Behandelter Abschnitt 1Mo 37,25.31-35
Der Schmerz des Vaters
Das finstere Bild, das die Verwerfung Josephs durch seine Brüder unseren Augen bietet, wird immer dunkler, je mehr wir deren weiterem Verhalten folgen. „Und sie setzten sich, um zu essen“ (Vers 25). Das ist – unmittelbar nach ihrer grausamen Tat – eine Gefühllosigkeit, die uns gewiss mit tiefem Abscheu erfüllt; sie wird aber zum Spiegel für uns, sobald wir selbst einmal in das Licht dieser kurzen, scheinbar nur so hingeworfenen Bemerkung des Geistes Gottes treten. Denn vergessen wir nicht, welcher Gefühllosigkeit auch unser Herz fähig ist einer eben erst begangenen Sünde gegenüber! Agur sagt – wie lebenswahr ist Gottes Wort! -: „So ist der Weg einer ehebrecherischen Frau: sie isst und wischt ihren Mund und spricht: Ich habe kein Unrecht begangen“ (Spr 30,20). Das sind wir – das ist der Mensch, wie er leibt und lebt! Das Buch Esther liefert uns ein weiteres Beispiel. Eben waren die Eilboten mit dem Befehl zum Tor hinaus, der Tausenden von Juden „vom Knaben bis zum Greis, Kindern und Frauen“ den Tod bringen sollte, da heißt es: „Der König und Haman saßen und tranken; aber die Stadt Susan war in Bestürzung“ (Est 3,13 ff.). Gefühllos ist der Mensch angesichts der eigenen Schuld wie angesichts der Not um ihn her; und oft genug müssen auch wir, die Gläubigen, uns eines solchen Mangels anklagen.
In besonderem Maß, scheint mir, ist dies der Fall angesichts des Platzes, den die Welt dem Sohn Gottes, dem wahren „Abgesandten des Vaters“, zuwies. Wie Joseph die Grube fand, so fand Er das Kreuz und das Grab – aber keineswegs ruft dies bei uns stets die Gefühle hervor, die es hervorrufen sollte. Würde es uns sonst oft solche Mühe bereiten, uns „von der Welt unbefleckt zu erhalten“? Wie leicht gleichen wir stattdessen denen, „die auf Polstern von Elfenbein liegen und auf ihren Ruhebetten sich strecken . . . die zum Klange der Harfe faseln, sich wie David Musikinstrumente ersinnen; die Wein aus Schalen trinken und mit den besten Ölen sich salben, und sich nicht grämen über die Wunde Josephs“ (Amos 6,4-6). Sollten wir nicht mehr daran denken, dass diese Erde mit Seinem heiligen Blute getränkt ist?
Die Brüder Josephs also „setzten sich, um zu essen“, als ob nichts geschehen wäre. Harten Herzens verschlossen sie ihre Augen gegenüber der „Seelenangst“ ihres Bruders und ihr Ohr gegenüber seinem „Flehen“ (lies Kap. 42,21). Und die gleiche Gefühllosigkeit legten sie an den Tag, als sie bald darauf ihrem Vater den in das Blut eines Ziegenbocks getauchten „langen Rock“ sandten mit der heuchlerischen Botschaft: „Dies haben wir gefunden; erkenne doch, ob es der Rock deines Sohnes ist oder nicht“ (Vers 31. 32). Ja, während sie zunächst das Angesicht ihres Vaters mieden und nur einen Boten sandten, machten sich schließlich sogar „alle seine Söhne und alle seine Töchter auf, um ihn zu trösten“ (Vers 35). Weder die Todesangst ihres Bruders noch der fassungslose Schmerz des Vaters (Vers 33) vermochte ihr Herz zu erweichen.
Zu der Gefühllosigkeit der Brüder Josephs steht der Schmerz des betagten Vaters in einem ergreifenden Gegensatz. Jakob durchschaut weder ihre Lüge noch ihre List; er glaubt ihren Worten, für ihn „ist Joseph nicht mehr“, er hält ihn für tot (Vers 33; Kap. 42,36–38; 44,28).Mit allen Zeichen der Trauer angetan, „beweint er ihn“ und „trägt Leid um seinen Sohn viele Tage“ (Vers 34.35). Das waren, wenn wir die Zeitangaben in diesen Kapiteln richtig verstehen, über zwanzig Jahre. Eine lange Zeit, in der er den Sohn seiner Lieben missen musste!
