Behandelter Abschnitt Ruth 4,1-3
Der unfähige Löser (Ruth 4,1-12)
Boas geht schnell und voller Energie zum „Tor“ hinauf. Dies war der Ort der Regierung, an dem alle Angelegenheiten geregelt und alle Eigentumsübertragungen vorgenommen wurden. Das kommt den heutigen Ämtern und Gerichten gleich, wo die Rechtsgeschäfte der Bevölkerung abgewickelt werden.
In der Angelegenheit, mit der Boas sich beschäftigte, sollte nichts verborgen „in einer Ecke“ geschehen: alles sollte die volle Zustimmung der Betroffenen haben und im Licht des Tages von denen bezeugt werden, die gerichtlich befugt waren, ihre Zustimmung zu geben.
Die erste Person, die auftaucht, ist ein Blutsverwandter. Sein Anspruch muss zuerst erfüllt werden oder dessen Recht auf Lösung zuerst beiseite gelegt werden, bevor Boas als Erlöser eingreifen kann. Es ist bezeichnend, dass der Name dieses Verwandten nicht genannt wird. Er ist der nächste Verwandte von Elimelech und der natürliche Erlöser seines Erbes, aber wir wissen sonst nicht, wer er ist. Und das ist sehr bemerkenswert, insbesondere wenn wir die geistliche Bedeutung betrachten werden.
Wer ist diese namenlose Person, die den ersten Anspruch auf Israel hat und das Recht, das Erbe einzulösen? Wer oder was ist „am nächsten verwandt“ mit Israel nach dem Fleisch? Wir haben im Galaterbrief einen Hinweis auf eine ehelichen Beziehung, die aber dem entgegensteht, was Boas und Ruth darstellen. Die beiden Söhne Abrahams, Ismael und Isaak, waren Kinder von Hagar, der Leibeigenen, bzw. von Sara. Es wird uns gesagt, dass das eine prophetische Bedeutung hat: „Was einen bildlichen Sinn hat; denn diese sind zwei Bündnisse: eins vom Berg Sinai, das zur Knechtschaft gebiert, welches Hagar ist. Denn Hagar ist der Berg Sinai in Arabien, entspricht aber dem jetzigen Jerusalem, denn sie ist mit ihren Kindern in Knechtschaft“ ( Gal 4,24.25).
Daraus scheint klar zu werden, dass, mit leicht veränderten Bedingungen, der nächste Verwandte dieser „gesetzliche Bund“ ist. So wie Hagar vor Sara ein Kind zur Welt brachte – „zuerst das Natürliche, danach das Geistliche“ –, so war das Gesetz die erste Grundlage, auf der Israel versuchte, Gott Frucht zu bringen.
Das zeigt sich deutlich in der Geschichte dieses Volkers. Sie sind nie national und bewusst in Gottes Gedanken der souveränen Gnade eingetreten. Sie erkannten nicht, dass Er sie aufgenommen hatte, um die Verheißung zu erfüllen, die Abraham gegeben wurde – die Verheißung, die in reinster Gnade gegeben wurde. Einen schwachen Eindruck mögen sie davon gehabt haben, aber als sie durch das Rote Meer gezogen waren und nichts als Gnade und Barmherzigkeit durch die Hände Gottes erfahren hatten, waren sie am Sinai bereit, einen Bund des Gesetzes zu schließen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie dieser die Barmherzigkeit und Gnade Gottes beiseite schob.
Allerdings haben sie nie die Bitterkeit eines rein gesetzlichen Bundes gekostet, denn Mose zerbrach die ersten Steintafeln, bevor er ins Lager kam, nach der Gesetzgebung und der Abgötterei des goldenen Kalbes. Es war in der Tat eine Gnade, dass er das tat. Das Urteil über dieses schuldige Volk wäre härter ausgefallen, wenn Gott mit ihnen auf dieser Grundlage verfahren wäre. Das bezeugt der Herr Mose gegenüber: „Und der Herr ging vor seinem Angesicht vorüber und rief: Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und groß an Güte und Wahrheit, der Güte bewahrt auf Tausende hin, der Ungerechtigkeit, Übertretung und Sünde vergibt – aber keineswegs hält er für schuldlos den Schuldigen –, der die Ungerechtigkeit der Väter heimsucht an den Kindern und Kindeskindern, an der dritten und an der vierten Generation“ (2Mo 34,6.7).
