Behandelter Abschnitt Daniel 4,25-30
Das Gericht über Nebukadnezar und seine Bedeutung
„Dies alles kam über den König Nebukadnezar. Nach Verlauf von zwölf Monaten ging er auf dem königlichen Palast in Babel umher; und der König hob an und sprach: Ist das nicht das große Babel, das ich zum königlichen Wohnsitz erbaut habe durch die Stärke meiner Macht und zu Ehren meiner Herrlichkeit? Noch war das Wort im Mund des Königs, da kam eine Stimme vom Himmel herab: Dir, König Nebukadnezar, wird gesagt: Das Königtum ist von dir gewichen! Und man wird dich von den Menschen ausstoßen, und bei den Tieren des Feldes wird deine Wohnung sein, und man wird dir Kraut zu essen geben wie den Rindern; und es werden sieben Zeiten über dir vergehen, bis du erkennst, dass der Höchste über das Königtum der Menschen herrscht und es verleiht, wem er will. In demselben Augenblick wurde das Wort über Nebukadnezar vollzogen; und er wurde von den Menschen ausgestoßen, und er aß Kraut wie die Rinder, und sein Leib wurde benetzt vom Tau des Himmels, bis sein Haar wuchs wie Adlerfedern und seine Nägel wie Vogelkrallen“ (4,25–30).
Nachfolgend wird die Geschichte der Erfüllung der Prophezeiung Daniels beschrieben. „Dies alles“, schreibt er, „kam über den König Nebukadnezar.“ Dann finden wir die Umstände, unter denen das angedrohte Gericht ausgeführt wurde. Zwölf Monate waren vergangen, und es wird nirgends berichtet, dass der König durch die empfangene Warnung auch nur besorgt war. Der Himmel war noch immer klar, ohne eine Wolke am weiten Horizont. Dieser Umstand mag uns äußerst verwunderlich vorkommen, wenn wir nicht bedenken, dass uns täglich Sünder begegnen, die an der Schwelle zur ewigen Pein stehen und davon völlig unberührt sind. Der Tod muss kommen, und das Gericht wird folgen, und dennoch sind die Menschen unbekümmert und leichtsinnig.
So war es auch bei Nebukadnezar, und so lesen wir: „Nach Verlauf von zwölf Monaten ging er auf dem königlichen Palast in Babel einher.“ Und worüber dachte er nach? Seine eigene Größe, Macht und Herrlichkeit. „Und der König hob an und sprach: Ist das nicht das große Babel, das ich zum königlichen Wohnsitz erbaut habe durch die Stärke meiner Macht und zu Ehren meiner Herrlichkeit?“ All dies war eine Verherrlichung seiner selbst, der vollendete Hochmut des menschlichen Herzens, hervorgebracht aus seiner Erhöhung und seinem Reichtum – der Hochmut, der vor dem Fall kommt. Der Ursprung seiner Macht war ihm verkündet worden (Kapitel 2); doch dies hatte er vollkommen vergessen, indem er die ganze Herrlichkeit seines Königreiches sich selbst zuschrieb.
Als er die Pracht seines Palastes und der großen Stadt mit einem vor Hochmut und Stolz strotzenden Herzen überblickte, schrieb er alles der Macht seiner eigenen Stärke zu und verkündete, dass dies alles zur Ehre seiner eigenen Herrlichkeit war. Gott kam in seinen Gedanken nicht vor, noch nicht einmal seine eigenen falschen Götter. Seine Vision war auf sein eigenes Ich begrenzt – auf sich selbst als die Quelle all seiner Herrlichkeit, und sich selbst als das Zentrum all seiner Werke. Was für ein Einblick in das menschliche Herz! Uns wird damit gestattet, den moralischen Zustand dieses gigantischen Baumes zu betrachten, bevor er nach dem göttlichen Beschluss abgehauen wird.
Die Ähnlichkeit zwischen dieser Begebenheit und dem Gleichnis von dem reichen Mann, dessen Boden vielfache Frucht brachte, fällt dem Leser sofort auf. Während dieser sich zu seinem eigenen Gedeihen beglückwünschte, seine Scheuen zu vergrößern beabsichtigte und Jahre selbstsüchtigen Genusses vor sich sah, kam das Gericht: „Du Tor! In dieser Nacht wird man deine Seele von dir fordern“ (Lk 12,16-20).
