Behandelter Abschnitt Jer 1
Einleitung
Der unterschiedliche Charakter und Stil Jeremias im Vergleich zu Jesaja wird jedem aufmerksamen Leser auffallen. Hier haben wir nicht die großartigen Entfaltungen der Pläne Gottes für diese Erde, deren Mittelpunkt Israel war, sondern wir haben die Prophezeiung in ihrer moralischen Einwirkung auf die der Seelen des Volkes Gottes. Zweifellos werden Gerichte über die Heiden ausgesprochen, doch die Absicht war, auf das Gewissen der Juden einzuwirken, und um dies zu tun, sehen wir, wie sehr der Geist Gottes Jeremias eigene Erfahrung benutzt. Von allen Propheten haben wir niemanden, der so sehr seine eigenen Empfindungen, seine eigenen Gedanken, seine eigenen Wege, seine eigene Gesinnung analysierte.
Daher ist Jeremia der Einzige, der uns das Buch der Klagelieder schenkt. Diese Klagelieder sind die Ausbrüche seines Inneren vor Gott, die dem Charakter der Psalmen sehr nahekommen, wie das auch für seine Prophezeiung mehr als jede andere der Propheten, ob größer oder kleiner, zutrifft.
Auf diese Weise hat Jeremia also einen ganz eigenen Charakter, und zwar einen nicht unbedeutenden. Praktisch gesehen, denke ich, ist sein Stil sehr lehrreich für die Seele des Gläubigen. Wir werden feststellen, dass wir die inneren Erfahrungen des Propheten aufgezeichnet finden, soweit dies nach dem Maß der Offenbarung, die Gott von sich selbst in alttestamentlichen Zeiten gemacht hatte, möglich war.
Schon im ersten Vers finden wir diese Merkmale. Jeremia war der Sohn Hilkijas, der Priester in Anatot im Land Benjamin. Das Wort des Herrn kam zu ihm in den Tagen Josias, des Königs von Juda, im dreizehnten Jahr seiner Herrschaft (627 v. Chr.). Das heißt, er wurde zu dem Werk berufen, als Gott nicht nur in dem guten König Josia, sondern auch in einigen Teilen des jüdischen Volkes mächtig wirkte.
Nun ist es klar, dass diese teilweise Umkehr des Volkes dem Charakter des Jeremia anvertrauten Werkes nicht angemessen war. Seines war wirklich ein inneres Werk im Gewissen. Was aber den Ausdruck seines Kummers zum Vorschein brachte, war, dass die Wirkung Reformation Josias nur äußerlicher Art war.
Daher gab dieser Zustand des Volkes Anlass zu dem doppelten Charakter der Prophezeiung Jeremias. Sie hatten einen äußeren Schein und ein Bekenntnis, einen großen Schein des Guten, ein wenig wirkliches Gutes unter der Oberfläche mit viel äußerem Schein. Ihr Zustand war nicht genau so, wie er an dem Feigenbaum gezeigt wurde, der unter den Fluch des Herrn kam – reichlich Blätter und keine Früchte. Zu Jeremias Zeiten war der nationale Zustand sehr ähnlich, wie er selbst sagte (Jer 24). Es gab einige gute Feigen, und die guten Feigen waren sehr gut; aber es gab sehr viele schlechte Feigen, und die schlechten Feigen waren sehr böse. Diesen moralischen Charakter werden wir also in diesem Buch finden.
William Kelly
Kapitel 1
Das Wort des Herrn, so wird uns in Kapitel 1 berichtet, kam zu Jeremia und sagte: „Bevor ich dich im Mutterleib bildete, habe ich dich erkannt, und bevor du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt.“ Vorsichtig wird hinzugefügt: „Zum Propheten an die Nationen habe dich bestellt“ (V. 4). Warum zu den Nationen? Dieser besondere Auftrag stellt uns eine Besonderheit des Dienstes Jeremias vor Augen, die wir in diesem Buch reichlich bestätigt finden werden. Obwohl er selbst ein Jude und sogar ein Priester war und obwohl die Juden in Jerusalem einen wichtigen Raum in seiner Prophetie einnehmen, wird auch den Nationen große Bedeutung beigemessen.
Nein, mehr noch, wir werden feststellen, dass, wenn das kommende Gericht über die Nationen verkündet wird, Jerusalem als allererste der Nationen, die gerichtet werden, unter sie gesetzt wird. Wenn die Juden sich moralisch nicht über die Nationen erhoben haben, von denen Er sie getrennt hatte, warum sollte Gott sie dann weiterhin als sein eigenes Volk mit einem besonderen Anspruch behandeln? Wenn sie alles, was sie auszeichnete, aufgaben, indem sie dem heidnischen Götzendienst verfielen, würde Gott sie nicht in solchen falschen Anmaßungen unterstützen.
Wenn also der Kelch der Rache in der Hand des Herrn ist (Jer 25), um ihn in seinem Gericht an die Nationen zu verteilen, kommen die Juden als die ersten der Nationen, nicht zum Segen, sondern zur Züchtigung und Bestrafung. Dementsprechend wurde Jeremia zum Propheten für die Nationen bestimmt, denn das besondere Merkmal seiner Prophezeiung ist, dass Jerusalem an erster Stelle im Gericht steht, wenn Gott sich der Welt annimmt, um sie für ihre Sünden zu bestrafen. Diese Priorität wird sehr eindrucksvoll in Kapitel 25 gezeigt, aber derselbe Faden der Wahrheit zieht sich durch das ganze Buch vom Anfang bis zum Ende.