Bei einem solchen Verlust gab es für Jakob keinen Trost: „Er weigerte sich, sich trösten zu lassen“ (Vers 35). Ähnlich lesen wir von David, als er unter der züchtigenden Hand Gottes zu Boden lag: „Die Ältesten seines Hauses machten sich zu ihm auf, um ihn von der Erde aufzurichten; aber er wollte nicht“ (2Sam 12,17). Auch Asaph sagt von „dem Tage seiner Drangsal“ in Erinnerung an seinen tiefen Schmerz: „Meine Seele weigerte sich, getröstet zu werden“ (Ps 77,3; vergl. Jer 31,15). Dass es bei Jakob nicht anders war, verstehen wir gut; denn ohne Joseph hatte sein Alter, sein Leben seinen wahren Inhalt verloren. Fortan würde diese Erde ihm nichts anderes mehr bieten können als Tränen und Herzeleid: „Denn leidtragend werde ich zu meinem Sohn hinabfahren in den Scheol!“
Sollten wir von einer Welt, die den wahren Joseph verwarf, etwas anderes erwarten als Tod und Trauer und Tränen?
Behandelter Abschnitt 1Mo 37,25-36
Nach Ägypten hinab
Während Jakob sich seinem fassungslosen Schmerz hingibt und seine Söhne ihn mit heuchlerischen Worten zu trösten versuchen, befindet sich Joseph, der Todgeglaubte, im heißen Sonnenbrande, gebunden auf den Rücken eines Kamels, auf dem Weg hinab nach Ägypten.
Wie war dies zugegangen? – Gott hatte über Joseph gewacht, um ihn aus der Mitte der feindlichen Brüder zu entfernen. „Und sie setzten sich, um zu essen. Und sie hoben ihre Augen auf und sahen: Und siehe, ein Zug Ismaeliter kam von Gilead her; und ihre Kamele trugen Tragant und Balsamharz und Ladanum; sie zogen hin, um es nach Ägypten hinabzubringen“ (Vers 25). Wie wunderbar, dass diese Ismaeliter, was doch gewiss nicht alle Tage geschah, so unversehens des Weges von Gilead daherkamen! Kein Zweifel: Gott hatte – wie einst bei Jona den Fisch, den Wunderbaum, den Wurm und den schwülen Ostwind – diese Karawane „bestellt“, um in Wahrheit „das Beste des Landes“, den wahren „Balsam von Gilead“ für die ganze Welt, nach Ägypten hinabzubringen (vergl. Kap. 43,11; Jer 8,22; 46,11).
War es nicht ebenso Gottes Hand, welche die Söhne Jakobs, nachdem die Felder Sichems abgeweidet waren, zu dieser Zeit nach Dothan geführt hatte? (Die syrisch-ägyptische Karawanenstraße führte über den Engpass von Dothan durch die Ebene von Jesreel. Gilead (im weiteren Sinn des ganze Ostjordanland) nannte sich das Gebirge südlich des Jabbok.). War es nicht Seine Hand, die auch Ruben, ohne ersichtlichen Grund, gerade jetzt aus der Mitte der Brüder fernhielt, während Juda einen neuen – dritten – Anschlag ersann, der den im geheimen gehegten Plan Rubens zum Scheitern brachte? Jene Hand, die uns oft unverständliche Wege führt, und deren wunderbares Tun wir doch eines Tages – gleich Joseph – rühmen dürfen (lies Ps 118,13-17). Ja, dass wir mehr Vertrauen hätten zu dieser „guten Hand unseres Gottes, die über uns ist“, und die auch über Joseph war (Esra 8,18). – „Da sprach Juda zu seinen Brüdern: Was für ein Gewinn ist es, dass wir unseren Bruder erschlagen und sein Blut bedecken? Kommt, lasst uns ihn an die Ismaeliter verkaufen; aber unsere Hand sei nicht an ihm, denn unser Bruder, unser Fleisch ist er! Und seine Brüder hörten darauf“ (Vers 26.27).
Das zeigt uns zunächst, dass die Söhne Jakobs – trotz Rubens Abraten – noch keineswegs den Plan aufgegeben hatten, ihren Bruder mit eigener Hand zu töten. Da entsteht, als die Karawane am Horizont erscheint, in Juda ein neuer Plan, der geeignet war, nunmehr den Beifall aller zu finden und zugleich Rubens gute Absichten, die er möglichenfalls erriet, zu vereiteln. „Was für ein Gewinn ist es . . . “ – Ach, was ist der Mensch! Das ist die Sprache, die er allezeit liebt, die Frage, um die sich alle Gedanken seines eigennützigen Herzens drehen. In die Sklaverei verkauft, das war ja so gut wie tot; jedenfalls aber war so ein Weg gefunden, der eher gangbar schien, um den Gegenstand ihres Hasses und Neides für immer beiseite zu schaffen. „Aber unsere Hand sei nicht an ihm.“ Waren sie deswegen weniger schuldig? War es Saul weniger, wenn er David gegenüber den gleichen Vorsatz in seinem Herzen nährte? (1Sam 18,17). Oder David, wenn er den tödlichen Streich wider Urija nicht selber führte, sondern den Feinden überließ? „ Urija, den Hethiter, hast du mit dem Schwert erschlagen“, musste Nathan ihm sagen (2Sam 11,15; 12,9).
