Einleitung
Das besondere Thema dieses Psalms sind die Leiden des Erretters. Aller Segen, wie er in den vorhergehenden Psalmen beschrieben wird, ist die Folge dieser Leiden. Bei aller Freude über die Erlösung und die Segnungen muss uns dieses Thema immer wieder zutiefst berühren.
Der in diesem inhaltsreichen Psalm beschriebene Zustand der Seele erfordert die ernsteste Beachtung und eine eingehende Untersuchung. Wir haben bisher stets den Überrest Israels oder Christus in seiner Vereinigung mit Ihm vor uns gehabt, und das ist auch hier der Fall.
Der Redende ist ohne Zweifel zunächst David, und doch spricht offensichtlich ein Größerer als er. Die Lage, in der Er sich befindet, ist Folgende: Er ist in der tiefsten Trübsal, versunken in tiefen Schlamm, und muss vor Gott die Schwere der Torheit und der Sünden empfinden, die Ihn in diese Lage gebracht haben. Er sieht sich umringt von zahlreichen und mächtigen Feinden, die Ihm ohne Grund feind sind. Um was für Sünden es sich auch handeln mag, Er war persönlich treu. Der Eifer um das Haus Gottes hat Ihn verzehrt, und Er erduldet Schmähungen um des Gottes Israels willen. Darum bittet Er, dass seine Lage nicht ein Stein des Anstoßes für andere werden möchte, indem sie sähen, wie jemand, der so treu gegenüber Gott war, solche Leiden und Trübsale finden musste. Allerdings ist Er nicht von Gott verlassen. Im Gegenteil, sein Gebet ist zum Herrn zur Zeit der Annehmung. Er erwartet, erhört zu werden nach der Größe der Güte Gottes und nach der Wahrheit seines Heils. Seine Feinde sind das Thema seiner Klage; dennoch sieht Er sich von Gott geschlagen und inmitten solcher, die Gott verwundet hat. Er verlangt nach Vollzug der Rache an den Menschen; es ist nicht das Zeugnis der Gnade.
Dies alles entspricht vollständig dem Zustand des Gerechten in dem Überrest Israels. Er erkennt seine Sünden an, all die Sünden seines Volkes. Doch er erduldet Schmähungen und unbegründete Feindschaft für den Namen des Gottes Israels; und je treuer er ist, desto mehr hat er zu leiden. Doch der Glaube lässt ihn erkennen, dass er zu einer Zeit der Annehmung zu dem Gott Israels betet (das ist, wie wir gesehen haben, der Charakter der vorhergehenden Psalmen); dennoch befindet er sich in der größten Drangsal. Seine Augen schwinden hin, harrend auf seinen Gott. Seine Sorge um das Wohl Israels und seine Ergebenheit gegenüber den Schmähungen machen ihn nur zum Gegenstand ihres Gespöttes. Er wartet auf das Gericht an seinen Widersachern und Verfolgern, denen Gnade nichts nützen kann (sie wollen keine), und er ist überzeugt, dass der Herr auf die Armen hört und seine Gefangenen nicht verachtet. Die ganze Schöpfung wird aufgefordert, Ihn zu loben; denn Gott wird Zion retten und die Städte Judas bauen, damit sie darin wohnen und es besitzen. All das sind genau der Zustand und das Empfinden des treuen Überrests.
