Vers 8: „Seine Jünger sprachen zu Ihm: Meister, jenes Mal wollten die Juden dich steinigen, und du willst wieder dahin ziehen?" Vers 9: „Jesus antwortete: Sind nicht des Tages zwölf Stunden? Wer des Tages wandelt, der stößt sich nicht; denn er siehet das Licht dieser Welt." Jedes menschliche Tagewerk hat seine zwölf Stunden, die Gott kennt — die vom Vater abgemessene Zeit, die uns niemand abkürzen und niemand verlängern kann, aber es gilt das Auge offen halten und auf den Herrn warten — warten und eilen. Es gibt Tagewandler und Nachtwandler. Nachtwandler scheuen das Licht. Kommt man ihnen mit einem Lichte entgegen, so wachen sie auf und erschrecken. Tagewandler sind Leute, die sich sehen lassen dürfen — sie haben nichts zu verheimlichen und nichts zuzudecken. Wo man immer fürchten muß, andere könnten dieses und jenes merken — es könnte dieses oder jenes herauskommen, da ist man scheu. Tageskinder tun alles in der Gegenwart Gottes, lassen sich vom Herrn ihren Impuls geben zum Bleiben oder Ziehen, zum Arbeiten oder Ruhen und tun je länger je mehr alles in der Gegenwart Gottes, im Aufblick zum Herrn. Dadurch kommen dann die Quellen eines Menschenlebens in Gottes Hand zurück, gereinigt und fruchtbar geworden. Wandelt jemand im Tageslicht Gottes, so stößt er sich nicht; denn Gort ist Licht und in Ihm ist keine Finsternis. Ein im Lichte Gottes Wandelnder ist ein Tagewandler, und Gott kann ihn durch das Licht Seines Geistes bewahren, daß er nicht anstößt, nicht aus dem rechten Geleise kommt, nicht unversehens stolpert und am Boden liegt. Wir brauchen ein anderes Licht, gehören einer andern Welt an und müssen das Licht des Geistes und des Wortes Gottes haben, um in dieser im Argen liegenden Welt nicht anzustoßen. Wir aber sind nicht von der Welt. Der Herr hat uns von dieser Welt losgekauft und die Wurzeln unseres Lebens in die unsichtbare Welt des Wortes und Geistes Gottes eingesenkt. Holen wir uns unsern Tagesbefehl aus der oberen Welt, so stoßen wir nicht an. Dann ist das Licht in uns und wir verbreiten Licht, sind mit anderen Worten Lichteskinder.
Nachtwandler müssen erst geweckt werden, und das tut der Herr. Er tut es heute noch. Wenn Kinder Gottes sich dazu hergeben, Nachtwandler zu sein, so ruht der Herr nicht, bis Er sie wieder stille gemacht und dahingebracht hat, daß sie die Dinge aus ihrer eignen in Seine Hand abgeben. O, wie wichtig, daß der Herr die Leitung der einzelnen Kinder Gottes und der Gemeinde sowie den ganzen Gang der Gemeinde wieder in die Hand bekomme! Sein Vater hat Ihm alles, insbesondere die Gemeinde, deren Haupt Er ist, in die Hand gegeben — Haupt und Glieder können nicht getrennt werden. Wenn jemand des Tages wandelt, seine Schritte nach denen des Herrn richtet, so hat er einen ebenen Weg. Da werden die etwa vorhandenen Steine weggeräumt — während allerlei Steine kommen, wenn man seinem eignen Herzen folgt — Schwierigkeiten, welche aufhalten, am Ende gar Räuber und Mörder. Wandelt jemand am Tage, im Lichte der Ewigkeit und des Wortes Gottes und — unzertrennlich damit verbunden — unter der Leitung des Geistes, so kann er feste, gewisse Tritte tun. Er sieht dann das Licht der Welt und hat einen offnen Himmel über sich. Die Sonne steht am Himmel. Die Sonne der Gerechtigkeit, Jesus Christus, leuchtet uns auf diesem Boden, wo man nicht von den Linien Gottes weicht. Da gibt es keine Konflikte der Pflichten. Wenn aber jemand nicht warten kann, bis das Licht über eine Situation aufgegangen ist, so stößt er an. In einem solchen Menschen ist kein Licht. Er ist von innerer Aufregung getrieben — da kann ihn der Geist nicht leiten, die Sonne kann sich nicht in ihm widerstrahlen.