Aber das Gewissen des Menschen, wenn es nicht im Licht Gottes ist, ist schnell zufriedengestellt und beruhigt sich gern mit allerlei frommen, trefflich klingenden Reden. „Unsere Hand sei nicht an ihm, denn unser Bruder, unser Fleisch ist er.“ Ähnlich hatte Laban zu Jakob gesagt; aber das hinderte ihn nicht, ihn härter als einen Knecht zu behandeln und „seinen Lohn zehnmal zu verändern“ (Kap. 29,14.25 ff.; 31,38 ff.). „Als nun die midianitischen Männer, die Kaufleute (Vergl. Vers 25.27.28.36; Kap. 39,1. – „Ismaeliter“ (Nomaden) und „Medianiter“ (sesshafte Kaufleute) bildeten hier also, wie wir sagen würden, eine Art Handelsgesellschaft, die einen als Kameltreiber, die anderen als Kaufleute. Vielleicht waren diese stammverwandten Völker aber auch damals schon so miteinander vermischt, wie zu den Zeiten Gideons, des Besiegers Midians, wo sie ganz ineinander aufgegangen zu sein scheinen (vergl. Ri 8,24).), vorüberkamen, da zogen und holten sie Joseph aus der Grube herauf und verkauften Joseph an die Ismaeliter für zwanzig Silberstücke; und sie brachten Joseph nach Ägypten“ (Vers 28).
Auch Jeremia „zogen und holten“ sie später mit Mühe aus der Grube im Gefängnishofe herauf (Jer 38,13); aber hier, bei Joseph, war es nicht Freundeshand, die ihn aus furchtbarer Lage befreien wollte. .. Welch eine Tat! „Wer einen Menschen raubt und ihn verkauft. . . “, so bestimmte später das Gesetz, „der soll gewiss getötet werden“ (2Mo 21,16). Und streng war es untersagt, selbst im Schuldverhältnis, die eigenen Volksgenossen zu Sklaven zu machen. „Sie sollen nicht verkauft werden, wie man Sklaven verkauft“ (3Mo 25,42). Hier aber handelte es sich nicht um einen Menschen schlechthin, auch nicht nur um einen Volksgenossen, sondern um den eigenen, leiblichen Bruder. „Und sie verkauften Joseph an die Ismaeliter für zwanzig Silberstücke.“ Ach, welche Gedanken werden beim Lesen dieses kurzen Satzes in uns wach! Diese „zwanzig Silbertücke“ mögen für Joseph, seinem Alter nach, angemessen gewesen sein (vergl. 3Mo 27,5); welche Geringschätzung aber drückte sich in den „dreißig Silberstücken“ aus, dem „herrlichen Preis“, dessen der wahre Joseph von Seinen Brüdern wertgeachtet wurde! (Sach 11,12.13; Mt 27,3 ff.). Er entsprach der Summe, die für einen von einem Ochsen getöteten Sklaven gezahlt werden musste (2Mo 21,32).
Ruben kommt zu spät (Vers 29.30). Wir zweifeln nicht an der Aufrichtigkeit seines Schmerzes; aber nicht jeder findet zugleich die Kraft, seinen Gefühlen auch die Taten folgen zu lassen. Mangel an Entschiedenheit hatte ihn in diese Lage gebracht und nötigte ihn fernerhin, sich mit dem Bösen einszumachen, anstatt es aufzudecken (Vers 31 ff.). An ihm wird – eine weitere ernste Belehrung für uns – das Wort wahr: „Menschenfurcht legt einen Fallstrick“ (Spr 29,25). Schon sein erster Einspruch war matt und schwach, war nichts als ein Zugeständnis an das Böse: Vergießt nicht Blut, lasst ihn lieber dort in der Grube verkommen, so riet er – wenngleich er für sich selbst beabsichtigte, ihn zu retten. Und wie durfte er ihn dann (und ebenso die anderen, deren Absichten er kannte) auch nur einen Augenblick aus den Augen lassen? – „Und die Midianiter verkauften ihn nach Ägypten, an Potiphar, einen Hofbeamten des Pharao, den Obersten der Leibwache“ (Vers 36).
Von seinen Brüdern verworfen, in die Hände der Fremden verkauft, blieb Joseph fortan dem Lande seiner Väter fern – er ist mit einer einzigen Ausnahme nie wieder dorthin zurückgekehrt (Kap. 50,7 ff.). So erinnert er uns an jenen „hochgeborenen Mann, der in ein fernes Land zog, um ein Reich für sich zu empfangen“ (Lk 19,12), an den jetzt von dieser Welt verworfenen, in den Himmel aufgenommenen Christus. „Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen; denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht:,Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!‘“ (Mt 23,38.39). Das wird sich erfüllen im Blick auf unseren Herrn und Sein irdisches Volk, wie es sich auch im Bilde an Joseph und seinen Brüdern erfüllt hat.