Als nächstes wird uns gesagt, was die Zehn Hörner bedeuten: „Aus jenem Königreich werden zehn Könige aufstehen.“ (Vers 24) Dies ist wirklich der entscheidende Punkt der Auslegung, denn es erhebt sich die Frage, ob diese zehn Könige in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegen, da sich Vers 23 zweifellos auf die Vergangenheit bezieht. Es gibt jene, die die sogenannte historische Auslegung gänzlich verfechten, und behaupten, dass die Prophetie somit erfüllte wurde.24 Die völlige Ablehnung dieser Theorie liegt in der Tatsache, dass dieses vierte Königreich, nachdem es gerichtet wurde, direkt vom Königreich des Sohnes des Menschen beerbt und verdrängt wird (Verse 13, 14, 26, 27; vergleiche auch Dan 2,43-44). Denn man darf zu Recht fragen welches Ereignis der Vergangenheit auch nur im kleinsten Ansatz zu dem passt, wovon die obige Stelle spricht?
Tatsächlich kann nur durch die Vergeistlichung des Reiches des Sohnes des Menschen, und der Auslegung dessen als das Christentum, irgendein Hinweis entnommen werden, der eine solche Theorie unterstützen könnte. Aber selbst dann bleibt die Frage: was gibt es im allgemein bekannten Verlauf des Christentums, was mit dem vorausgesagten weltweiten Reich des Sohn des Menschen übereinstimmt, vor dem sich alle Könige verbeugen, und dem alle Völker dienen werden? Könnte eine solche Begründung akzeptiert werden, würde jede beliebige Auslegung in die Worte der Schrift gelegt werden können. Aber das ist nicht die Art des Geistes Gottes. Er spricht klar und deutlich, und wenn er den Ausdruck „Sohn des Menschen“ verwendet, und das Ausmaß und die Herrlichkeit Seines Königreiches beschreibt, die den Regierungen der Erde folgen wird, kann vom unvoreingenommenen Betrachter der Schrift mühelos festgestellt werden, dass er weder von der Kirche noch vom Christentum spricht, sondern von dem Königreich, das Christus in dieser Welt zu einem noch vor uns liegenden Zeitpunkt gründen wird, wenn er mit seinen Heiligen in Herrlichkeit erscheint.
Stimmt man dieser Sichtweise zu, ist es deutlich und verständlich, dass das Römische Reich in dieser göttlichen Botschaft, die Daniel empfing, als Ganzes gesehen wird, von der Zeit an, als es gegründet wurde, bis zu seiner Auferstehung (wie sie in Off 17:10–1325 beschrieben wird) und bis zu seiner Zerstörung bei der Erscheinung des Herrn. Aus diesem Zusammenhang, ist zwischen den Versen 23 und 24 eine große Zeitspanne; allerdings sollte nicht vergessen werden, dass, wenn Vers 23 das römische Reich mit seiner ursprünglichen Kraft und Macht darstellt, dieselben Merkmale in ihrer endgültigen Form wieder erscheinen werden, weshalb dieses Bild sowohl historisch als auch prophetisch zu verstehen ist, wie es in der Schrift oft der Fall ist.
Diese zehn Könige sind also zukünftig, und sie weisen auf die auffällige Form des letzten Abschnitts des vierten Königreiches hin, in der es zehn Königreiche in Westeuropa geben wird, die unter der Führung einer Großmacht vereint sein werden. Diese Tatsache zeigt sich in den zehn Zehen des Bildes, das Nebukadnezar sah, und wird deutlich in der Offenbarung genannt (Off 17,12 und 13). Bedenkt man diese Denkweise der Schrift vor uns, kann man gut nachvollziehen, dass es in der Vergangenheit Ankündigungen dieser letzten Erfüllung gegeben hat. Es ist jedoch ein Fehler zu behaupten, diese Vorahnungen seien die Erfüllung selbst anstatt sie als Wegweiser am Wegesrand zu betrachten, die auf die beabsichtigte Vollendung hinweisen.
Es wird nicht nur diese zehn Könige geben, auch „ein anderer wird nach ihnen aufstehen, und dieser wird verschieden sein von den vorigen und wird drei Könige erniedrigen. Und er wird Worte reden gegen den Höchsten und die Heiligen der höchsten [Örter]26 vernichten; und er wird darauf sinnen, Zeiten und Gesetz zu ändern, und sie werden eine Zeit und Zeiten und eine halbe Zeit in seine Hand gegeben werden „ (Verse 24,25) Dies ist das kleine Horn aus den Versen 8, 20 und 21; es ist jedoch vollkommen anders, als das kleine Horn in Daniel 8,9, wie später erklärt wird. Das Horn in unserem Kapitel steht in Verbindung zu dem römischen Reich im Westen Europas, wo allgemein betrachtet, die zehn Könige ihre Herrschaft innerhalb der Grenzen des alten römischen Reiches ausüben werden,27 während das Horn aus Kapitel 8 seinen Sitz in Syrien haben wird, und in der Schrift oft als König des Nordens bezeichnet wird.
