Behandelter Abschnitt Ps 69
Der in diesem inhaltsreichen Psalm geschilderte Seelenzustand erfordert die ernsteste Beachtung und eine eingehende Untersuchung. Wir haben bisher stets den Überrest Israels oder Christum in Seiner Vereinigung mit ihm vor uns gehabt, und das ist auch hier der Fall. Der Redende ist ohne Zweifel zunächst David, und doch spricht augenscheinlich ein Größerer als er. Die Lage, in der Er Sich befindet, ist folgende. Er ist in der tiefsten Trübsal, versunken in tiefen Schlamm, und muss vor Gott die Schwere der Torheit und der Sünden fühlen, die Ihn in diese Lage gebracht haben. Er sieht sich umringt von zahlreichen und mächtigen Feinden, die ohne Grund Ihm feind sind. Um was für Sünden es sich auch handeln mag, Er persönlich ist treu gewesen. Der Eifer um das Haus Gottes hat Ihn verzehrt, und Er erduldet Schmähungen um des Gottes Israels willen. Darum bittet Er, dass Seine Lage nicht ein Stein des Anstoßes für andere werden möchte, indem sie sähen, wie Einer, der so treu gegen Gott war, solche Leiden und Trübsale finden musste. Indes ist Er nicht von Gott verlassen. Im Gegenteil, Sein Gebet ist zu Jehova zur Zeit der Annehmung. Er erwartet, erhört zu werden nach der Größe der Güte Gottes und nach der Wahrheit Seines Heils. Seine Feinde sind der Gegenstand Seiner Klage; dennoch sieht Er Sich von Gott geschlagen und inmitten solcher, die Gott verwundet hat. Er verlangt nach Vollziehung der Rache an den Menschen; es ist nicht das Zeugnis der Gnade.
Dies alles entspricht vollständig dem Zustand des Gerechten in dem Überrest Israels. Er erkennt seine Sünden an, all die Sünden seines Volkes. Doch er erduldet Schmähungen und unbegründete Feindschaft für den Namen des Gottes Israels; und je treuer er ist, desto mehr hat er zu leiden. Doch der Glaube lässt ihn erkennen, dass er zu einer Zeit der Annehmung zu dem Gott Israels betet (das ist, wie wir gesehen haben, der Charakter der vorhergehenden Psalmen); dennoch befindet er sich in der größten Drangsal. Seine Augen schwinden hin, harrend auf seinen Gott. Seine Sorge um das Wohl Israels und seine Ergebenheit gegenüber den Schmähungen machen ihn nur zum Gegenstand ihres Gespöttes. Er wartet auf die Vernichtung seiner Widersacher und Verfolger, denen Gnade nichts nützen kann (sie wollen keine), und er ist überzeugt, dass Jehova auf die Armen hört und Seine Gefangenen nicht verachtet. Die ganze Schöpfung wird aufgefordert, Ihn zu loben; denn Gott wird Zion retten und die Städte Judas bauen, damit sie darin wohnen und es besitzen. Alles das ist genau der Zustand und das Gefühl des treuen Überrestes.
In Vers 21 jedoch, und auch in Vers 9, obwohl dieser allgemeiner angewandt werden kann, finden wir etwas, das in Christo seine buchstäbliche Erfüllung gefunden hat. Die Anführung des 22. Verses in dem Briefe an die Römer leitete uns zu demselben Schluss. Noch viele andere Verse unseres Psalmes finden, obwohl sie auch auf andere anwendbar sein mögen, ihre völlige Anwendung auf Christum. Doch redet Er hier, wie bereits bemerkt, durchaus nicht als von Gott verlassen. Der Inhalt des Psalmes bezieht sich auf Sein Leben; dennoch geht die Beschreibung der Leiden Christi bis zu Seinen Leiden auf dem Kreuze, aber ohne dass eine Spur von Gnade und Güte aus denselben hervorginge. Es ist der Anteil, den der Mensch an diesen Leiden hat, nicht das Verlassensein von Gott; und darum wird um Gericht über den Menschen gebeten, nicht aber eine Gnade angekündigt, die durch Gerechtigkeit herrscht. Zugleich werden aber auch Übertretungen vor Gott bekannt, und der die Verfolgungen erduldet, ist Einer, den Gott geschlagen hat. Daher kann ich nicht anders, als in diesem Psalm Christum sehen, wie Er nach Seinem gerechten Leben (zufolge dessen Er die Schmach erlitt, und das Er, soweit es sich um die dasselbe leitenden Grundsätze handelt, wiederholt darstellt) mit Herz und Sinn in die Leiden und Drangsale Israels eintritt, in die sie sich im Blick auf die Regierung Gottes selbst gebracht hatten. Es handelt sich hier aber keineswegs um ein Verlassen- oder Verworfensein; das war das Teil Christ! allein, als Er die Sünde trug und deren Sühnung vollbrachte. Doch Israel ist von Gott geschlagen und verwundet, und daran konnte Christus Anteil nehmen, weil
Er im höchsten und vollständigsten Sinne (obwohl das nicht im allgemeinen der Gegenstand dieses Psalmes ist) von Gott geschlagen war. Es handelt sich hier um die Verfolgung von Seiten der Juden; aber der Verfolgte war von Gott geschlagen, und Er fühlte, wie schrecklich die Gottlosigkeit war, die Ihn höhnte und schmähte, Ihn, der jenen bitteren Kelch nahm, den wiederum unsere Sünden gefüllt hatten. Christus wurde auf dem Kreuze von Gott geschlagen, und Er fühlte den Hohn und die Schmach, mit denen man Ihn überhäufte.
Was die Vergehungen betrifft, die in Vers 5 ins Gedächtnis gerufen werden28, so denke ich, dass sie mit der Regierung Gottes bezüglich Israels in Verbindung stehen, und dass, obwohl die Tatsache des Geschlagenseins erwähnt wird, doch keineswegs dessen sühnende Kraft hier behandelt wird. Nur Gericht wird hier erbeten, und das ist nicht die Frucht der Versöhnung (vgl. Ps 22). Aber gerade aus diesem Grunde gibt uns unser Psalm ein völligeres Verständnis über all die persönlichen Leiden Christi zu jener Zeit, wogegen er das Leiden, in dem Christus völlig und gänzlich allein stand, Sein Sühnungswerk, unerwähnt lässt. Dieses Leiden ist so unermesslich groß, dass es, wenn es uns allein offenbart worden wäre, alle anderen Leiden, die Er als Mensch zu jener Zeit zu erdulden hatte, in den Schatten gestellt haben würde. Diese letzteren Leiden finden wir - Gott sei dafür gepriesen - in diesem Psalm; die Leiden, die jenen gewaltigen Akt, das Geschlagenwerden Christi von Seiten Gottes, begleiteten.
28 Auch ist, wie bereits gesagt, das Aufsichnehmen der Sünden oder das Bekennen derselben auf den Kopf des Opfers durchaus nicht der Akt der Sühnung. Es ist das Aufsichnehmen dessen, wofür Sühnung geschehen musste.↩︎