst und Gott. Der Befehl, die Gefäße des Hauses des Herrn herbeizubringen, mochte nur eine böse, betrunkene Laune des Königs sein; aber die Krise war gekommen, und Gott musste einen entscheidenden Schlag ausführen. Verlass dich darauf, dass diese Tendenzen unserer Tage, obwohl sie nicht sofort von Gott getroffen werden, nicht vergessen werden; es gibt eine Anhäufung von Zorn für den Tag des Zorns. Die Gegenwart ist nicht eine Zeit, in der Gott seine Gerichte fallen lässt. Vielmehr ist es ein Tag, an dem der Mensch seine Sünden zum Himmel aufbaut, um dann umso furchtbarer zu fallen, wenn Gott seine Hand gegen ihn ausstrecken wird.
Aber auch dann gibt es eine Warnung, ernst, unmittelbar und vor allen. Und beachte, was war die große Schwierigkeit mit dieser auf die Wand geschriebenen Schrift? Die Sprache war chaldäisch, und die, die die Hand und die Schriftzeichen sahen, waren Chaldäer. Man hätte also meinen können, dass die bloßen Buchstaben den Chaldäern vertrauter sein müssten als Daniel. Es ist nicht die Art Gottes, wenn Er etwas mitteilt, es in eine unverständliche Form zu bringen. Es wäre eine ungeheuerliche Theorie, dass Gott, wenn Er eine Offenbarung gibt, es unmöglich macht, dass sie von denen verstanden wird, für die sie bestimmt ist. Was ist es, das die Schrift so schwierig macht? Es ist nicht ihre Sprache. Wenn jemand fragen würde, welchen Teil des Neuen Testaments ich für den tiefgründigsten von allen halte, würde ich die Johannesbriefe nennen; und wenn es irgendeinen Teil gibt, der mehr als andere in der Sprache der größten Einfachheit verfasst ist, dann sind es eben diese Briefe. Die Worte sind nicht die der Schriftgelehrten dieser Welt. Auch sind die Gedanken nicht rätselhaft oder voll von fremden, geheimnisvollen Anspielungen. Die Schwierigkeit der Schrift liegt darin, dass sie die Offenbarung Christi ist, für die, deren Herzen durch die Gnade geöffnet sind, um Ihn zu empfangen und zu schätzen. Nun war Johannes einer, dem dies in hervorragender Weise zugestanden wurde. Von allen Jüngern war er der, dem die innigste Gemeinschaft mit Christus zuteilwurde. So war es sicherlich, als Christus auf der Erde war; und er wird vom Heiligen Geist gebraucht, um uns die tiefsten Gedanken der Liebe Christi und persönlicher Herrlichkeit zu vermitteln. Die eigentliche Schwierigkeit der Schrift besteht also darin, dass ihre Gedanken so unendlich weit über unserem natürlichen Verstand stehen. Wir müssen uns selbst aufgeben, um die Bibel zu verstehen. Wir müssen ein Herz und ein Auge für Christus haben, oder die Schrift wird zu einer unverständlichen Sache für uns; während, wenn das Auge einfältig ist, der ganze Körper voller Licht ist. Daher kann man einen gelehrten Menschen finden, der völlig im Unrecht ist, obwohl er ein Christ sein mag, und der vor den Johannesbriefen und der Offenbarung zurückschreckt, weil sie für ihn zu tief sind, um in sie einzudringen; während man andererseits einen einfachen Menschen finden kann, der, wenn er diese Schriften auch nicht ganz verstehen oder jeden Teil davon richtig erklären kann, er sie doch auf jeden Fall genießen kann; sie vermitteln seinem Inneren verständliche Gedanken und Trost und Führung und auch Gewinn. Sogar wenn es um kommende Ereignisse oder um Babylon und das Tier geht, findet er dort große Grundsätze Gottes, die, auch wenn sie in dem vermeintlich unverständlichsten aller Bücher der Schrift zu finden sind, doch eine praktische Bedeutung für ihn haben. Der Grund dafür ist, dass Christus vor ihm steht, und Christus ist die Weisheit Gottes in jeder Hinsicht. Es ist natürlich nicht, weil er unwissend ist, dass er es verstehen kann, sondern trotz seiner Unwissenheit. Ein Mensch ist nicht fähig, in die Gedanken Gottes einzudringen, weil er gelehrt ist. Ob unwissend oder gelehrt, es gibt nur einen Weg – wir brauchen ein Auge, welches sieht, was Christus betrifft. Und wo das fest vor jemandem steht, glaube ich, dass Christus das Licht der geistigen Einsicht wird, wie Er das Licht der Erlösung ist. Es ist der Geist Gottes, der die Kraft ist, das zu begreifen; aber Er gibt dieses Licht niemals außer durch Christus. Sonst hat der Mensch etwas vor sich, das nicht Christus ist, und kann deshalb die Schrift, die Christus offenbart, nicht verstehen. Er versucht, die Schrift zu zwingen, sich auf seine eigenen Dinge zu beziehen, was auch immer sie sein mögen, und so wird die Schrift pervertiert. Das ist der eigentliche Schlüssel zu allen Irrtümern über die Heilige Schrift. Der Mensch macht sich seine eigenen Gedanken über das Wort Gottes und baut ein System auf, das keine göttliche Grundlage hat.
Um also auf die Inschrift an der Wand zurückzukommen: Die Worte waren klar genug. Alles hätte verständlich sein müssen und wäre es auch gewesen, wenn das Innere der Chaldäer in Gemeinschaft mit dem Herrn gestanden hätte. Ich meine nicht, dass es nicht der Kraft des Geistes Gottes bedurfte, um Daniel zu befähigen, es zu verstehen; aber es ist eine unermessliche Sache für das Verständnis des Wortes, dass wir Gemeinschaft mit dem Gott haben, der uns seine Gedanken kundtut. „Darum“, sagte Paulus zu den Ältesten, „empfehle ich euch Gott und dem Wort seiner Gnade“ (Apg 20,32).