Behandelter Abschnitt Hld 2,4-6
„Er hat mich in das Haus des Weins geführt, und Sein Banner über mir ist die Liebe“ (Hld 2,4).
Indem wir die verschiedenen Szenen der Freude betrachten, in welche die glückliche Braut durch den König eingeführt wird, müssen wir einen Augenblick bei der Quelle dieser vielen Segensströme verweilen. Es ist das Vorrecht des Gläubigen, aus der Quelle wie auch aus dem Strom zu trinken. Gott Selbst ist die Quelle aller unserer Segnungen. Die Freuden sind zahllos, die sich zu Seiner Rechten finden. Aber die tiefe Quelle des vollsten, reichsten Segens ist die glückselige Gewissheit, dass nichts, gar nichts nötig war, um das Herz Gottes uns zuzuwenden. Kostbare Wahrheit! Seine Liebe ist gleich dem Ring, der an die Hand des verlorenen Sohnes gelegt wurde; sie hat weder Anfang noch Ende. „Gott ist Liebe.“ Er verändert Sich nicht. Und darum sind uns die reichen Segnungen Seiner Liebe für immer gesichert, nicht durch das, was wir sind, sondern durch das, was Er ist. „Hierin ist die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere Sünden“ (1Joh 4,10).
Hier ist der vollkommene Ruheplatz des Glaubens: das Herz Gottes, die Urquelle alles wahren Glücks. Wie könnte ich jemals an der Liebe zweifeln, die den eingeborenen Sohn dahingab? Welch eine Antwort auf jede Frage: Er gab Seinen Sohn für mich, den Sünder, dahin. „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist“ (Röm 5,8). Was ist Unglaube? Nicht-Glauben an die Güte Gottes, der Seinen Sohn für uns in den Tod gab. Was ist Glaube? Glauben an die vollkommene Liebe Gottes und die Gabe Seines geliebten Sohnes. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tode in das Leben übergegangen“ (Joh 5,24).
Es bedurfte nicht des Werkes Christi, um das Herz Gottes dem Sünder zuzuwenden, sondern um das Herz des Sünders zu Gott zu kehren. Die ganze Schrift bezeugt diese herrliche Wahrheit. Die erste Gelegenheit, sie zu offenbaren, gab der Fall des Menschen im Garten Eden. Das schuldige Menschenpaar suchte einen Bergungsort vor dem Angesicht des Herrn hinter den Bäumen des Gartens; aber die Stimme Dessen, der kam, um zu suchen und zu erretten, was verloren ist, schlug in gnadenreichen Lauten an ihr Ohr: „Adam, wo bist du?“
Der Mensch war jetzt ein verlorener Sünder, und Gott suchte ihn. Die ersten Worte der erlösenden Liebe kennzeichnen das ganze Werk der Erlösung; und die Offenbarung der Liebe in der Verheißung, dass der Same der Frau der Schlange den Kopf zertreten solle, gewann ohne Zweifel das Vertrauen der beiden gefallenen Menschen und gab ihnen Mut, aus ihrem Versteck hervorzukommen und in die Gegenwart Gottes zu treten. Und so ist es seitdem immer gewesen. Wenn der Sünder durch die Gnade dahin geführt wird, im die vollkommene Liebe Gottes, wie sie sich in der Gabe und dem Werke Seines Sohnes offenbart hat, zu glauben, so tritt er mit Vertrauen in die Gegenwart Gottes, in den vollen Besitz von allem, was der Tod, die Auferstehung und Verherrlichung des Herrn Jesus für ihn erworben haben. Eine völlige Vergebung wird ihm zuteil, er wird angenommen in dem Geliebten, und die Ansprüche Gottes gegen ihn sind vollkommen befriedigt.
Aber obgleich die Liebe Gottes zu uns stets dieselbe war, gab es doch vieles in uns, das ihr volles und freies Ausströmen verhinderte. Gott ist gerecht; aber Er ist auch die Liebe. Er ist gerade so heilig wie barmherzig. Er muss stets in Übereinstimmung mit sich bleiben. Was aber die Liebe wünschte, hat Seine Weisheit ersonnen und Seine Macht zustandegebracht. Dass er die entgegenstehenden Hindernisse beseitigte, zeugt von der Größe Seiner Liebe. Jesus kam, um den Willen Gottes zu tun. Er vollbrachte das Werk. Er brachte das Opfer, das zur Abschaffung der Sünde notwendig war. Die Liebe, die göttliche, ewige Liebe, konnte nicht mehr tun, als sie getan hat. Zu welchem Zweck, mein lieber Leser, wurde jenes große, geheimnisvolle Opfer gebracht?
