Behandelter Abschnitt Joh 4,5-8
Joh 4,5-8: Er kommt nun in eine Stadt Samarias, genannt Sichar, nahe bei dem Felde, welches Jakob seinem Sohne Joseph gab. Es war aber daselbst eine Quelle Jakobs. Jesus nun, ermüdet von der Reise, setzte sich also an die Quelle nieder. Es war um die sechste Stunde. Da kommt ein Weib aus Samaria, Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr: Gib mir zu trinken. (Denn seine Jünger waren weggegangen in die Stadt, um Speise zu kaufen.)
Der Herr begibt sich also in dieses unreine Land, um eine bedürftige Seele zu segnen. Als Er zum Jakobsbrunnen kommt, „ermüdet von der Reise“, setzt Er sich an den Rand des
Brunnens. Er ist nicht nur erschöpft, sondern auch durstig, denn Er bittet die Frau, die in diesem Moment zu dem Brunnen kommt, Ihm Wasser zu trinken zu geben. Außerdem ist der Herr allein, denn die Jünger waren in die benachbarte Stadt gegangen, um Essen zu kaufen.
Wie schön ist diese Szene! Das ewige Wort, der Schöpfer der Welten, der ewige Sohn, der im Schoß des Vaters weilte, ist Mensch geworden, und als der Menschgewordene wohnt Er unter uns voller Gnade und Wahrheit. Er legt seinen königlichen Status und seine Majestät beiseite, um auf der Erde als Fremdling einen Weg der Erniedrigung zu gehen. Er zieht nicht in königlichem Aufzug und königlichem Gefolge durch das Land, sondern wird arm, damit wir durch seine Armut reich würden. Mit bewunderndem Staunen sehen wir Ihn am Rande des Brunnens sitzen: ein erschöpfter, durstiger und einsamer Mann. Der ewige Gott, der HERR, der Schöpfer aller Enden der Erde, der, der nicht ermüdet und nicht ermattet, wird als Fremdling im Land gefunden, müde von der Reise. Der, der jeden Wassertropfen im Universum geschaffen hat, leidet Durst in der durch seine Hände geschaffenen Welt. Der, der in himmlischer Herrlichkeit immer von Engeln umgeben war, ist auf der Erde einsam.
Warum aber wurde Er müde, durstig und einsam? Weil es keinen anderen Weg gab, sich einer armen gefallenen Sünderin zu nähern und ihr Vertrauen zu gewinnen, so dass all ihre Ängste und Schuldgefühle genommen wurden und sie glauben kann, dass Gott sie trotz all ihrer Sünden liebt. Um das Herz Gottes zu offenbaren, ist Er ermattet, durstig und einsam. Alles um Ihn herum ermüdet Ihn. Überall trifft Er auf Sünde und Sorge, Unglaube und Undankbarkeit, Hass und Opposition, niemals jedoch ermüdet Er in seinem Zeugnis von der Liebe Gottes oder in seinem Dienst an verlorenen Sündern oder in seiner liebevollen Fürsorge für seine schwachen Jünger.
Was hatte diese Frau, dass Er gerade ihr begegnen wollte? Sie gehörte nicht nur zu einem unreinen und verachteten Volk, sondern sie hatte auch den Becher der Sünde bis zur Neige geleert. Auf der Jagd nach Vergnügen und Erfüllung ihrer Begierde, hatte sie alle Hemmungen abgelegt und ihren guten Ruf, ja alles, was für eine Frau lieb und teuer ist, weggeworfen. Sie hatte die Gesetze Gottes und die der Menschen gebrochen und war bis in die tiefsten Tiefen von Sünde und Schande gesunken. Im Gegenzug dazu fand sie nur Bitterkeit und Unzufriedenheit, Ermüdung und Scham. Da sie den Kontakt zu den anderen Frauen scheut, geht sie dann zum Wasserholen, wenn sie sicher sein kann, dass dort keine anderen Frauen sind. Ihre Sünde macht sie zu einer einsamen Frau.
Gottes Wege führen diese ermüdete, durstige, einsame Sünderin in die Gegenwart des ermüdeten, durstigen, einsamen Heilandes. Sie war ermüdet, da sie der Sünde diente; Er war ermüdet durch seine Reise im Dienst der Liebe. Ihre Sünden machten sie zu einer einsamen Frau; seine Liebe machte Ihn zu einem einsamen Mann. Liebe brachte Ihn dorthin, wo Sünde sie hingebracht hatte. Genauso bringt Ihn etwas später seine Liebe an den Platz, an den die Sünde uns bringt – die unsagbare Einsamkeit des Kreuzes. Dort, wo Er von Freunden und Genossen verlassen wurde, nach Mitleid und Tröstern suchte und keine fand, verraten von einem falschen Jünger, verleugnet von einem wahren Jünger, verlassen von allen Jüngern, erhöht zwischen Himmel und Erde, verworfen von den Menschen und von Gott verlassen, musste Er die furchtbare Einsamkeit des Kreuzes durchleiden. Was führte Ihn in diese Einsamkeit? Es war Liebe – Liebe, die Wasser nicht auslöschen und Ströme nicht überfluten konnten. Die Liebe, die Ihn am Brunnen von Sichar zu einem einsamen Mann machte, führte Ihn in die noch viel größere Einsamkeit am Kreuz auf Golgatha. Wenn Menschen eine solche Liebe ablehnen, ist es kaum verwunderlich, dass sie sich schließlich in der Einsamkeit einer Ewigkeit des Verlorenseins wiederfinden werden.
Wie gut für uns, wenn wir genau wie diese Frau, am Tag der Gnade einmal allein mit Jesus sind. Wer sich fürchtet, mit Ihm allein zu sein, der sollte diese wunderbare und gesegnete Szene in sich aufnehmen und auf den Weg achten, den Er mit dieser Sünderin geht. Kein hartes oder unfreundliches Wort kommt über seine Lippen; es wird kein Wort der Feindschaft oder Ablehnung geäußert, sondern Er bittet sie einfach: „Gib mir zu trinken.“ Warum aber fragte Er nach einem Schluck Wasser? Sicher, der Brunnen war tief und Er hatte kein Schöpfgefäß, aber hätte Er nicht ein Wunder tun können, um seinen Durst zu löschen? Für andere hat Er in der Tat Wunder der Gnade vollbracht; nirgends lesen wir jedoch, dass Er ein Wunder tat, um seine eigenen Bedürfnisse zu stillen. Darauf gibt es nur eine Antwort: Der ewige Sohn, der vom Vater gesandt wurde, die Welt zu retten, erniedrigt sich selbst, indem Er eine gefallene Frau um einen Becher kühlen Wassers bittet, um so das Vertrauen ihres einsamen Herzens zu gewinnen.