Behandelter Abschnitt Nehemia 10,29-30
„Und das übrige Volk, die Priester, die Leviten, die Torhüter, die Sänger, die Nethinim, und alle, die sich von den Völkern der Länder zum Gesetz Gottes abgesondert hatten, ihre Frauen, ihre Söhne und ihre Töchter, alle, die Erkenntnis und Einsicht hatten, schlossen sich ihren Brüdern, den Vornehmen unter ihnen, an und traten in Eid und Schwur, nach dem Gesetz Gottes, das durch Mose, den Knecht Gottes, gegeben worden ist, zu wandeln und alle Gebote des Herrn, unseres Herrn, und seine Rechte und seine Satzungen zu beachten und zu tun“ (10,29–30).
Es kann nicht bezweifelt werden, dass es dem Volk eine allgemeine Herzensangelegenheit war und dieser Bund kein rein formaler Akt war. Denn während die „Obersten“ ihn stellvertretend für alle unterzeichneten, gab es offensichtlich eine Übereinkunft über den Vertrag, da alle Klassen von sich aus hinzukamen, um die Handlung zu bestätigen. Sogar die Frauen und Kinder, zumindest die, die Erkenntnis und Verständnis hatten, nahmen am Vollzug des Bundes teil.
Lasst uns nun genauer erforschen: Wozu verpflichteten sie sich? Genau zu dem, was Israel versprochen hatte, als es am Sinai stand, wo es unter der Heiligung des gesprengten Blutes feierlich ernst ausgerufen hatte: „Alle Worte, die der Herr geredet hat, wollen wir tun“ (2Mo 24,3). Bis dahin hatte das Volk seit seiner Befreiung aus dem Land Ägypten unter der Gnade gestanden. Gott hatte es auf Adlers Flügeln getragen und es zu sich selbst gebracht. Gnade hatte es erlöst – es hatte stille stehen und die Rettung Gottes sehen dürfen – und Gnade hatte es bis zu diesem Moment erhalten, versorgt, getragen und geleitet. Doch als die Israeliten zum Sinai kamen, sandte der Herr durch Mose diese Botschaft an sein Volk, um hervortreten zu lassen, was in ihren Herzen war: „Und nun, wenn ihr fleißig auf meine Stimme hören und meinen Bund halten werdet, so sollt ihr mein Eigentum sein aus allen Völkern“ (2Mo 19,3-5). Sie nahmen die erklärten Bedingungen an, samt der Bestrafung durch den Tod, die mit einer Übertretung verbunden war und was durch das gesprengte Blut verkündet wurde (2Mo 19,24).
Von da an standen sie auf einer neuen Grundlage und in einer neuen Beziehung zu Gott. Durch die Erlösung waren sie bereits Gottes Volk. Doch nun, in völliger Vergessenheit der Geschichte der drei Monate seit der Durchquerung des Roten Meeres und ihrer wiederholten Sünden, erklärten sie sich bereit, den Boden der Gnade zu verlassen und den der Verantwortung zu betreten. Sie hatten in Mara und in Rephidim gesündigt, und Gott hatte mit ihnen in langmütiger Barmherzigkeit gehandelt, in Übereinstimmung mit dem Boden, auf den Er sie gestellt hatte, indem Er ihr Murren mit neuen Beweisen seiner Gnade beantwortet und sie auf ihrem Weg immer wieder mit neuen Segnungen beschenkt hatte. Welch eine Torheit, dann in den Bund des Gesetzes einzutreten, der ihnen am Sinai vorgestellt wurde!