Der Apostel antwortet: „damit er uns zu Gott führe“. Nicht bloß in den Himmel, sondern zurück zu Gott Selbst, zu der Erkenntnis Gottes und zu der vollkommenen Versöhnung mit Ihm. „Denn es hat ja Christus einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, damit er uns zu Gott führe“ (1Pet 3,18). Und an einer anderen Stelle steht geschrieben: „Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm“ (2Kor 5,21). So finden wir also beides in Christo: Liebe und Gerechtigkeit. Beide sind unser Teil in Ihm. Auch ist Er als der auferstandene Jesus unser Leben, und zwar ein Leben, das jenseits des Grabes liegt und den Stempel des Sieges über Tod und Grab trägt. Wir besitzen schon jetzt in Christo alles, was uns für die unmittelbare Gegenwart Gottes passend macht, dort wo es eine Fülle von Freuden und Lieblichkeiten gibt auf immer.
In Gemeinschaft mit Jesu erfreut sich die Braut hier an allem, woran Er Selbst Seine Freude findet. Sie suchen gleichsam gemeinschaftlich die vielen Quellen göttlichen Glücks auf. Er leitet sie zu den Brunnen des „lebendigen Wassers“. Am Morgen des Tages sagt sie: „Der König hat mich in seine Gemächer geführt.“ Ein wenig später sieht man sie mit Ihm in dem Gefilde, wo Er Seine Herde weidet und am Mittag lagern lässt. Noch weiter am Tage sagt sie: „Unser Lager ist frisches Grün; die Balken unserer Behausung sind Zedern, unser Getäfel Zypressen.“ Nachher saß sie unter dem Apfelbaum, dessen Frucht ihrem Gaumen süß war. Und jetzt, am Schluss des Tages, wie wir wohl sagen dürfen, wird sie von ihrem Geliebten zu dem Weingelage geführt unter dem Banner Seiner Liebe. Die offen und frei ausströmende Liebe des Bräutigams ist das Geheimnis aller ihrer Freuden, die Quelle aller ihrer Genüsse.
Lange, lange Zeit hat das Banner der Liebe des Herrn für Israel gleichsam zusammengerollt gelegen. Der Glaube hat immer gewusst, dass nach Gottes Ratschlüssen es nur für eine Zeit beiseitegelegt ist, sicher geborgen in dem Worte der Verheißung, wenn auch nicht öffentlich entfaltet. Manche fromme Männer haben gesagt und geschrieben, dass das Banner der Gunst des Herrn nie wieder über Seinem alten Zion wehen werde. Sie haben die Wahrheit Gottes bezüglich des Wiederaufbauens der Stadt und des Tempels und der Wiederherstellung Israels übersehen; andere haben sie vergeistlicht. Was aber sagt die Schrift? Seitdem „der hochgeborene Mann“, von dem wir im Gleichnis hören, „in ein fernes Land gezogen ist, um ein Reich für sich zu empfangen und wiederzukommen“, hat kein Banner göttlicher Liebe über Jerusalem geweht.
Schon nahezu 1900 Jahre liegt der herrliche Tempel in Trümmern und steht statt seiner noch heute ein islamischer Felsendom auf dem Tempelplatz; noch immer ist das alte Zion, die Davidstadt, unter fremder Herrschaft und den rechtmäßigen Einwohnern verwehrt. Der Herr Selbst hat dies wiederholt vorhergesagt: „Jerusalem, Jerusalem, die da tötet die Propheten und steinigt, die zu ihr gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt. Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen; denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ (Mt 23,37-39).
