Behandelter Abschnitt Ps 107,23-32
Verse 23–32 | Der Sturm verwandelt in Stille
23 Die sich auf Schiffen aufs Meer hinabbegeben, auf großen Wassern Handel treiben, 24 diese sehen die Taten des HERRN und seine Wunderwerke in der Tiefe: 25 Er spricht und bestellt einen Sturmwind, der hoch erhebt seine Wellen. 26 Sie fahren hinauf zum Himmel, sinken hinab in die Tiefen; es zerschmilzt in der Not ihre Seele. 27 Sie taumeln und schwanken wie ein Betrunkener, und zunichte wird all ihre Weisheit. 28 Dann schreien sie zu dem HERRN in ihrer Bedrängnis, und er führt sie heraus aus ihren Drangsalen. 29 Er verwandelt den Sturm in Stille, und es legen sich die Wellen. 30 Und sie freuen sich, dass sie sich beruhigen, und er führt sie in den ersehnten Hafen. 31 Mögen sie den HERRN preisen wegen seiner Güte und wegen seiner Wundertaten an den Menschenkindern 32 und ihn erheben in der Versammlung des Volkes, und in der Sitzung der Ältesten ihn loben!
Nach dem Umherirren in der Wüste der Völker in der ersten Strophe (Verse 4–9), der Gefangenschaft in der zweiten Strophe (Verse 10–16) und dem Erleiden der tödlichen Krankheit in der dritten Strophe (Verse 17–22), sehen wir nun das Volk sich „aufs Meer hinabbegeben“ (Vers 23). Das Meer ist ein Bild für die Völker. In der Vergangenheit trieb Israel Handel mit den
Völkern (vgl. 1Mo 49,13). Sie waren „auf großen Wassern“: Sie haben mit großen Völkern Handel getrieben. Salomo war ein Mann des Handels. Er baute eine Flotte. Das waren keine Ausflugsschiffe, sondern Handelsschiffe (1Kön 9,26-28; 10,22).
Es ist bemerkenswert, dass die Ausdrücke „Taten“ und „Wunderwerke“ (Vers 24) auch in den Versen 21 und 22 erwähnt werden, wo sie sich auf Erlösungswerke und Heilungswunder in der Vergangenheit beziehen. Bei den Taten und Wunderwerken des HERRN können wir hier an den Sturmwind und die Befreiung aus der Tiefe denken (Verse 25.29; vgl. Mt 8,23-27).
Dazu kommt, dass das Meer bedrohlich ist, voller Gefahren (Vers 25). Stürme auf dem Meer sind viel heftiger als an Land. Gott lässt den Sturm aufkommen. Dazu braucht Er nur zu sprechen. Das bedeutet, dass die Zerstreuung seines Volkes unter die Völker, weil sie den Messias abgelehnt haben, das Werk des HERRN ist.
Im Leben des Jona sehen wir „einen Sturmwind, der hoch erhebt seine Wellen“. Jona war ein Befehl Gottes ungehorsam. Er floh und zwar mit einem Schiff. Da schickte der HERR einen Sturm, der das Schiff zu zerbrechen drohte (Jona 1,1-4). Das Buch Jona wird in Israel am Versöhnungstag gelesen, weil man in Jona das Volk Israel erkennt, das Volk, das sich heute im Sturm des Völkermeeres befindet.
Wegen der Wellen fahren das Schiff und seine Besatzung „hinauf zum Himmel“ (Vers 26). Einen Augenblick später „sinken“ sie „hinab in die Tiefen“, und die Seele der Schiffsbesatzung „zerschmilzt in der Not“. Gegenüber der Gewalt des Meeres ist der Mensch völlig machtlos. Es ist aus und vorbei mit all seinem Gerede. Er ist mit einer Macht konfrontiert, die ihn vollständig kontrolliert und gegen die er nichts vorzubringen hat.
Das tosende Meer führte dazu, dass die Seeleute „taumeln und schwanken wie ein Betrunkener“ (Vers 27). Es beraubt den Menschen seiner ganzen Standfestigkeit und Orientierung. Das Meer ist ganz in der Hand Gottes (Hiob 38,10.11). Sein Aufruhr ist von Ihm verursacht und dient seinem Zweck (Hiob 26,12; Ps 148,8b). Dieser Zweck ist, dass „zunichte wird all ihre Weisheit“. All ihre Weisheit in Bezug auf die Schifffahrt ist angesichts der Umstände, in denen sie sich befinden, unzureichend. Sie haben keine Lösungen mehr; sie wissen nicht, was sie tun sollen. Das einzige, was sie erwartet, ist ein Seemannsgrab.
Das Bewusstsein, sich in einer ausweglosen Situation zu befinden, ist der Anfang des Weges zurück. So kamen Josephs Brüder im Gefängnis zur Umkehr, und der verlorene Sohn kam zur Besinnung, als er bei den Schweinen saß. So wird der gläubige Überrest durch die große Drangsal zum Bekenntnis und zur Läuterung gebracht werden, um wieder in eine Beziehung zum HERRN zu kommen.