Hier mischt sich Barmherzigkeit mit einer abschließenden Andeutung des Gerichts über die Schuldigen, die die Grundlage für den weiteren Umgang mit dem Volk bildete.
Auf der Grundlage dieses Bundes zogen sie durch die Wüste, betraten das Land und ließen sich dort auf der Basis des Gehorsams gegenüber dem Herrn nieder. Es wurden Vorkehrungen für das Versagen getroffen, durch Opfer. Und doch versagten alle Vorkehrungen gerade dort, wo es am nötigsten war. Es gab kein Opfer für anmaßende Sünden, nur für die der Unwissenheit. Deshalb konnte es keinen Frieden für die Schuldigsten geben, und König David musste sich in seinem Gebet mit gebrochenem Herzen (Ps 51,19) von der Bestimmung des Gesetzes, ein Opfer darzubringen, einer Barmherzigkeit zuwenden, an der er trotz des Gesetzes festhielt.
Unter diesem Bund spaltete sich das Volk, vermischte sich mit den Heiden und wurde schließlich in die Gefangenschaft geführt. Mit diesem Gedanken beschäftigt sich ein großer Teil von Hes 20, wo der Herr auf Israels Missachtung seines Bundes eingeht, auf ihr Versagen, seine Sabbate zu heiligen, die das Zeichen des Bundes waren, oder in Seinen Satzungen zu wandeln. Als Daniel sein Sündenbekenntnis für sich und das Volk ablegte (Dan 9), geschah dies im Licht dieses ersten Bundes. So war es auch bei Nehemia nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft (Neh 9,29). Im letzten Kapitel des Alten Testaments (Mal 3,23) wurde das Volk ermahnt, des Gesetzes Seines Knechtes Mose zu gedenken, das Er ihm am Horeb für ganz Israel geboten habe.
So gab es während ihrer gesamten Geschichte eine eindeutige Bundesbeziehung, die von Gott und dem Volk anerkannt wurde. Es gab Aufforderungen zur Vergebung und Wiederherstellung, die oft auf die rührendste Weise gemacht wurde: „Kommt denn und lasst uns miteinander rechten, spricht der Herr. Wenn eure Sünden wie Scharlach sind, wie Schnee sollen sie weiß werden; wenn sie rot sind wie Karmesin, wie Wolle sollen sie werden. Wenn ihr willig seid und hört, so sollt ihr das Gute des Landes essen“ (Jes 1,18-19). „Der Gottlose verlasse seinen Weg und der Mann des Frevels seine Gedanken; und er kehre um zu dem Herrn, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserem Gott, denn er ist reich an Vergebung“ (Jes 55,7). „Wenn aber der Gottlose umkehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und alle meine Satzungen hält und Recht und Gerechtigkeit übt, so soll er gewiss leben, er soll nicht sterben. Aller seiner Übertretungen, die er begangen hat, soll ihm nicht gedacht werden; wegen seiner Gerechtigkeit, die er geübt hat, soll er leben“ (Hes 18,21-22).
Diese und viele andere Schriftstellen zeigen die enge Beziehung zwischen Israel und dem gesetzlichen Bund. Israel hat nie eine andere Beziehung zu Gott gehabt – außer der verborgenen Seite, dass die auserwählenden Gnade und Verheißung von Ihm aus wirksam war. Wenn sich also der Überrest in der Endzeit in Reue zu Ihm wendet, wird dieser gesetzliche Bund sozusagen das erste Recht haben, seinen Anspruch auf Verwandtschaft geltend zu machen.