Der Herr hat, wie wir wissen, Seine Rückkehr verzögert, und das in reicher Gnade gegen uns. Seine Liebe ist stets tätig gewesen, wenn auch nicht in Israel. Seine Langmut ist Errettung (Vergl. 2Pet 3,9). Aus Juden und Heiden hat Er durch die Kraft des Heiligen Geistes, mittels der Predigt des Evangeliums, ein Volk berufen für Seinen Namen (Apg 15,14-18). Seit dem Pfingsttag ist Er beschäftigt gewesen, „damit er die zwei, Frieden stiftend, in sich selbst zu einem neuen Menschen schüfe“ (Eph 2,15). Und nicht lange mehr, dann wird die Kirche, die Sein Leib ist, die Fülle Dessen, der alles in allem erfüllt, vollständig sein und aufgenommen werden, um Ihm in der Luft zu begegnen; „und so werden wir allezeit bei dem Herrn sein“ (Eph 1,22.23; 1Thes 4). Die Kirche wird zu ihrem Herrn aufgenommen werden, bevor Israel wieder als das Volk Jehovas anerkannt werden kann. Aber obgleich die Juden lange beiseitegesetzt und wegen ihrer Sünden gezüchtigt worden sind, versichert uns doch der Apostel, dass Gott Sein Volk nicht für immer verstoßen habe; denn „die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar“ (Röm 11).
Die Zeit, Zion gnädig zu sein, wird kommen; Gott hat sie in Seinem Ratschluss bestimmt. Der Herr wird in Seiner Herrlichkeit erscheinen, wenn Er Zion wieder aufbauen wird. Denn der Name des Herrn wird in Zion verkündigt werden, und in Jerusalem Sein Lob (Ps 102). Das Wort des Herrn besteht in Ewigkeit; die Gedanken und Meinungen der Menschen vergehen. „Denn siehe, Tage kommen, spricht der Herr, da ich die Gefangenschaft meines Volkes Israel und Juda wenden werde, spricht der Herr; und ich werde sie in das Land zurückbringen, das ich ihren Vätern gegeben habe, damit sie es besitzen“ (Jer 30,3). Und: „Ich werde mich über sie freuen, ihnen Gutes zu tun, und werde sie in diesem Lande pflanzen in Wahrheit mit meinem ganzen Herzen und mit meiner ganzen Seele“ (Jer 32,41). Dann wird sicherlich das Banner der unveränderlichen Liebe Gottes sich von neuem über ihnen entrollen.
O wie groß müssen die Segnungen des Volkes sein, das Gott segnen wird mit Seinem ganzen Herzen und mit Seiner ganzen Seele. Welch eine Gnade und Herablassung von Seiten Gottes, so zu sprechen. Welche Segnungen warten auf die jetzt noch von hasserfüllten und ihnen den Besitz des Landes streitig machenden Feinden umgebenen Juden! Wenige wollen es glauben; aber der Tag wird kommen und ist nahe, an dem der Messias, ihr König, für sie aufstehen wird gegen alle ihre Feinde – wenn Er eine Mauer von Feuer rings um Sein geliebtes Jerusalem und die Herrlichkeit in seiner Mitte sein wird. Dann wird das lange verhüllt gewesene Banner Seiner Liebe entrollt werden für immer; dann werden alle Geschlechter der Erde die treue Liebe des Herrn sehen, wenn sie hinaufziehen werden nach Jerusalem um den König, den Herrn der Heerscharen, anzubeten und das Laubhüttenfest zu feiern (Sach 14). Und dann, ja dann wird das kostbare Wort in Erfüllung gehen: „Er hat mich in das Haus des Weins geführt, und sein Banner über mir ist die Liebe.“ „Stärkt mich mit Traubenkuchen, erquickt mich mit Äpfeln, denn ich bin krank vor Liebe. Seine Linke ist unter meinem Haupt, und seine Rechte umfasst mich“ (Hld 2,4-6).
Und nun, mein Leser, wozu bringen wir diese wechselnden Szenen des tiefen und tiefsten Segens, diese mannigfaltigen Quellen immer neuer Genüsse vor deine Seele? Welche Stimme haben sie für dich? Mögen es auch Bilder und Schatten sein, so wurden sie doch in der Vorzeit zu deiner Unterweisung niedergeschrieben. Sie stellen in aller Einfachheit die Wirklichkeit der Gemeinschaft mit Christus dar, die gegenseitigen Zuneigungen des Bräutigams und der Braut, die Sympathien von Herzen, die eins sind. Hast du nicht zuweilen empfunden, dass die Stimmung deines Herzens und der Ton deiner Gedanken und Gefühle geistlicher wurde, wenn du dich für eine Weile ganz von der Welt zurückzogst und im Verborgenen eine innige Gemeinschaft mit dem Herrn pflegtest? Wurde nicht die Gegenwart des Herrn dann mehr verwirklicht? Wurde nicht der Geist freier und das Hindernde des Leibes weniger empfunden? Fühltest du dich nicht weiter als sonst von der Erde getrennt und in dem gleichen Maß dem Himmel näher gerückt, in dem bewussten Genuss der himmlischen Dinge und in der Gewissheit der Liebe des Herrn und Seiner Freude an uns?
