Behandelter Abschnitt Jer 6,9-15
Verse 9–15 | Der Fall der Stadt
9 So spricht der HERR der Heerscharen: Wie am Weinstock wird man Nachlese halten am Überrest Israels. Lege wieder deine Hand an, wie der Winzer an die Ranken. – 10 Zu wem soll ich reden und wem Zeugnis ablegen, dass sie hören? Siehe, ihr Ohr ist unbeschnitten, und sie können nicht aufmerksam zuhören; siehe, das Wort des HERRN ist ihnen zum Hohn geworden, sie haben kein Gefallen daran. 11 Und ich bin voll vom Grimm des HERRN, bin müde, ihn zurückzuhalten. – Ergieße ihn über die Kinder auf der Gasse und über den Kreis der Jünglinge insgesamt; denn sowohl Mann als Frau werden getroffen werden, der Alte wie der Hochbetagte; 12 und ihre Häuser werden anderen zugewandt werden, Felder und Frauen insgesamt. Denn ich strecke meine Hand aus gegen die Bewohner des Landes, spricht der HERR. 13 Denn von ihrem Kleinsten bis zu ihrem Größten sind sie allesamt der Gewinnsucht ergeben; und vom Propheten bis zum Priester üben sie allesamt Falschheit, 14 und sie heilen die Wunde der Tochter meines Volkes leichthin und sprechen: „Frieden, Frieden!“, und da ist doch kein Frieden. 15 Sie werden beschämt werden, weil sie Gräuel verübt haben. Ja, sie schämen sich keineswegs, ja, Beschämung kennen sie nicht. Darum werden sie fallen unter den Fallenden; zur Zeit, da ich sie heimsuchen werde, werden sie straucheln, spricht der HERR.
Der HERR vergleicht „den Überrest Israels“, hier sind Juda und Benjamin gemeint, mit einem Weinberg (Vers 9; Jes 5,1-7). Er sagt als „der HERR der Heerscharen“, dass der Feind nach dem Gericht noch einmal durch das Land gehen wird, so wie ein Winzer noch einmal durch den Weinberg geht, um zu sehen, ob irgendwo noch Trauben hängengeblieben sind. Bildlich wird dargestellt, wie die Hand des Winzers an den Reben eines Weinstocks entlanggeht. Er sucht Rebe für Rebe ab, um zu sehen, ob es irgendwo noch eine vergessene Traube gibt. So wird der Feind Jerusalem in einer Nachlese durchkämmen, die dazu führen wird, dass die, die dem Gericht entkommen sind, doch noch weggeführt oder getötet werden.
Jeremia fragt sich, zu wem er reden wird (Vers 10). Gibt es noch jemanden, der auf das Wort des HERRN hört, das er spricht? Seine Worte scheinen keinerlei Auswirkung zu haben. Der Grund ist, dass das Ohr des Volkes unbeschnitten ist, ebenso wie ihr Herz (Jer 4,4; Apg 7,51). Sie wollen nicht zuhören, weil sie sich nicht selbst richten wollen. Ihre Ohren sind durch den Unrat der Sünde verstopft. Sie können das Wort nicht hören und sie wollen das Wort nicht hören.
Das Wort des HERRN wird von ihnen verschmäht, verspottet und verachtet. Eine solche Reaktion schmerzt sowohl den HERRN als auch den Propheten. Das Volk findet keine Freude am Wort des HERRN, es hat nichts Anziehendes für sie, für sie ist es geschmacklos. Die Ursache dafür ist, dass sie nie die Kraft des Wortes in ihrem Herzen und Gewissen gespürt haben. Wie ganz anders ist das bei Jeremia und bei denen, die wiedergeboren sind (Jer 15,16; Ps 1,2; 1Pet 2,2.3).
Die völlig gleichgültige und sogar verleumderische Haltung des Volkes gegenüber dem Wort des HERRN bewirkt in Jeremia große Abscheu (Vers 11). Er ist erfüllt von dem Grimm, der auch bei dem HERRN vorhanden ist. Jeremia hat diesen Grimm zurückhalten wollen, aber es gelingt ihm nicht mehr. Er predigt das Verderben nicht, weil er es gerne tut; aber wenn sie dann so abtrünnig sind, muss das Gericht kommen.
Jeremia bekommt dann vom HERRN den Auftrag, seinen Grimm über die gesamte Bevölkerung auszugießen. Der Grimm muss ausgegossen werden über
die „Kinder“, die auf der Straße spielen,
„die Jünglinge insgesamt“, die im Kreis stehen und sich gegenseitig unterhalten,
„Mann“ und „Frau“ und
„den Alten wie den Hochbetagten“.
Alle Bevölkerungsschichten, in jeder Altersgruppe und in allen Zusammensetzungen, fallen unter das Gericht der Wegführung in die Gefangenschaft, weil das Verderben bei allen vorhanden ist.
Das Gericht kommt auch über ihre Häuser und ihre Felder und ihre Frauen (Vers 12). Felder und Frauen werden in einem Atemzug genannt, als ob auch Frauen Besitztum wären. Alles geht in die Hände anderer über, nämlich in die des babylonischen Feindes. Sie werden die neuen Besitzer sein. Das wird geschehen, weil der HERR seine Hand im Grimm gegen sein Volk ausstreckt. Seine Hand auszustrecken bedeutet, dass Er tatsächlich eingreift und seine Macht offenbart. Davor hat Mose gewarnt (5Mo 28,30).
Der Grimm Gottes wird durch das Verhalten des ganzen Volkes erregt. Vom Geringsten bis zum Größten unter ihnen sind sie nur auf Gewinn aus (Vers 13). Die Gier nach mehr beherrscht sie. Der Prophet und der Priester machen dabei genauso heftig mit. Anstatt dem Volk zu sagen, was der HERR gerne will, betrügt jeder von ihnen, um möglichst viel Geld zu ergattern.
Sie betrügen das Volk, indem sie nicht die wahre Ursache des Bruchs mit dem HERRN – die Sünde – aufzeigen. Stattdessen ermutigen sie die Gottlosen, weiter zu sündigen, indem sie ihnen Frieden verkünden (Vers 14; vgl. Mich 3,5; 1Thes 5,3). Dies ist wirklich eine recht oberflächliche Heilung des Bruchs. Es ist so etwas wie das Abdecken eines Krebstumors mit einem Pflaster. Deshalb gibt es keine echte Heilung. Es ist der falsche Optimismus der Sünde. Es gibt überhaupt keinen Frieden. Im Gegenteil, es gibt die Drohung durch das Kommen eines grausamen Feindes.
Macht es auch keinen Eindruck auf sie, wenn sie mit ihren Taten konfrontiert werden (Vers 15)? Nein. Es gibt keinerlei Schamgefühl in ihnen für all das Böse, das sie getan haben. Sie begehen die abscheulichste Gräueltat ohne die geringste Schamröte auf ihrem Gesicht (Jer 8,12). Völlige Gefühllosigkeit gegenüber ihren Sünden kennzeichnet sie. Infolgedessen sind sie nicht offen für die Botschaft der Wahrheit. Deshalb kommt zu Gottes Zeit sein Gericht über sie.