Behandelter Abschnitt Jer 10,6-8
Gar keiner ist dir gleich, Herr; du bist groß, und groß ist dein Name in Macht. 7 Wer sollte dich nicht fürchten, König der Nationen? Denn dir gebührt es. Denn unter allen Weisen der Nationen und in allen ihren Königreichen ist gar keiner dir gleich, 8 sondern sie sind allesamt dumm und töricht; die Unterweisung der Nichtigkeiten ist Holz: Der Herr ist unendlich groß, und groß ist seine Name in Macht. Jeremia muss hier einfach in das Lob dieses großen Herrn ausbrechen, des Königs der Nationen (Ps 22,29; 47,9). Dadurch sieht man viel klarer, wie erbärmlich die Götzen sind.
König der Nationen: Alle Völker haben eine Beziehung zu dem Herrn. Das sieht man vom Anfang der Bibel an. Bereits in 1. Mose 10 finden wir eine Völkertafel und in Kapitel 11 die Verteilung der Völker ‒ nach der Sprachverwirrung ‒ über die ganze Erde. Der Herr gibt Völkern Gelingen, zu anderen Zeiten züchtigt er sie. Er lässt Völker entstehen und lässt sie auch zugrundegehen.
So ruft Jeremia 10 sie auf, das Wort zu hören, das der Herr zum Haus Israel spricht. „So spricht der Herr: Lernt nicht den Weg der Nationen, und erschreckt euch nicht vor den Zeichen des Himmels ... Gar keiner ist dir gleich, Herr; du bist groß, und groß ist dein Name in Macht. Wer sollte Dich nicht fürchten, König der Nationen?“ (V. 2.6.7).
Ihre Götzen sind nichts. Der Einzige, den man fürchten muss, ist Gott selbst. Und hier siehst du, dass der Prophet Jeremia nicht nur ein Prophet der Nationen war, sondern der Herr selbst „König der Nationen“ genannt wird ‒ das ist eine weitere Besonderheit des Buches Jeremia. Die Nationen nehmen in dieser Prophezeiung einen breiten Raum ein. Ich darf hier feststellen, dass dies die wahre Bedeutung in Offenbarung 15,3 ist: Dort heißt es ja „König der Nationen“.
Es gibt in der Heiligen Schrift keinen solchen Begriff wie „König der Heiligen“. Die Beziehung, die der Herr zu den Heiligen hat, ist nicht die des Königs, sondern Er ist das Haupt oder der Herr. Er ist niemals König, außer in der Beziehung zu Israel oder zu den Nationen.
Der Ausdruck in Offenbarung 15,3 ist ein Zitat aus Jeremia 10,7. Alle ältesten Handschriften haben das richtige Wort, nämlich „König der Nationen“. Ich erwähne dies nur am Rand. In Schottland ist es wichtiger den Unterschied zu beachten als in England, denn dort ist die Vorstellung, dass der Herr Jesus König der Kirche oder König der Heiligen sei, überaus weit verbreitet, und zwar seit die Versammlung der Würdenträger in Westminster sich diesem Irrtum verschrieben hat. Meiner Meinung nach handelt es sich um einen Fehler von höchst erniedrigendem Charakter. Er verfälscht die gegenwärtige Beziehung des Herrn Jesus Christus zu seinen Heiligen.
Es geht nicht darum, dass Er nicht Herr über sie ist ‒ dass Er nicht ihr Herr ist. Darum geht es nicht. Er ist der Herr, ganz sicher, so wie Sara zweifellos Recht hatte, als sie ihren Mann so bezeichnete. Es ist klar, dass der Geist Gottes so denkt und ihre Ehrfurcht erwähnt hat (1Pet 3,6), damit andere sich rücksichtsvoll verhalten, aber nichtsdestoweniger wäre es eine sehr arme und miserable Sache gewesen, wenn Abraham für sie nichts anderes als ihr Herr gewesen wäre. Nein: Abraham war ihr Ehemann, und Abraham hatte Verantwortung gegenüber Sara, statt dass Sara nur Pflichten gegenüber ihm hatte. Es ist eine sehr dürftige Art, Beziehungen so zu sehen, wenn wir nur die eine Seite sehen, und zwar die Seite, die zu uns passt. Nein: Eine Beziehung schließt immer moralische Pflichten in sich, und die Beziehung des Herrn Jesus zu den Heiligen ist nicht nur eine Beziehung der Autorität, was völlig richtig ist, sondern auch eine Beziehung der Liebe, der Fürsorge und der Wertschätzung, so wie ein Mensch sein eigenes Fleisch [liebt].
Nun ja, das ist bei einem König nicht der Fall. Ein König ist nicht verpflichtet, alle seine Untertanen wie sein eigenes Fleisch zu behandeln. Ein König ist nicht verpflichtet, jedem Untertan in seinem Königreich einen Erbanteil zu geben. Es wäre lächerlich, das zu erwarten. Ein König gibt seinen eigenen Töchtern und seinen eigenen Söhnen einen würdigen Anteil. Das ist völlig richtig und angemessen, denn es gibt eine familiäre Beziehung der engsten Art, und so gibt es auch eine Beziehung zwischen Christus und den Heiligen. Wenn ich die Kirche lediglich auf eine Nation, auf ein Volk reduziere, dann stelle ich nur eine entfernte Verbindung zwischen ihnen und Christus her und nicht eine Beziehung größter Intimität, die aber nach allen Ratschlüssen Gottes besteht.
So untergräbt man also nach meinem Urteil die besondere Segnung des Christen, wenn man die Beziehung so reduziert, dass sie die eines Königs zu einem Volk, statt die eines Hauptes zu seinem Leib ist. Wenn ich zu Christus als dem Bräutigam meiner Seele und der Versammlung aufschauen kann, und wenn ich Christus nicht nur als meinen Herrn, sondern als das Haupt ansehen kann, von dem jeder Körperteil Nahrung empfängt, so dass er von Ihm abhängig ist, dass Er nämlich an [die Seinen] denkt, für sie sorgt, sie leitet und lenkt ‒ solch eine Sicht bewirkt das größtmögliche Vertrauen meiner Liebe zu Ihm. Und je einfacher der Glaube ist, desto größer ist die Kraft, die sich für die Seele ergibt.
Wenn ich dagegen das Christentum nur zu einer entfernten Beziehung mache ‒ die eines Volkes zu einem König ‒, opfere ich ihr erhabenste Element. Es liegt auf der Hand, dass ich mich gegen fremde Feinde verteidigen kann, aber ich muss mich in meinen eigenen Angelegenheiten größtenteils für mich selbst entscheiden. Der König denkt nicht viel über mich oder dich nach, und das können wir von ihm auch nicht erwarten. Ich habe keinen persönlichen Anspruch auf Nähe zum Thron, und diese Unterscheidung wird von allen verstanden. Aber in göttlichen Dingen hat sie böse Folgen. Die Vorstellung von der Entfernung von Christus passt gut zu der Vorstellung, dass wir frei sind, unsere Pläne nach unseren eigenen Vorstellungen zu gestalten, dass es uns überlassen bleibt, unsere eigenen Verhaltensregeln in der Versammlung zu gestalten (William Kelly).
Unter allen Weisen der Nationen: Es hat immer sehr kluge Menschen gegeben unter den Völkern, doch niemand ist vergleichbar mit dem Herrn. Verglichen mit Ihm sind sie alle dumm und töricht. Sie sind genauso dumm wie ihre Götzen, die sie verehren.