Aber dieser Zustand eines höheren, geistlichen Genusses ist nur gelegentlich; auch erreicht man ihn im Allgemeinen nicht in einem Augenblick. Wir können uns nicht so mit einem Schlage von dem Genuss irdischer Dinge zu diesem Maß des Genusses der himmlischen Dinge erheben. Wir besitzen allerdings Christus, den Geist, das Wort und die Liebe des Vaters in immer gleicher Unveränderlichkeit; aber unsere Gemeinschaft mit diesen Dingen ist nicht immer die gleiche. Selbst die notwendige, nicht zu umgehende Beschäftigung des Geistes und des Leibes mit den zeitlichen Dingen wirkt für die Zeit lähmend auf unsere geistlichen Empfindungen. Ein verborgenes, stilles Reden mit dem Herrn, ein Sinnen über Sein Wort, ein wahres Selbstgericht, ein Niederhalten des Leibes, während das Herz sich erfreut an den Dingen Gottes und der Heilige Geist die Liebe Jesu unseren Herzen offenbart, – das sind die Dinge, die sich in den meisten Fällen mit jenem Zustand hohen geistlichen Genusses verbunden finden. Ja, wir möchten sagen, diese Übungen müssen die Gewohnheit des Gläubigen bilden, wenn er überhaupt himmlisch gesinnt sein will. Wir müssen im Glauben wandeln als solche, die der neuen Schöpfung angehören, nicht im Schauen, der alten Schöpfung gemäß (2Kor 5,16-18).
Wir dürfen jedoch zu gleicher Zeit nicht vergessen, dass unser hochgelobter Herr nicht an eine gewisse Klasse von Mitteln gebunden ist, um Seine Geliebten in Sein Haus des Weins zu führen, an die Stätte Seiner Gegenwart, wo eine Fülle von Freuden ist. Wir haben schon gesehen, dass eine Seele von Freude überströmte, weil sie plötzlich zu der Einsicht ihrer eigenen Ohnmacht und Fehlerhaftigkeit und der unveränderlichen Liebe des Herrn Jesus kam. Hier jedoch, in der Geschichte der Braut, begegnen wir keinen Fehlern und Verkehrtheiten; es zeigt sich vielmehr ein stetiges Fortschreiten in ihrer Erfahrung, gleich einer Seele, die aus dem stillen Kämmerlein zum Familien-Gottesdienst kommt und sich von da zum öffentlichen Gedächtnismahl zu Ehren seines Erlösers begibt. Ihre Gemeinschaft mit dem Bräutigam nimmt einen immer innigeren Charakter an; ihre Freude steigert sich, bis endlich die Offenbarung der Liebe und Güte ihres Herrn so überwältigend auf ihre Seele wirkt, dass der Leib darunter zusammenzubrechen droht. Trotzdem aber sucht sie gerade durch das gekräftigt zu werden, was sie völlig erschöpft hat: „Stärkt mich mit Traubenkuchen, erquickt mich mit Äpfeln, denn ich bin krank vor Liebe“ (Hld 2,5).
Die Beschäftigung mit Christus macht die Seele nie satt. Obwohl sie das Herz völlig befriedigt, steigert sie doch stets den Appetit. Und des Herrn Freude ist es, immer mehr und in Überfluss zu geben. „Tu deinen Mund weit auf, und ich will ihn füllen“ (Ps 81,11). Er allein kann die Wünsche des Herzens befriedigen. Und beachten wir, dass Er die Braut immer näher zu Sich zieht: „Seine Linke ist unter meinem Haupt, und seine Rechte umfasst mich“ (Hld 2,6). Anbetungswürdiger Herr! wo sollen wir die Höhen und Tiefen, die Längen und Breiten Deiner Liebe finden? Eine innigere, wirklichere, gesegnetere Gemeinschaft könnte nie genossen werden. Die Braut lehnt ihr Haupt an die Brust des Geliebten, die Stätte vollkommener, ewiger Ruhe. Höheres als das kann es nicht geben. O möchten wir mehr bekannt sein mit der überwältigenden und aufrechthaltenden Macht der Gegenwart unseres gnädigen Herrn. Er gebe uns ein weiteres Herz, eine Seele, die fähiger sei, diese kostbaren Dinge zu fassen und zu genießen!