In gleicher Weise, als Nebukadnezar den Hochmut seines Herzen in seinem törichten Rühmen offenbarte, „noch war das Wort im Mund des Königs, da kam eine Stimme vom Himmel herab: Dir, König Nebukadnezar, wird gesagt: Das Königtum ist von dir gewichen!“ Dann wird das Gericht durch die Stimme wiederholt, das bereits von Daniel vorhergesagt worden war, und es wird augenblicklich ausgeführt. „In demselben Augenblick wurde das Wort über Nebukadnezar vollzogen; und er wurde von den Menschen ausgestoßen, und er aß Kraut wie die Rinder, und sein Leib wurde benetzt vom Tau des Himmels, bis sein Haar wuchs wie Adlerfedern und sein Nägel wie die Vogelkrallen.“ Wenn Gott spricht, wird es erfüllt, und was Er befiehlt, bleibt immer bestehen.
Es ist nun notwendig, die Bedeutung dieses Gerichtes zu erforschen. Bei genauerer Untersuchung wird gefunden werden, dass es eine dreifache Bedeutung hat – eine persönliche, eine moralische und eine prophetische. Zunächst sollte die persönliche Bedeutung betrachtet werden. Diese findet sich in der Tatsache, dass das, was Nebukadnezar auferlegt wurde, ein direktes Gericht Gottes über seinen persönlichen Hochmut war, denn so kann seine Selbst-Vergötterung genannt werden. Der Hochmut des Menschen ist einer der besonderen Gegenstände des Hasses Gottes; und da er sich in dem König von Babylon in einer extremen Form äußerte, fiel er unter die Hand des Gerichtes Gottes. Einige haben sich bestrebt, seinen Zustand auf natürliche Weise zu beschreiben, indem sie ihn für eine besondere Form der Verrücktheit hielten. Dennoch stellt sich wieder die Frage: Woher kam er? Der biblische Erzähler gibt uns die Antwort – eine Antwort, die von dem König selbst aufgezeichnet wurde –, dass es von der Hand Gottes kam als ein gerechtes Gericht über Nebukadnezars überheblichen Hochmut und seine Prahlerei.
Nachdem das Gericht ein Jahr vorher angekündigt worden und somit Raum zur Buße gegeben worden war, wurden ihm nun durch eine Stimme aus dem Himmel die Worte Daniels ins Gedächtnis gerufen, genau in dem Moment, als der strafende Schlag in Begriff stand, über ihn zu kommen. Ihm war die Herrschaft über die Erde anvertraut worden, und Gott zog ihn nun zur Verantwortung und strafte ihn entsprechend, und doch in Gnade, genauso wie in Gerechtigkeit, denn das Ziel war, ihn zu lehren, „dass der Höchste über das Königtum der Menschen herrscht und es verleiht, wem er will“ (4,14).
Die moralische Bedeutung dessen, was über Nebukadnezar kam, ist – falls überhaupt möglich – von noch größerer Bedeutung. Er wurde von den Menschen verbannt, wurde dem Vieh der Erde gleich, denn er aß Gras wie die Ochsen, und in seiner körperlichen Verfassung ging es ihm sogar noch schlechter als dem Vieh des Feldes. All dies bringt seinen moralischen Zustand sowie den Charakter der Macht zum Ausdruck, die er losgelöst von Gott ausübte. Um es mit den Worten eines anderen auszudrücken: „Die Macht wird auf den Zustand des Viehs herabgesetzt, das Gott nicht kennt und keinen menschlichen Verstand besitzt. Das einzige wirkliche Privileg des Menschen, das ihn adelt, ist dass er zu Gott aufschauen und Ihn anerkennen kann. Ohne dies schaut er nach unten, er kann nicht zu sich selbst hingelangen (he cannot suffice to himself), er ist entwürdigt . . . Hochmut und Unabhängigkeit trennen den Menschen von Gott; er wird zum Vieh, seines eigenen wahren Verstandes entbehrt.“
Der physische Zustand dieses Monarchen ist daher ein moralisches Bild, und zwar eines, über das häufig nachgedacht werden sollte, insofern es den Zustand des Menschen nach der Beurteilung Gottes offenbart, wenn er sich seiner Macht rühmt, seine eigene Ehre sucht und seine Unabhängigkeit geltend macht. Doch es geht noch über den König selbst hinaus; es umschließt auch den Charakter seiner Herrschaft und seines Königreiches. Wenn also das erste Königreich in der Hand des Menschen götzendienerisch wurde (Kapitel 3), so wird es in Kapitel 4 bestialisch in dem Sinne, dass es, abgetrennt von Gott, jeglicher menschlichen Intelligenz entbehrt, nach unten schaut und sich ausschließlich von den Motiven und Zielen der Erde nährt. Denn wenn der Mensch in seiner Selbsterhöhung Gott aus seinen Gedanken ausschließt und sich selbst zum Mittelpunkt und Ziel macht, dann ist er moralisch nicht besser dran als das Vieh. Wie der Psalmist sagt: „Der Mensch, der in Ansehen ist und keine Einsicht hat, gleicht dem Vieh, das vertilgt wird“ (Psalm 49,20).