Hätten sie sich selbst gekannt und die Vergangenheit verstanden oder sie sich auch nur in Erinnerung gerufen, dann hätten sie gesagt: „Herr, du hast in deiner Gnade dein erlöstes Volk vorangeführt, du hast bis hierhin alles für uns getan, während wir ständig durch Sünde und Herzenshärte schuldig wurden. Wir sind dein, und du musst uns versorgen. Denn wenn wir uns selbst überlassen sind, oder wenn irgendetwas von uns und unseren Taten abhängig gemacht wird, werden wir alles verlieren. Nein, Herr, wir sind völlige Schuldner deiner Gnade, und wir müssen auch weiterhin deiner Gnade Schuldner sein.“ Doch ungeachtet ihrer eigenen Herzen und der Torheit ihrer Herzen nahmen sie den Bund mit all seinen ernsten Bedingungen und Strafen an. Und was passierte? Noch bevor die Gesetzestafeln das Lager erreichten, waren sie von Gott abgefallen und hatten das goldene Kalb gemacht, vor dem sie niederfielen und sagten: „Das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt haben“ (2Mo 32,1-4). Nachdem sie also unter der Gnade alles empfangen hatten, verwirkten sie alles unter der Verantwortung.
Nehmen wir noch ein weiteres Beispiel. Nach der Regierung des bösen Manasse, der Jerusalem mit unschuldigem Blut füllte, „von einem Ende bis zum anderen“ (2Kön 21,16), und der das Volk verleitete, „mehr Böses zu tun als die Nationen, die der Herr vor den Kindern Israel vertilgt hatte“ (2Kön 21,9), folgte ihm Josia auf den Thron. Ihn kennzeichnete der Gehorsam gegenüber dem Wort. In seinem Wunsch, das Volk von seinen bösen Wegen zurückzuholen, „schloss [er] den Bund vor dem Herrn, dem Herrn nachzuwandeln und seine Gebote und seine Zeugnisse und seine Satzungen zu halten mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele, um die Worte dieses Bundes zu erfüllen, die in diesem Buch geschrieben sind. Und das ganze Volk trat in den Bund“ (2Kön 23,3). Doch, obwohl sie mit ihren Lippen „zu dem Bund standen“, taten sie es „mit Falschheit“ (Jer 3,10), sodass sie schon bald auch äußerlich schlimmer waren als je zuvor.
Diese Beispiele ermöglichen es uns, den Wert des Bundes zu beurteilen, den Nehemia zu dieser Zeit gemeinsam mit dem Volk machte. Sie waren nicht im Unklaren bezüglich ihrer Vergangenheit (9,13.14) und sie hatten die früheren Übertretungen ihres Volkes bekannt. Und doch schließen sie jetzt einen weiteren Bund. Sie waren in ihrer momentanen Begeisterung blind für die Tatsache, dass sie genauso waren wie ihre Väter, und dass die Wahrscheinlichkeit, diese ernsten Verpflichtungen einzuhalten, für sie nicht höher war als bei ihren Vorfahren. Und doch waren sie zweifellos aufrichtig und hatten die volle Absicht, den von ihnen aufgestellten Verpflichtungen treu zu sein. Es gibt tatsächlich wenige, die diese Handlung nicht verstehen können, denn das Fleisch ist natürlicherweise gesetzlich, und so erscheint das Schließen eines Bundes eine einfache Methode gegen Versagen zu sein.
Das Volk Gottes hat oft zu diesem Hilfsmittel gegriffen, jedoch nur, um seine eigene gänzliche Unfähigkeit zu erkennen. Daher musste es in vielen Situationen belehrt werden, für die benötigte Kraft auf einen Andern zu blicken anstatt auf sich selbst. Es ist leicht, dies zu verurteilen, ob bei Nehemia oder anderen, aber es ist besser, aus ihrem Beispiel zu lernen, denn es ist eine notwendige Stufe in der Entwicklung der Seele. Gesegnet sind die, die mit sich zu Ende gekommen sind und aufgehört haben, irgendetwas von ihren eigenen Versprechungen oder Anstrengungen zu erwarten, sei es durch diese oder irgendeine andere Begebenheit. Sie haben gelernt, dass in ihrem Fleisch nichts Gutes wohnt und dass sie, während der Wille vorhanden ist, das Vollbringen dessen, was recht ist, nicht finden (Röm 7,18).