Was wir hier beschrieben finden – und bei Jona im Sturm auf dem Meer und bei den Jüngern des Herrn im Sturm auf dem See veranschaulicht sehen – ist ein Bild für die Situation, in der sich der treue Überrest Israels befindet, nachdem er unter die Nationen zerstreut wurde. Sie befinden sich in ständiger Bedrängnis. Diese Bedrängnis wird am größten sein, wenn die große Drangsal kommt. Dann wird all ihre Weisheit zunichtewerden. Sie werden in ihrer Bedrängnis zu dem HERRN schreien, und Er wird sie aus ihren Drangsalen herausführen (Vers 28; Verse 6.13.19; vgl. 2Mo 3,10).
Diejenigen, die keine Aussicht haben, müssen nicht ohne Aussicht des Glaubens sein. Das sehen wir auch hier. Die Seeleute schreien zu dem, der den Sturm geschickt hat, denn der, der den Sturm bestellt, ist auch in der Lage, „den Sturm in Stille“ zu Verwandeln (Vers 29). Und genau das tut Er auch. Der Wind legt sich, und „es legen sich die Wellen“. Der Herr Jesus hat einen Sturm gestillt und damit einen der vielen Beweise dafür geliefert, dass Er Gott ist (Mt 8,26; Mk 4,39; vgl. Jona 1,15). Einen deutlicheren Beweis kann man sich kaum vorstellen. Er kann auch den Sturm im Leben und im Herzen eines Menschen stillen.
Prophetisch erkennen wir die Stille nach dem Sturm, wenn der Herr Jesus den Antichristen und den König des Nordens, die einen Sturm der Verfolgung entfesselt haben, ausgeschaltet hat. So wie der Herr die Soldaten, die Ihn gefangen nehmen wollten, mit einem einzigen Wort zurückweichen und zu Boden fallen ließ (Joh 18,5.6), so wird der Herr in Zukunft seine Feinde, den Sturm, mit dem Schwert aus seinem Mund zum Schweigen bringen.
Die Stille nach dem Sturm ist ein Grund zur Freude (Vers 30). Es gibt Freude, wenn eine Situation der Bedrängnis ein Ende findet. Hier steht die Stille in direktem Zusammenhang mit der Ankunft „in den ersehnten Hafen“, was sich auf die Ruhe und den Frieden im verheißenen Land bezieht. Dorthin hat Gott sie geführt (5Mo 30,4.5). Wer lange auf dem Meer ist und viele Stürme erlebt, sehnt sich mehr und mehr nach dem Hafen. Gott ist mit seinem Volk und mit den Seinen auf dem Weg in sein himmlisches Land. Jeder Gläubige sehnt sich nach diesem Land. Wenn die Stürme im Leben zunehmen, wird auch die Sehnsucht größer.
Nach der Rettung aus großer Bedrängnis und dem Einzug in den Hafen folgt die Aufforderung, den HERRN zu preisen (Vers 31). Wie in den ersten drei Strophen ist auch hier die Aufforderung, den HERRN zu preisen, in der Antwort (Vers 30) auf ihr Gebet (Vers 28) und in der Aufforderung enthalten, den HERRN vor dem Volk und seinen Führern öffentlich groß zu machen (Vers 32).
Durch seine Güte sind sie bewahrt worden und haben Ruhe gefunden. Das gilt nicht nur für die Gefahren des Meeres, sondern auch für die Gefahren, in denen wir uns täglich befinden. Die Wunderwerke in der Tiefe in Vers 24 sind hier zu Wundertaten um Seiner selbst willen geworden. Dafür gebührt Ihm die ganze Ehre.
Was Er getan hat, gebührt alle Ehre, „in der Versammlung des Volkes“ (Vers 32). Es handelt sich nicht nur um eine persönliche Dankbarkeit, sondern um eine Dankbarkeit, die mit anderen Gläubigen geteilt wird (vgl. Ps 111,1). Die Versammlungen der Gläubigen dienen auch dazu, anderen die Erfahrungen mit dem Herrn mitzuteilen, sodass auch die Danksagung an Gott zunimmt (2Kor 1,10.11; Apg 15,3).
Ein besonderer Aufruf ergeht an „die Ältesten“, Ihn zu loben. Sie haben mehr als andere die Erfahrung gemacht, dass der Herr sie aus Drangsalen befreit hat. Die Tatsache, dass der Psalmist von „der Sitzung der Ältesten“ spricht, deutet darauf hin, dass es sich um ältere Gläubige handelt, die in der Mitte des Volkes Gottes eine Verantwortung tragen. Diese Verantwortung besteht auch darin, das Volk in der Anbetung Gottes zu leiten.