Die Geistesleitung im Leben Jesu und der Seinen.
Wir wollen uns bei Betrachtung dieses Abschnittes einmal wieder vor Augen halten, worin eigentlich die Geistesleitung im Leben Jesu besteht, selbst auf die Gefahr hin, etwas von dem vorher Gesagten zu wiederholen. Nichts kann uns das eigentliche Wesen und die Bedeutung der Geistesleitung klarer machen als die Feuer- und Wolkensäule. Diese war ein Bild Jesu und Seines Lebens — des Lebens, das maßgebend sein soll für das unsere. Jesu Leben hat sich vom Anfang bis zum Ende unter göttlicher Leitung abgespielt. Es war das Leben eines Mannes, der schon als Knabe in der Schrift zu Hause war, und dem die Heilige Schrift schon im zarten Kindesalter als absolute Autorität galt. Das ist ein Haupterfordernis in der Geistesleitung, daß man zu Hause ist im Worte Gottes und in den Linien der Heiligen Schrift wandelt. Schon als zwölfjähriger Knabe mußte Jesus die Rücksicht gegen den Vater im Himmel über die den leiblichen Eltern gebührende Rücksicht stellen. „Wußtet ihr nicht, daß ich sein muß in dem, das meines Vaters ist?" sagte Er. Sie sollten wissen, daß sie Ihn, wenn Er nicht bei ihnen war, nirgends anders finden würden als im Tempel. So lebte Er mit Seinem Gott, und als Er am Jordan die Geistestaufe erhielt, war es der Geist Gottes, unter dessen Leitung Er bisher gelebt hatte, der Ihn Schritt für Schritt leitete, und über dessen Leitung Er sich immer klarer wurde, weil Er nie etwas überstürzte. Er konnte warten, selbst wenn scheinbar Leben und Tod davon abhingen. Obwohl Er den Schwestern so nahe stand, ließ Er sie die Not allein durchmachen. Es ist auch unser Vorrecht, unter Geistesleitung zu wandeln und nichts mehr auf dieser Welt zu suchen, sondern unser Leben danach einzurichten, ob die Wolken- und Feuersäule sich hebt oder senkt. Die Schwestern waren fest überzeugt, daß der Meister kommen werde, wenn sie Ihm sagen ließen, wie krank Lazarus war. „Herr, siehe, den du lieb hast, der liegt krank." Als ob der Heiland nicht alle Menschen lieb gehabt hatte! Und doch hatten die Schwestern recht! Wir haben auch besondere Liebesbeziehungen: Eltern, Geschwister, Freunde. „Also hat Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an Ihn glauben, nicht verloren gehen." Gott der Vater will nicht, daß jemand verloren gehe, und auch der Sohn will es nicht und hat Sein Leben zur Rettung der Menschen in den Tod gegeben — aus Liebe. Daneben aber hatte Er dieses besondere Freundschaftsband, an das die Schwestern appellierten in der festen Überzeugung, der Meister werde ihrem Rufe sofort Folge leisten. Es kommt aber nicht immer ein „und" auf unsere Hoffnungen und Erwartungen — manchmal kommt auch ein „aber". Jesus sagte nicht: „Ich komme" — Er gibt den Schwestern eine im Grunde viel herrlichere Antwort: „Diese Krankheit ist nicht zum Tode", sagt Er, „sondern zur Verherrlichung Gottes." Und verherrlicht wurde Gott durch Sein Warten, durch Sein Stillesein. Durch Warten und Stillesein hat Er dem Vater Raum gemacht für eine neue Offenbarung Seiner Herrlichkeit. Wo wir nicht stille sein und andere nicht warten lassen können, verhindern