Schließlich gibt es noch den prophetischen Aspekt. „Sieben Zeiten“ sollten über den König in seiner Erniedrigung vergehen, bevor er wiederhergestellt werden sollte. Es heißt nicht „Jahre“ (auch wenn die „Zeiten“ möglicherweise „Jahre“ sein könnten), sondern „Zeiten“. Der Ausdruck ist vage, während die Zahl Sieben ihm eine sehr präzise Bedeutung verleiht, nämlich die eines vollkommenen Zeitabschnittes, eines Zeitabschnittes, der die gesamte Dauer der Zeiten der Nationen umfasst. Wir begreifen daher, dass alle vier Königreiche – und diese umfassen, wie wir uns erinnern, die gesamte Epoche der heidnischen Regierungen – denselben moralischen Charakter vor Gott haben werden; dass die Macht, die durch sie ausgeübt werden wird, außerhalb von Gott sein und für das eigene Ich genutzt werden wird, für den Menschen und irdische Ziele, ohne Rücksicht auf die Gedanken Gottes oder Verantwortlichkeit Ihm gegenüber, der die Macht verliehen hat.
Dies ist ein sehr ernster Gedanke, und zwar in vielerlei Hinsicht. Es zeigt, dass keine Verbesserung in den Regierungen der Erde erwartet werden kann, und dass es daher mehr als nutzlos für den Christen ist (abgesehen von der Unvereinbarkeit mit seiner himmlischen Berufung), sich auf das Meer politischer Unruhe zu begeben in der Hoffnung, irgendeine Verbesserung des Zustands der Dinge um ihn herum zu erwirken. Nicht einen Moment lang kann geleugnet werden, dass der Zustand des Menschen in dieser Welt durch gerechte und segensvolle Gesetze verbessert werden kann, doch es bleibt die Frage: Werden irgendwelche politischen Veränderungen oder Gesetzesbeschlüsse den moralischen Charakter der menschlichen Regierung oder ihrer Untertan verändern?
Unser Kapitel zeigt wie viele andere Kapitel, dass der Charakter dieses ersten Königreiches sich in seines Nachfolgern wiederholen wird; und es wird, wie wir aus dem Buch der Offenbarung wissen, in der schlussendlichen Form des letzten der vier prophetischen Königreiche ohne jegliche Tarnung gesehen werden. Wenn irgendjemand diese Aussage bezweifelt, dann lass ihn den Pfad menschlicher Regierungen von den Tagen des Königs von Babylon bis zur heutigen Zeit verfolgen. Lass ihn die Geschichte von Eroberungen, Kriegen und Dynastien durchwaten, und lass ihn sich dann die Frage stellen, ob er irgendeine Zeitperiode nennen kann, in der die Macht des Thrones von Gott ausging oder für Ihn ausgeübt wurde. Er wird ohne Zweifel finden, dass einige wenige Herrscher gottesfürchtige Männer gewesen sind; doch er wird auch anerkennen müssen, dass wie groß auch ihre Frömmigkeit gewesen sein mag, sie den Kurs oder den Charakter ihrer Regierungen nicht ändern konnten.
Die bestehenden Mächte sind von Gott eingesetzt, und daher sollte der Christ ihr alle geforderte Ehre und Unterwerfung zollen. Doch dies widerspricht in keinster Weise der Tatsache, dass der Zustand Nebukadnezars in seinem moralischen Aspekt, wie er in unserem Kapitel beschrieben wird, den Charakter der Königreiche darstellt, die die Zeiten der Nationen ausfüllen.