Dieser ungewöhnliche Auftrag bringt Jeremias ängstlichen Geist zum Vorschein: „Und ich sprach: Ach, Herr, Herr, siehe, ich kann nicht reden; denn ich bin jung“ (V. 6). Die Antwort des Herrn lautet: „Sage nicht: Ich bin jung“ (V. 7). Das war gar nicht ausschlaggebend, sondern wer ihn sandte. Wenn eine königliche Autorität einen Mann nach ihrer eigenen Weisheit auswählt, um ihr Diener, ihr Botschafter zu sein, ist es für andere nicht wichtig, wer der Botschafter ist, sondern was die Macht ist, die ihn sendet; und diejenigen, die ihn verachten, verachten nicht diesen Mann, sondern die Autorität, die ihn ernannt hat. Jeremia sollte wissen, dass der Herr ihn zu diesem Amt berufen hat. „Da sprach der HERR zu mir: Sage nicht: Ich bin jung; denn zu allen, wohin ich dich senden werde, sollst du gehen, und alles, was ich dir gebieten werde, sollst du reden. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin mit dir, um dich zu erretten, spricht der HERR. Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an, und der HERR sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich bestelle dich an diesem Tag über die Nationen und über die Königreiche, um auszurotten und niederzureißen und zu zerstören und abzubrechen, um zu bauen und um zu pflanzen“ (V. 7‒10).
Die Bedeutung dieses Auftrags ist, dass Jeremia dazu auserwählt war, der Verkünder des Unheils und Gerichts zu sein, das über alle Nationen kommen würde. Da Gott also jede Drohung, die Jeremia aussprach, mit Sicherheit wahr machen würde, spricht er von dem Propheten, als würde er abreißen und pflanzen und bauen und zerstören, entsprechend den Prophezeiungen, die Gott ihm zu sagen gab.
Nun war dies eine äußerst schmerzhafte Aufgabe für Jeremia. Ich denke, dass von allen Propheten, ob groß oder klein, die prophezeiten, es nie jemanden gab, für den es eine größere Prüfung war, ein Gericht zu verkünden als für Jeremia. Er war ein Mann mit einer ungewöhnlich zarten Gesinnung. Er scheute die Arbeit, zu der er berufen war, gerade deshalb, weil er zu ihr berufen war.
Jeremia sollte sich in gewissem Sinn verhärten, nicht als ob er nicht empfand, sondern durch die Tiefe des Empfindens hindurchgehen, was die Bedeutung seiner Prophezeiungen war. Er sollte das einfache Gefäß und der Kanal dessen sein, was Gott in seinen Mund legte. Daher war in diesem Propheten ein Herz voller Qualen über all das, was er zu verkünden hatte, aber ein Mund, der kühn sprach, was immer Gott ihm eingab.
Das war der Charakter Jeremias, und das erste Kapitel zeigt das. „Und das Wort des Herrn erging an mich, indem er sprach: Was siehst du, Jeremia? Und ich sprach: Ich sehe einen Mandelstab. Und der Herr sprach zu mir: Du hast recht gesehen; denn ich werde über mein Wort wachen, es auszuführen. Und das Wort des Herrn erging an mich zum zweiten Mal, indem er sprach: Was siehst du? Und ich sprach: Ich sehe einen siedenden Topf, dessen Vorderteil nach Süden gerichtet ist“ (V. 11‒13).
So finden wir zwei Visionen zusammen. Die erste war eine Anspielung auf die frühe Blüte des Mandelbaums. Die zweite Vision ist eine Anspielung auf den großen Feind Israels aus dem Norden, der nicht nur Juda, sondern auch die anderen Völker niederwerfen sollte.
Jeremia beschäftigt sich von Anfang bis Ende sehr viel mit Babylon. Babylon war diese nördliche Macht, die der Geist Gottes die ganze Zeit im Sinn hat. Es geht nicht um den Assyrer. Der Assyrer befand sich zwar auch im Norden, aber die assyrische Macht wurde jetzt zerstört, allerdings wird Assyrien am Ende wieder aufstehen. Aber in der Zwischenzeit war Babylon die große Macht, die die Erde überschattete, und Jeremia lenkt daher die Aufmerksamkeit auf dieses neue Königreich. „Und der Herr sprach zu mir: Von Norden her wird das Unglück losbrechen über alle Bewohner des Landes“ (1,14). Deshalb sollte er seine Lenden umgürten und sich aufmachen und zu ihnen sprechen: „Denn siehe, ich rufe alle Geschlechter der Königreiche im Norden, spricht der HERR, dass sie kommen und ein jeder seinen Thron an den Eingang der Tore Jerusalems stellen und gegen alle seine Mauern ringsum und gegen alle Städte Judas. Und ich werde meine Gerichte über sie aussprechen wegen all ihrer Bosheit, dass sie mich verlassen und anderen Göttern geräuchert und sich vor den Werken ihrer Hände niedergebeugt haben. Du aber gürte deine Lenden und mach dich auf und rede zu ihnen alles, was ich dir gebieten werde. Verzage nicht vor ihnen, damit ich dich nicht vor ihnen verzagt mache. Und ich, siehe, ich mache dich heute zu einer festen Stadt und zu einer eisernen Säule und zu einer ehernen Mauer gegen das ganze Land, sowohl gegen die Könige von Juda als auch gegen dessen Fürsten, dessen Priester und gegen das Volk des Landes“ (V. 15‒18).