Einleitung
Der Psalm ist ein messianischer Psalm; die Verse 24–27 werden in Hebräer 1 auf den Herrn Jesus bezogen.
Der Psalm beschreibt prophetisch die persönlichen Empfindungen Christi über das Gericht Israels und Jerusalems (nicht die Leiden zur Sühnung, auch kein Bekennen von Sünden).
Er geht auch um Leiden durch das Vorempfinden des Messias, weil Er hat den Tod vor Augen hat (vgl. Mt 26,36-46).
Auch macht der Messias sich mit dem Gericht Gottes an Israel eins (V. 10).
Entstehung: Der Psalm ist am Ende der babylonischen Gefangenschaft entstanden (V. 13.14).
Dieser Psalm ist einer der bemerkenswertesten, vielleicht der bemerkenswerteste aller Psalmen. Vers 11 macht uns mit der Ursache der Klage bekannt, mit der der Psalm beginnt. Christus wird hier vollständig als Mensch betrachtet, der aus dem Volk erwählt und zum Messias erhoben ist, der aber jetzt, anstatt das Königtum einzunehmen, verworfen und weggetan wird.8 Wir sehen Ihn hier unmittelbar vor dem Kreuz; doch mag der Herr, wie wir auch in Johannes 12 sehen, schon vorher oft im Geist nahe davor gestanden haben. Er blickt auf den Herrn, der Ihn, nachdem Er selbst Ihn in die Stellung des Messias berufen hat, niederwirft und Ihn Zorn und Grimm schmecken lässt.
Die Leiden Christi, die hier vor uns stehen, sind weit umfassender, als wenn sie nur aus der Hand der Menschen kämen. Wohl litt Er vonseiten der Menschen und empfand dies, aber sie stehen nicht vor seinem Blick im Gericht; auch handelt es sich hier nicht um sein Versöhnungswerk, obwohl das, wodurch die Versöhnung bewirkt wurde, eingeschlossen ist, wenn wir die völlige Wirkung des Zornes und Grimmes Gottes, wie sie am Kreuz zu sehen waren, mit hinzuziehen. Wir haben Ihn selbst hier, wie Er als Mensch abgeschnitten wird. Er ist in Bedrängnis; sein Herz ist verdorrt. Er gleicht dem Pelikan in der Wüste, der Eule in den Einöden. Seine Tage sind wie ein gestreckter Schatten; Er verdorrt wie Kraut. So war der Messias, dem alle Verheißungen gehörten. Doch der Herr bleibt auf ewig, seine Verheißungen sind sicher, Er wird aufstehen und sich Zions erbarmen, denn die hierzu bestimmte Zeit ist gekommen.
Die ganzen Vorgänge zu der Zeit, als Christus auf der Erde war, und zu der Zeit des Überrests in den letzten Tagen gehören zusammen; sie werden hier als eins betrachtet. Wenn Zion wiederhergestellt wird, werden die Nationen den Namen des Herrn fürchten. Der Herr wird erscheinen, und, und dann wir Er Zion aufbauen und dem armen Überrest antworten. So wird der Name des Herrn verkündigt werden in Zion und sein Lob in Jerusalem, wenn sich alle Völker dort versammeln werden.
Doch wo wird dann der Messias sein? Seine Kraft ist doch gebeugt worden auf dem Weg, seine Tage sind verkürzt worden. Er hat zu dem geschrien zu, der vom Tod zu erretten vermag. Soll Zion wiederhergestellt werden ohne den Messias, indem dieser gebeugt und weggenommen wurde? In den Versen 25–29 vernehmen wir Gottes wunderbare und herrliche Antwort auf diese Frage: Der Messias ist ja selbst der Schöpfer des Himmels und der Erde, von Ewigkeit her derselbe. Seine Jahre werden nicht enden, sogar wenn die Schöpfung wie ein veraltetes Gewand zusammengewickelt werden wird. Die Söhne seiner Knechte werden bleiben, und ihre Nachkommen werden vor Ihm feststehen.
Der Messias, der verachtete und verworfene Jesus, ist der Herr, der Schöpfer aller Dinge. Ja, der Herr, der, wie wir hörten, kommen wird, ist der Christus, der einst hier auf der Erde war; der „Alte an Tagen“ (Dan 7,9.10.13) kommt, und es ist Christus, obwohl Er zugleich der „Sohn des Menschen“ ist. Dieser Gegensatz zwischen der äußersten Erniedrigung und Vereinsamung Christi und seiner göttlichen Natur ist außerordentlich eindrucksvoll. Doch es handelt es sich in diesem Psalm um das Empfinden, das Christus persönlich von seiner Verwerfung hatte, und zwar in Verbindung mit dem Überrest – nicht um das Tragen des Gerichts über die Sünde in seiner Person für die Menschen. Das sieht man auch daran, dass in Psalm 22 ganz andere Folgen zutagetreten als hier, obwohl jenes vollkommene Versöhnungswerk, von dem der letztgenannte Psalm handelt, auch für „die Nation“ notwendig war; sonst würde ihre Befreiung niemals stattfinden können (JND).
Einteilung
Das Gebet des großen Elenden (V. 1–7)
Das tiefste Wehe und die größte Angst (V. 8–11)
Die vor Ihm liegende Freude (V. 12–16)
Die Gebete des Armen – das Seufzen des Gefangenen (V. 17–22)
Der Erlöser ist der Schöpfer – sein Trost (V. 23–28)
Vers 1
Gebet eines Elenden, wenn er verschmachtet und seine Klage vor dem Herrn ausschüttet: Der Elende ist der Betrübte, der Niedergeworfene, der Arme; zugleich der König nach den Gedanken Gottes, der sich mit den Folgen des Gerichts Gottes einsmacht und darunter leidet. Welche Liebe sehen wir in Jesus, der dazu bereit war, einen solchen Weg der Leiden zu gehen.
Verschmachtet: überwältigt, schwach sein.
Ausschüttet: überwältigt, seine Seele ist satt von Leiden (Ps 88,4). Später wird Er seine Seele in den Tod ausschütten (Jes 53,12).
8 Es ist beachtenswert, dass Christus hier den Zorn und Grimm des Herrn (V. 11) nicht in Verbindung mit sich selbst bringt wie in Psalm 22 („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“), obwohl Er auch hier den Zorn und Grimm des Herrn verwirklicht und im Geist mitfühlt. Doch von sich selbst sagt Er hier nur: „denn du hast mich emporgehoben und mich hingeworfen.“ Dieser Unterschied ist ein Schlüssel, der uns vieles in den Psalmen verständlich macht.↩︎