Einige Merkmale des kleinen Horns in unserem Kapitel sollten beachtet werden, um es zu identifizieren. Zuerst einmal erhebt er sich nach den zehn Königen, und er unterscheidet sich von ihnen, auch wenn nicht gesagt wird, worin er sich von ihnen unterscheidet. Als zweites wird von ihm gesagt, „er wird drei Könige erniedrigen“, das heißt, drei der zehn, die anwesend sind, wenn er sich erhebt. Aus der nächsten Stelle ist ersichtlich, dass er die Macht des ganzen Reiches übernimmt, denn es ist „seine Herrschaft“, die ihm weggenommen wird wenn das Gericht stattfindet. Zuletzt werden ihm in Vers 25 dieselben Dinge zugeschrieben, die dem ersten Tier in Offenbarung 13 in den Versen 5–7 zugeschrieben werden.
Der Schluss ist darum unwiderlegbar, dass das kleine Horn nicht nur eine Person, sondern das Haupt des auferstandenen Römischen Reichs im Westen Europas der letzten Tage ist. Dieser Schluss wird durch die Aussage in Offenbarung 17,13 noch bestärkt, denn die zehn Könige „haben einen Sinn und geben ihre Macht und Gewalt dem Tier.“ So erhebt sich das kleine Horn nach der Bildung der zehn Königreiche, und nachdem es drei von ihnen durch kriegerische Tätigkeiten, oder mit anderen Mitteln, unterworfen hat, werden die anderen sieben sich mit den drei Königreichen verbinden, um sich zu einer gewaltigen Großmacht zu vereinen, von welchem das kleine Horn das Oberhaupt ist. Die gesamte Stellung des kleinen Horns wird viel deutlicher erfasst, wenn Offenbarung 13,1–8 und Offenbarung 17 in diesem Zusammenhang gelesen werden.28
24 So sollte es ausgeführt werden – nicht die „Menschen“, sondern die „Völker“.↩︎
25 Um einen stellvertretenden Verfechter dieser Lehre zu zitieren, sagt Mr. Elliott, man finde die zehn Könige in den „Angelsachsen, Franken, Alemannen, Burgundern, Westgoten, Sueven, Vandalen, Herulen, Lombarden, Ostgoten, Zehn an der Zahl“; daraufhin bemüht er sich, die Verbindung zwischen diesen frühzeitlichen barbarischen Königreichen mit den Bischöfen Roms als kirchliches und geistliches Haupt herzustellen; einvernehmlich mit dem endzeitlichen Symbol der zehn Hörner, die vom achten Kopf des Tieres aufsprießen. (Horae Apocalypticae, Band 3, Seiten 124–134, 4. Auflage)↩︎
26 Auch hier ist das Wort in der Mehrzahl und sollte, wie auch in Vers 18, als „höchsten Örter“ wiedergegeben werden.↩︎
27 Der Leser wird diese Grenzen in jedem Bibelatlas mühelos nachverfolgen können, oder in den meisten Bibeln, die Karten enthalten, und wird so die Bedeutung der Bezeichnung „Westeuropa“ erkennen. Deutschland, Skandinavien, und der europäische Teil Russlands waren noch nie innerhalb der Gebiete dieses Reichs.↩︎
28 Wenn das kleine Horn in diesem Kapitel den Kopf des auferstandenen Römischen Reiches der letzten Tage andeutet, sollte nicht vergessen werden, dass der Antichrist zur selben Zeit zugegen sein, und zum Römischen Oberhaupt eine Verbindung haben wird, „die ganze Macht des ersten Tieres“ ausüben wird, und er „veranlasst die Erde und die auf ihr wohnen, dass sie das erste Tier anbeten, dessen Todeswunde geheilt wurde“, und dazu, „ihm“ ein Bild zu machen um es anzubeten (Off 13). So wird er in jeder Hinsicht moralisch mit dem westlichen Tier gleichgesetzt werden, und wird infolgedessen, als sein Prophet, dessen schlimmes Ende mit ihm teilen (Off 19,20).↩︎