wir die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes in unserem Leben. Herrlichkeit offenbart sich nur durch Durchkreuzung unserer Hoffnungen und Wünsche. Aus Verwesung, aus den welkenden Blättern in unserem Leben ersteht Herrlichkeit Gottes, und damit macht Gott Raum für das Bleibende, Unverwelkliche. Während hienieden die Blätter fallen und welken, offenbart der Sohn des Vaters Herrlichkeit. Herrlichkeit Gottes des Vaters und Herrlichkeit Gottes des Sohnes gehören zusammen — sie sind unzertrennlich. „Ich und der Vater sind eins." Durch jede Verherrlichung des Sohnes Gottes wird der Vater verherrlicht. Jesus will nichts für sich selbst haben, und das Zeugnis der Schwestern: „Du hast den Lazarus lieb", unterstreicht nun Johannes, der den Meister so genau kannte und der an Seiner Brust lag, indem er ausdrücklich hinzufügt: „Jesus aber liebte Martha und Maria und Lazarus." So zart! Johannes hatte, an der Brust des Meisters liegend, nicht nur erkannt, dass Er Gottes Sohn war, sondern er hatte auch die Reinheit aller Seiner menschlichen Beziehungen erkannt — und infolgedessen hatte er auch etwas verstanden von der Liebe des Meisters, der die Schwestern weiterführen wollte, tiefer hinein in das Geistesleben, das sich ja erst an Pfingsten eröffnete. Jesus wandelte unter Geistesleitung, unter Geisteszucht. Der Geist aber konnte Ihn leiten, weil nie die Wünsche, Bedürfnisse und natürlichen Bande Seines Herzens entscheidend für Ihn waren und Er ohne den Willen des Vaters weder Hand noch Fuß regte, weil Er im Großen und im Kleinen im Lichte wandelte, unter der Wolken- und Feuersäule. Konnten die einen nicht verstehen, daß Er nicht sofort zu Martha und Maria eilte, so konnten wiederum andere nicht verstehen, daß Er schließlich doch hinging. Die Jünger sagten: „Jenes Mal wollten sie dich steinigen, und jetzt gehst du wieder hin?" Demnach sollten wir also fernbleiben von Stätten, an denen wir gelitten haben, und anstattdessen dahingehen, wo wir Gutes erfahren haben, wo uns wohl gewesen, wo man uns mit Liebe überhäuft hat. Ja, so denkt der natürliche Mensch — unter Geistesleitung Stehende aber denken anders. Jesus antwortete — und hier tritt nun die Geistesleitung noch deutlicher hervor: „Wenn jemand im Lichte" — im Geiste — „wandelt, so stößt er sich nicht." Im Lichte, im Geiste wandeln heißt hier: sein Leben nicht suchen, alles opfern für andere, sich nie durch andere oder durch sein eignes Herz beeinflussen lassen. Wer unter Geisteszucht und Geistesleitung einhergeht, geht sicher, weil er das Licht der Welt hat — dieses höhere Licht der Geistesleitung des Willens Gottes, wo man alle anderen Lichter fahren läßt und Gott uns in der Stille Seinen Willen kundtun und sein Tempo angeben kann. Wenn wir stille sind und unsern Schritt nach dem seinen richten, kommen wir zur rechten Zeit an den rechten Ort und werden Segensträger für andere. Es gibt für alles eine rechte Stunde und eine rechte Art und Weise.
Der Herr blieb, als Er zuerst von der Erkrankung des Lazarus hörte, noch zwei Tage an dem Ort, wo Er war, und bald darauf sagte Er zu Seinen Jüngern —