In Vers 22 jedoch, und auch in Vers 10, obwohl dieser allgemeiner angewandt werden kann, finden wir etwas, das in Christus seine buchstäbliche Erfüllung gefunden hat. Die Anführung von Vers 23 im Brief an die Römer führt uns zu demselben Schluss (Röm 11,9). Noch viele andere Verse unseres Psalms finden, obwohl sie auch auf andere anwendbar sein mögen, ihre völlige Anwendung auf Christus. Doch redet Er hier, wie bereits bemerkt, durchaus nicht als von Gott verlassen. Der Inhalt des Psalms bezieht sich auf sein Leben; dennoch geht die Beschreibung der Leiden Christi bis zu seinen Leiden auf dem Kreuz, aber ohne dass eine Spur von Gnade und Güte daraus hervorginge. Es ist der Anteil, den der Mensch an diesen Leiden hat, nicht das Verlassensein von Gott; und darum wird um Gericht über den Menschen gebeten, nicht aber eine Gnade angekündigt, die durch Gerechtigkeit herrscht. Zugleich werden aber auch Übertretungen vor Gott bekannt, und der die Verfolgungen erduldet, ist jemand, den Gott geschlagen hat. Daher kann ich nicht anders, als in diesem Psalm Christus sehen, wie Er nach seinem gerechten Leben (weshalb Er die Schmach erlitt, und das Er, soweit es sich um dieselben leitenden Grundsätze handelt, wiederholt darstellt) mit Herz und Sinn in die Leiden und Drangsale Israels eintritt, in die sie sich im Blick auf die Regierung Gottes selbst gebracht hatten.
Es handelt sich hier aber keineswegs um ein Verlassen- oder Verworfensein; das war das Teil Christ allein, als Er die Sünde trug und deren Sühnung vollbrachte. Doch Israel ist von Gott geschlagen und verwundet, und daran konnte Christus Anteil nehmen, weil Er im höchsten und vollständigsten Sinn (obwohl das nicht im Allgemeinen das Thema dieses Psalms ist) von Gott geschlagen war. Es handelt sich hier um die Verfolgung vonseiten der Juden; aber der Verfolgte war von Gott geschlagen, und Er empfand, wie schrecklich die Gottlosigkeit war, die Ihn verhöhnte und schmähte, Ihn, der jenen bitteren Kelch nahm, den wiederum unsere Sünden gefüllt hatten. Christus wurde auf dem Kreuz von Gott geschlagen, und Er empfand den Hohn und die Schmach, mit denen man Ihn überhäufte.
Was die Vergehungen betrifft, die in Vers 6 ins Gedächtnis gerufen werden,9 so denke ich, dass sie mit der Regierung Gottes bezüglich Israels in Verbindung stehen, und dass, obwohl die Tatsache des Schlagens erwähnt wird, doch keineswegs dessen sühnende Kraft hier behandelt wird. Nur Gericht wird hier erbeten, und das ist nicht die Frucht der Versöhnung (vgl. Ps 22). Aber gerade deshalb gibt uns unser Psalm ein völligeres Verständnis über all die persönlichen Leiden Christi zu jener Zeit, wogegen er das Leiden, in dem Christus völlig und gänzlich allein stand, sein Sühnungswerk, unerwähnt lässt. Dieses Leiden ist so unermesslich groß, dass es, wenn es uns allein offenbart worden wäre, alle anderen Leiden, die Er als Mensch zu jener Zeit zu erdulden hatte, in den Schatten gestellt haben würde. Diese letzten Leiden finden wir – Gott sei dafür gepriesen – in diesem Psalm; die Leiden, die jenen gewaltigen Akt, das Schlagen Christi vonseiten Gottes, begleiteten (JND).
Einteilung
Überschrift (V. 1)
Das Wirken des Messias als Grundlage der Wiederherstellung des Volkes (V. 2‒22)
Die Bitte des Messias zur Vergeltung seiner Feinde (V. 23‒29)
Die Antwort des Messias auf die Auferweckung (V. 30‒37)
Vers 1
Dem Vorsänger. Nach Schoschannim {viell. Nach Lilien}. Von David. Die Autorschaft Davids wird in Römer 11,9 bestätigt. Die kleine Lilie ist ein Bild der Demut.
9 Christus nimmt, wie bereits gesagt, die Sünden auf sich oder bekennt sie auf den Kopf des Opfers, doch das ist durchaus nicht die Sühnung. Er nimmt das auf sich, wofür Sühnung geschehen musste.↩︎
Rette mich, o Gott! Denn die Wasser sind bis an die Seele gekommen: Tiefe Wasser können sehr große Not bereiten. Hier kommen die Wasser bis an die Seele. Die Seele droht zu ertrinken. Die Beengung nimmt ein außergewöhnliches Maß an.